Mehrwertsteuer: Vorrang nationaler Verjährungsvorschriften bei Mehrwertsteuerbetrug

Die Pflicht zum Schutz der finanziellen Interessen der Union ist mit der Beachtung des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen in Einklang zu bringen.

Deshalb sind die italienischen Gerichte in Strafverfahren, die schwere Betrugsfälle im Mehrwertsteuerbereich zum Gegenstand haben, nicht verpflichtet, von der Anwendung der nationalen Verjährungsvorschriften (auf der Grundlage des Urteils Taricco) abzusehen, wenn sie dadurch gegen den genannten Grundsatz verstoßen würden.

Die Corte suprema di cassazione (Oberster Kassationsgerichtshof, Italien) und die Corte d’appello di Milano (Berufungsgerichtshof Mailand, Italien) müssen in Strafverfahren entscheiden, die gegen Herrn M.B. und Herrn M.A.S. wegen des Verdachts des schweren Betrugs im Mehrwertsteuerbereich1 eingeleitet wurden. Es besteht die Gefahr, dass sie straflos bleiben, wenn die Verjährungsvorschriften des italienischen Strafgesetzbuchs anzuwenden sind. Dagegen könnte es zu einer Verurteilung kommen, wenn die in diesen Vorschriften vorgesehene Verjährungsfrist auf der Grundlage der vom Gerichtshof im Urteil Taricco2, das ergangen ist, nachdem die Taten begangen wurden, aufgestellten Grundsätze nicht anzuwenden wäre. In diesem Urteil hat der Gerichtshof Art. 325 AEUV ausgelegt, der die Europäische Union und die Mitgliedstaaten verpflichtet, Betrügereien und sonstige gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete rechtswidrige Handlungen zu bekämpfen und einen effektiven Schutz dieser Interessen zu bewirken.

Im Urteil Taricco hat der Gerichtshof insbesondere entschieden, dass die italienischen Rechtsvorschriften über die Verjährung von Mehrwertsteuerstraftaten Art. 325 AEUV verletzen könnten, falls sie die Verhängung wirksamer und abschreckender Sanktionen in einer beträchtlichen Zahl gegen die finanziellen Interessen der Union gerichteter schwerer Betrugsfälle verhindern oder für Betrugsfälle zum Nachteil der nationalen finanziellen Interessen längere Verjährungsfristen vorsehen als für Betrugsfälle zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union. Der Gerichtshof hat ferner entschieden, dass die nationalen Gerichte Art. 325 AEUV volle Wirkung verleihen müssen, indem sie erforderlichenfalls die Verjährungsvorschriften unangewendet lassen.

Die Corte suprema di cassazione und die Corte d’appello di Milano sind jedoch der Ansicht, dass die dem Urteil Taricco zu entnehmenden Grundsätze gegen den in der italienischen Verfassung verankerten Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen verstoßen könnten. Sie haben sich deshalb an die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof, Italien) gewandt.

Die Corte costituzionale hat Zweifel an der Vereinbarkeit des im Urteil Taricco gewählten Ansatzes mit den obersten Grundsätzen der italienischen Verfassungsordnung und der Beachtung der unveräußerlichen Rechte der Person. Insbesondere verstoße er möglicherweise gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen, der u. a. das Bestimmtheitsgebot und das Rückwirkungsverbot in Strafsachen beinhalte. Sie hat daher den Gerichtshof um Klarstellung ersucht, wie Art. 325 AEUV im Licht des Urteils Taricco auszulegen ist.

In seinem am 05.12.2017 im beschleunigten Verfahren3 ergangenen Urteil führt der Gerichtshof aus, dass Art. 325 AEUV den Mitgliedstaaten zweckgerichtete Verpflichtungen auferlegt, die hinsichtlich ihrer Umsetzung an keine Bedingung geknüpft sind. Die nationalen Gerichte müssen somit den Verpflichtungen, die sich aus Art. 325 AEUV ergeben, volle Wirkung verleihen, indem sie insbesondere die im Urteil Taricco aufgestellten Grundsätze anwenden. Der Gerichtshof weist ferner darauf hin, dass es in erster Linie Aufgabe des nationalen Gesetzgebers ist, die Verjährung so zu regeln, dass sie den Anforderungen von Art. 325 AEUV genügt.

Der Gerichtshof stellt jedoch fest, dass nach den Angaben der Corte costituzionale die Verjährung in Strafsachen zum materiellen italienischen Recht gehört und daher unter den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen fällt. In diesem Kontext weist er zum einen auf die Erfordernisse der Vorhersehbarkeit, der Bestimmtheit und des Rückwirkungsverbots von Strafgesetzen hin, die dem in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten verankerten Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen innewohnen, und zum anderen darauf, dass diesem Grundsatz sowohl in den Mitgliedstaaten als auch in der Rechtsordnung der Union grundlegende Bedeutung zukommt. Infolgedessen darf die dem Art. 325 AEUV zu entnehmende Verpflichtung, eine wirksame Erhebung der Mittel der Union zu garantieren, dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen nicht zuwiderlaufen.

Der Gerichtshof kommt deshalb zu dem Ergebnis, dass ein nationales Gericht, wenn es in Verfahren wegen Mehrwertsteuerstraftaten zu der Auffassung gelangt, dass der Verpflichtung, die im Urteil Taricco aufgestellten Grundsätze anzuwenden, der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit entgegensteht, dieser Verpflichtung nicht nachkommen muss, selbst wenn dadurch einer mit dem Unionsrecht unvereinbaren nationalen Sachlage abgeholfen werden könnte.

Fußnoten

1Da der Unionshaushalt u. a. aus der Mehrwertsteuer finanziert wird, besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Betrügereien im Bereich der Mehrwertsteuer und den finanziellen Interessen der Union.

2Urteil vom 8. September 2015 in der Rechtssache C-105/14, Ivo Taricco u. a. (vgl. PM Nr. 95/15).

3Das beschleunigte Verfahren ist in Art. 23a der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und in Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs geregelt.

Quelle: EuGH, Pressemitteilung vom 05.12.2017 zum Urteil C-42/17 vom 05.12.2017