Doppelte Haushaltsführung – gemeinsamer Haushalt von Eltern und erwachsenen, wirtschaftlich eigenständigen Kindern

Erwachsene, berufstätige Kinder, die zusammen mit ihren Eltern oder einem Elternteil in einem gemeinsamen Haushalt wohnen, können Aufwendungen für eine doppelte Haushaltsführung als Werbungskosten geltend machen, wenn ihnen die Zweitwohnung am Beschäftigungsort lediglich als Schlafstätte dient. Dies hat der Bundesfinanzhof (BFH) mit Urteil VI R 46/12 vom 16.01.2013 entschieden.

Nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 des Einkommensteuergesetzes (EStG) sind notwendige Mehraufwendungen, die einem Arbeitnehmer wegen einer aus beruflichem Anlass begründeten doppelten Haushaltsführung entstehen, Werbungskosten. Eine doppelte Haushaltsführung liegt nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 Satz 2 EStG vor, wenn der Arbeitnehmer außerhalb des Ortes, in dem er einen eigenen Hausstand unterhält, beschäftigt ist und auch am Beschäftigungsort wohnt. Keinen eigenen Hausstand unterhält nach der bisherigen Rechtsprechung z. B., wer in den Haushalt der Eltern eingegliedert ist, ohne die Haushaltsführung wesentlich mitzubestimmen. Das gilt insbesondere für junge Arbeitnehmer, die nach Beendigung ihrer Ausbildung, wenn auch gegen Kostenbeteiligung, weiterhin im Haushalt der Eltern ein Zimmer bewohnen.

Im Streitfall machte der Kläger, ein 43 Jahre alter promovierte Diplomchemiker, vergeblich die Kosten für eine Unterkunft am Beschäftigungsort geltend. Dort hatte er seinen Zweitwohnsitz begründet. Seinen Hauptwohnsitz behielt er im Einfamilienhaus seiner im Streitjahr 71 Jahre alten Mutter bei. In diesem nutze er nach seinem Vortrag ein Schlaf- und Arbeitszimmer sowie ein Badezimmer allein. Die Küche, das Ess- und Wohnzimmer wurden von ihm und seiner Mutter gemeinsam genutzt. Einspruch und Klage blieben ohne Erfolg.

Auf die Revision des Klägers hat der BFH nun die Vorentscheidung aufgehoben und die Sache an das Finanzgericht (FG) zurückverwiesen. Anders als bei jungen Arbeitnehmern ist bei einem erwachsenen und wirtschaftlich eigenständigen Kind grundsätzlich davon auszugehen, dass es die gemeinsame Haushaltsführung mit den Eltern oder einem Elternteil wesentlich mitbestimmt. Es kann deshalb im elterlichen Haushalt auch einen „eigenen Hausstand“ unterhalten und eine steuerliche doppelte Haushaltsführung begründen. Das FG muss nun noch feststellen, ob das der Fall war.

BFH, Pressemitteilung Nr. 23/13 vom 24.04.2013 zum Urteil VI R 46/12 vom 16.01.2013

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 16.1.2013, VI R 46/12

Doppelte Haushaltsführung – gemeinsamer Haushalt von Eltern und erwachsenen, wirtschaftlich eigenständigen Kindern

Leitsätze

1. Dient die Wohnung am Beschäftigungsort dem Steuerpflichtigen lediglich als Schlafstätte, ist regelmäßig davon auszugehen, dass der Mittelpunkt der Lebensführung noch am Heimatort zu verorten ist und dort der Haupthausstand geführt wird.
2. Ein eigener Hausstand kann auch dann unterhalten werden, wenn der Erst- oder Haupthausstand gemeinsam mit den Eltern oder einem Elternteil geführt wird. Einer gleichmäßigen Beteiligung des Kindes an den laufenden Haushalts- und Lebenshaltungskosten bedarf es hierfür nicht.
3. Bei erwachsenen, berufstätigen Kindern, die zusammen mit ihren Eltern oder einem Elternteil in einem gemeinsamen Haushalt wohnen, ist im Regelfall davon auszugehen, dass sie die Führung des Haushalts maßgeblich mitbestimmen.
Tatbestand

1
I. I. Streitig ist, ob die Voraussetzungen einer doppelten Haushaltsführung vorliegen.
2
Der im Jahre 1964 geborene Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist alleinstehend und erzielte im Streitjahr 2007 als Chemiker Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Er arbeitete im Streitjahr in B. Diese Stelle hatte er im Jahr 2006 angetreten und dort auch seinen Zweitwohnsitz begründet. Seinen Hauptwohnsitz behielt er in N bei und wohnte dort zusammen mit seiner Mutter im Einfamilienhaus, das im Streitjahr seiner (im Streitjahr 71 Jahre alten) Mutter zu 3/4 und dem Kläger und seiner Schwester zu jeweils 1/8 gehörte. Er nutzte nach eigenen Angaben in dem Einfamilienhaus ein Schlaf- und Arbeitszimmer sowie ein Badezimmer allein. Die Küche, das Ess- und Wohnzimmer wurden von ihm und seiner Mutter gemeinsam genutzt. Im Jahr 2010 wurde das Anwesen auf den Kläger übereignet.
3
In seiner Einkommensteuererklärung für das Streitjahr machte der Kläger erfolglos Mehraufwendungen für eine doppelte Haushaltsführung in Höhe von insgesamt 7.053 EUR als Werbungskosten bei seinen Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit geltend. Einspruch und Klage blieben ebenfalls ohne Erfolg. Zwar seien sich die Beteiligten inzwischen einig, dass der Kläger das Fortbestehen seines Lebensmittelpunktes am Heimatort durch geeignete Belege nachgewiesen habe. Gleichwohl habe der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt –FA–) die geltend gemachten Aufwendungen für eine doppelte Haushaltsführung bei der angefochtenen Einkommensteuerfestsetzung zu Recht nicht berücksichtigt. Denn der Kläger habe in N keinen eigenen Hausstand unterhalten, sondern sei lediglich in den Haushalt der Mutter eingegliedert gewesen. Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2012, 1921 veröffentlicht.
4
Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung formellen und materiellen Rechts.
5
Er beantragt,

das Urteil des Finanzgerichts (FG) Rheinland-Pfalz vom 14. Februar 2012 3 K 2338/09 und die Einspruchsentscheidung vom 11. September 2009 aufzuheben sowie den Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2007 vom 4. März 2009 dahingehend abzuändern, dass bei den Einkünften des Klägers aus nichtselbständiger Arbeit Aufwendungen für eine doppelte Haushaltsführung in Höhe von 2.949 EUR als Werbungskosten berücksichtigt werden, hilfsweise

das Ruhen des Verfahrens bis zu einer Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) oder des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der derzeitigen Gesetzeslage bzw. Verwaltungspraxis.
6
Das FA beantragt,

die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe

7
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung –FGO–).
8
1. Gemäß § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 des Einkommensteuergesetzes (EStG) sind notwendige Mehraufwendungen, die einem Arbeitnehmer wegen einer aus beruflichem Anlass begründeten doppelten Haushaltsführung entstehen, Werbungskosten. Eine doppelte Haushaltsführung liegt nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 Satz 2 EStG vor, wenn der Arbeitnehmer außerhalb des Ortes, in dem er einen eigenen Hausstand unterhält, beschäftigt ist und auch am Beschäftigungsort wohnt. Dies gilt grundsätzlich auch für einen alleinstehenden Arbeitnehmer; auch er kann einen doppelten Haushalt führen (ständige Rechtsprechung des Senats, zuletzt Urteil vom 21. April 2010 VI R 26/09, BFHE 230, 5, BStBl II 2012, 618, m.w.N.).
9
a) Hausstand i.S. des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 Satz 2 EStG ist der Haushalt, den der Arbeitnehmer am Lebensmittelpunkt führt, also sein Erst- oder Haupthaushalt. Bei einem alleinstehenden Arbeitnehmer ist entscheidend, dass er sich in dem Haushalt, im Wesentlichen nur unterbrochen durch die arbeits- und urlaubsbedingte Abwesenheit, aufhält; denn allein das Vorhalten einer Wohnung für gelegentliche Besuche oder für Ferienaufenthalte ist noch nicht als Unterhalten eines Hausstands zu bewerten. Ebenfalls wird ein eigener Hausstand nicht unterhalten, wenn der nicht verheiratete Arbeitnehmer als nicht die Haushaltsführung wesentlich bestimmender bzw. mitbestimmender Teil in einen Hausstand eingegliedert ist, wie es regelmäßig bei jungen Arbeitnehmern der Fall ist, die nach Beendigung der Ausbildung weiterhin –wenn auch gegen Kostenbeteiligung– im elterlichen Haushalt ihr Zimmer bewohnen. Die elterliche Wohnung kann in einem dieser häufigen Fälle zwar, auch wenn das Kind am Beschäftigungsort eine Unterkunft bezogen hat, wie bisher der Mittelpunkt seiner Lebensinteressen sein, sie ist aber nicht ein von dem Kind unterhaltener eigener Hausstand (BFH-Urteil vom 5. Oktober 1994 VI R 62/90, BFHE 175, 430, BStBl II 1995, 180). Bei älteren, wirtschaftlich selbständigen, berufstätigen Kindern, die mit ihren Eltern oder einem Elternteil in einem gemeinsamen Haushalt leben, ist hingegen davon auszugehen, dass sie die Führung des Haushalts maßgeblich mitbestimmen, so dass ihnen dieser Hausstand als „eigener“ zugerechnet werden kann. Diese Regelvermutung gilt insbesondere, wenn die Wohnung am Beschäftigungsort dem Arbeitnehmer im Wesentlichen nur als Schlafstätte dient. Denn dort ist regelmäßig weder der Haupthausstand noch der Mittelpunkt der Lebensinteressen des Steuerpflichtigen zu verorten. Entspricht die Wohnsituation am Heimatort der Wohnung am Beschäftigungsort in Größe und Ausstattung oder übertrifft sie diese, ist dies vielmehr ein wesentliches Indiz dafür, dass der Mittelpunkt der Lebensführung nicht an den Beschäftigungsort verlegt worden ist, sondern der Haupthausstand dort fortgeführt wird (vgl. BFH-Urteil in BFHE 175, 430, BStBl II 1995, 180). Dies gilt umso mehr, wenn der Steuerpflichtige dort sein Privatleben führt, weil zum Heimatort die engeren persönlichen Beziehungen bestehen, beispielsweise wegen der –mit steigender Lebenserwartung immer häufiger– alten, betreuungs- oder sogar pflegebedürftigen Eltern (BFH-Urteile in BFHE 175, 430, BStBl II 1995, 180; vom 9. August 2007 VI R 10/06, BFHE 218, 380, BStBl II 2007, 820).
10
b) Der Umstand, dass der Arbeitnehmer dabei am Heimatort nicht über eine abgeschlossene Wohnung verfügt, steht dieser Vermutung nicht entgegen. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH können die durch das Leben am Beschäftigungsort zusätzlich entstehenden notwendigen Aufwendungen grundsätzlich auch dann zu Werbungskosten führen, wenn die Wohnverhältnisse des Steuerpflichtigen am Ort seines Lebensmittelpunktes vergleichsweise einfach oder beengt sein sollten (BFH-Urteil vom 14. Oktober 2004 VI R 82/02, BFHE 207, 292, BStBl II 2005, 98, m.w.N.). Insbesondere müssen die dem Arbeitnehmer zur ausschließlichen Nutzung überlassenen Räumlichkeiten nicht den bewertungsrechtlichen Anforderungen an eine Wohnung gerecht werden (BFH-Urteil in BFHE 207, 292, BStBl II 2005, 98). Der Senat hat es in dieser Entscheidung auch für unerheblich angesehen, dass sich der Arbeitnehmer in der ihm von seinen Eltern überlassenen Wohnung die Sanitäreinrichtung mit seiner Schwester teilen musste, weil ihm die übrigen Räumlichkeiten eine eigenständige Haushaltsführung ermöglichten (vgl. auch BFH-Urteil vom 15. Dezember 2005 III R 27/05, BFHE 212, 376, BStBl II 2006, 561, m.w.N.). Entsprechendes gilt, wenn dem Arbeitnehmer die Küche nicht zur alleinigen Verfügung steht (BFH-Urteil vom 30. Juli 2009 VI R 13/08, BFH/NV 2009, 1986). Deshalb kann ein eigener Hausstand auch dann unterhalten werden, wenn der Erst- oder Haupthausstand gemeinsam mit den Eltern oder einem Elternteil geführt wird (Senatsurteil vom 26. Juli 2012 VI R 10/12, BFHE 238, 413, BFH/NV 2013, 112).
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c) Auch bedarf es der Übernahme einer besonderen finanziellen Verantwortung für den (gemeinsamen) Hausstand durch die gleichmäßige Beteiligung an den laufenden Haushalts- und Lebenshaltungskosten durch den Steuerpflichtigen nicht. Denn eine finanzielle Beteiligung, aus der auf eine gemeinsame Haushaltsführung von Eltern und Kindern geschlossen werden kann, kann auch vorliegen, wenn etwa eine Aufteilung nach laufenden und einmaligen Kosten oder nach gewöhnlichem und außergewöhnlichem Aufwand vorgenommen wird. Im Übrigen ist dem Merkmal der Entgeltlichkeit lediglich –eine gewichtige– Indizfunktion beizumessen. Denn die Entgeltlichkeit ist keine unerlässliche Voraussetzung (conditio sine qua non) einer steuererheblichen doppelten Haushaltsführung. Dies gilt sowohl für die Überlassung der Wohnung selbst als auch für die Kostentragung im Übrigen. Es ist deshalb nicht ausgeschlossen, dass ein alleinstehender Steuerpflichtiger auch dann einen eigenen Haushalt unterhält, wenn nicht er selbst, sondern Dritte für diese Kosten aufkommen. Denn eine eigene Haushaltsführung des auswärts Beschäftigten ist nicht zwingend ausgeschlossen, wenn sich dessen finanzielle Beteiligung am Haushalt nicht feststellen lässt, wie auch umgekehrt aus einem finanziellen Beitrag allein nicht zwingend auf das Unterhalten eines eigenen Haushalts zu schließen ist (Senatsurteile vom 28. März 2012 VI R 87/10, BFHE 236, 553, BStBl II 2012, 800, und in BFH/NV 2013, 112).
12
2. Die Entscheidung des FG entspricht diesen Grundsätzen nicht. Denn die Vorinstanz hat zum einen die gleichmäßige Beteiligung von Eltern und Kindern an den laufenden Haushalts- und Lebenshaltungskosten zu einer unverzichtbaren Voraussetzung für eine doppelte Haushaltsführung im Rahmen eines Mehrgenerationenhaushalts erhoben. Zum anderen hat das FG verkannt, dass bei einem erwachsenen, wirtschaftlich selbständigen Kind –wie dem Kläger, ein im Streitjahr 43 Jahre alter promovierter Diplomchemiker– regelmäßig vermutet werden kann, dass es nicht als Gast in den elterlichen Haushalt eingegliedert ist, sondern jedenfalls dann, wenn es dort lediglich unterbrochen durch Arbeits- und Urlaubsaufenthalte gemeinsam mit den Eltern oder einem Elternteil wohnt und deshalb dort der Mittelpunkt der Lebensinteressen zu verorten ist, auch die gemeinsame Haushaltsführung wesentlich mitbestimmt. Schließlich hat die Vorinstanz im Streitfall auch nicht alle maßgeblichen Umstände in ihre Überzeugungsbildung einbezogen. Denn es hat weder die Wohnsituationen am Heimat- wie Beschäftigungsort in den Blick genommen noch gegeneinander abgewogen. Dies stellt einen materiell-rechtlichen Fehler dar. Auch deshalb bindet die Würdigung des FG, der Kläger habe keinen steuererheblichen doppelten Haushalt geführt, den Senat gemäß § 118 Abs. 2 FGO nicht.
13
3. Die Sache ist nicht entscheidungsreif. Das FG wird daher im zweiten Rechtsgang unter Beachtung der vorgenannten Rechtsgrundsätze entsprechende weitere Feststellungen zu dem behaupteten Haupthausstand, insbesondere zu den Wohnsituationen des Klägers am Heimat- wie Beschäftigungsort zu treffen haben. Sollte es dabei zu der Erkenntnis gelangen, dass der Kläger am Beschäftigungsort nur über eine kleine bescheidene Unterkunft (Schlafstätte) verfügt –wofür die geltend gemachten Unterkunftskosten von weniger als 200 EUR monatlich sprechen– und am Heimatort bei seiner Mutter zwei Zimmer und ein Badezimmer alleine nutzt, liegt es nahe, aufgrund des Alters des Klägers und seiner wirtschaftlichen Unabhängigkeit sowie dem Umstand, dass der Lebensmittelpunkt von den Beteiligten unstreitig am Heimatort verortet wird, vom Vorliegen einer doppelten Haushaltsführung i.S. des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 EStG auszugehen. Demgegenüber kommt es nicht darauf an, ob der Kläger sich an den laufenden Haushaltskosten (beispielsweise für Wasser, Strom und Gas) beteiligt hat. Im Übrigen spricht das Vorbringen des Klägers, der behauptete gemeinsame Haushalt sei –abredegemäß– dergestalt finanziert worden, dass seine Mutter die laufenden Haushaltskosten und er die einmaligen hohen Kosten (beispielsweise für Instandhaltungsmaßnahmen, Schönheitsreparaturen, Gartenpflege u.Ä.) übernommen habe, ohnehin gegen eine unentgeltliche Überlassung der vom Kläger zu Wohnzwecken genutzten Räumlichkeiten.
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4. Der Senat muss nicht entscheiden, ob dem FG die von dem Kläger gerügten Verfahrensfehler unterlaufen sind. Der Kläger hat seine Revision auch auf die Verletzung materiellen Rechts gestützt. In einem solchen Fall muss der BFH das angefochtene Urteil in vollem Umfang auf die Verletzung revisiblen Rechts prüfen, ohne dabei an die vorgebrachten Revisionsgründe gebunden zu sein (Senatsurteil vom 21. Januar 2010 VI R 51/08, BFHE 228, 85, BStBl II 2010, 700; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 118 Rz 73). Da die Revision aus anderen Gründen zur Aufhebung der Vorentscheidung führt, muss der Senat nicht noch darüber entscheiden, ob der Kläger auch infolge eines Verfahrensfehlers in seinen Rechten verletzt ist.

Tarifierung eines thermisch behandelten Naturphosphats

BUNDESFINANZHOF Beschluss vom 6.3.2013, VII R 26/11

Tarifierung eines thermisch behandelten Naturphosphats – Widerruf einer verbindlichen Zolltarifauskunft
Leitsätze

Führt eine thermische Behandlung eines Naturphosphats allein nicht zur Herstellung des als Futtermittel verwendbaren Calciumphosphats, sondern bewirkt erst die Zuführung von Phosphorpentoxid und Natriumoxid die Veränderung der Kristallstruktur des Naturphosphats und damit die Entstehung des zu tarifierenden Endprodukts, so scheitert die Einreihung der Ware in die Pos. 3103 KN.
Tatbestand

1
I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) führt seit 1992 ein als entfluoriertes Calciumphosphat bezeichnetes Produkt in die Europäische Union ein. Die Warenbeschreibung in der zuletzt erteilten verbindlichen Zolltarifauskunft (vZTA) lautet:
2
„Die als entfluoriertes Calciumphosphat bezeichnete Ware wird aus Naturphosphat mit Apatitstruktur durch Glühen im Drehrohrofen bei Temperaturen oberhalb 1250°C unter Zusatz geringer Mengen Phosphorsäure und Soda hergestellt. Zusammensetzung (Angaben): min. 41,5 % P2O5, min. 42-44 % CaO, ca. 6,5-7,2 % Na2O, max. 0,2 % F. Der Glühverlust beträgt weniger als 1 %. Weitere vertrauliche Angaben liegen vor. Die Ware kann als mineralisches Einzelfuttermittel, Düngemittel und als Rohstoff (Phosphorträger) in der chemischen Industrie verwendet werden. Sie wird in feinkörniger und in mehliger Form mit grauer bis brauner Farbe gehandelt. Danach handelt es sich um ein natürliches Phosphat, geröstet, gebrannt oder weitergehend thermisch behandelt, als zum Entfernen von Verunreinigungen erforderlich. Derartige Erzeugnisse gehören als andere mineralische oder chemische Phosphatdüngemittel zur Pos. 3103, auch wenn sie nicht als Düngemittel verwendet werden. Handelsbezeichnung (…) Entfluoriertes Calciumphosphat; Hauptbestandteil Ca5Na2(PO4)4 Phase A“.
3
Seit dem Jahr 2000 waren der Klägerin drei vZTA erteilt worden, mit denen diese Ware in die Pos. 3103 der Kombinierten Nomenklatur (KN) eingereiht worden war.
4
Unter dem 24. Oktober 2000 erließ die Kommission die Verordnung (EG) Nr. 2354/2000 (VO Nr. 2354/2000) zur Einreihung von bestimmten Waren in die Kombinierte Nomenklatur (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. L 272/10). Danach ist in die Unterpos. 2309 90 97 KN einzureihen eine „Tierfutterzubereitung, hergestellt durch eine bei hoher Temperatur erfolgte chemische Reaktion eines Apatit-, Phosphorsäure- und Natriumcarbonat- oder Natriumhydroxid-Gemisches. Das Erzeugnis ist entfluoriert und besteht hauptsächlich aus einer Mischung von Calcium- und Calcium-Natrium-Phosphaten.“
5
Am 16. November 2007 erteilte die Oberfinanzdirektion (OFD) A der Klägerin eine vZTA, mit der sie die Ware in die Unterpos. 3103 90 00 KN einreihte.
6
Im Februar 2009 wies das Bundesfinanzministerium auf die VO Nr. 2354/2000 hin und forderte die Zollbehörden auf, die vZTA, die Erzeugnisse beträfen, die mit denen der VO Nr. 2354/2000 vergleichbar seien, zu überprüfen. Daraufhin widerrief der inzwischen zuständige Beklagte und Revisionsbeklagte (das Hauptzollamt –HZA–) mit Bescheid vom 28. Mai 2009 die vZTA vom 16. November 2007 gemäß Art. 9 Abs. 1 des Zollkodex (ZK) mit der Begründung, die Einreihungsauffassung habe sich geändert und wies darauf hin, dass ggf. eine neue vZTA beantragt werden könne.
7
Einspruch und Klage gegen den Widerruf stützte die Klägerin darauf, dass die streitgegenständliche nicht mit der in der VO Nr. 2354/2000 beschriebenen Ware identisch sei. Insbesondere handele es sich nicht um eine Mischung nach chemischen Grundsätzen, vielmehr liege eine nichtstöchiometrische Verbindung vor, die nicht wieder durch physikalische Methoden in ihre einzelnen Komponenten zerlegt werden könne. Als mineralisches Düngemittel, das auch als Einzelfuttermittel oder als Rohstoff in der chemischen Industrie verwendet werden könne, falle das Erzeugnis unter die Pos. 3103 KN.
8
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab. Der Widerruf der unter dem 16. November 2007 erteilten vZTA sei rechtmäßig. Die Voraussetzungen für den Erlass der vZTA seien von Anfang an nicht erfüllt gewesen, weil die OFD A als erteilende Zollbehörde die VO Nr. 2354/2000 nicht beachtet habe und sich die Tarifierung vor dem Hintergrund dieser Verordnung als unzutreffend darstelle. Die streitgegenständliche Ware entspreche der in der Verordnung beschriebenen Tierfutterzubereitung. Das Endprodukt, entfluoriertes Calciumphosphat, Hauptbestandteil Ca5Na2(PO4)4 Phase A, sei bei hoher Temperatur durch eine chemische Reaktion i.S. der VO Nr. 2354/2000 aus drei verschiedenen chemischen Substanzen entstanden. Die verwendeten Begriffe (Mischung, Gemisch) seien nur im untechnischen Sinne als Zusammenfügung von Bestandteilen zu verstehen, die sodann chemisch miteinander reagieren.
9
Die Klägerin hat gegen das Urteil Revision eingelegt. Zur Begründung trägt sie vor: Das FG habe die Klage gegen den Widerruf der vZTA zu Unrecht abgewiesen. In der vZTA vom 16. November 2007 sei die Ware zutreffend in die Pos. 3103 KN eingereiht worden. Die streitige Ware entspreche der Beschreibung in der Anm. 3 Buchst. a Nr. 2 zu Kap. 31 KN, wonach zur Pos. 3103 KN natürliche Phosphate der Pos. 2510 KN gehörten, die geröstet, gebrannt oder weitergehend thermisch behandelt seien, als zum Entfernen von Verunreinigungen erforderlich. Anders als das in VO Nr. 2354/2000 beschriebene Produkt werde das vorliegende Erzeugnis nicht durch eine chemische Reaktion von Apatit mit Natriumverbindungen und Phosphorsäure, sondern in einem Glühvorgang durch Einlagerung in einer Vorstufe gebildeter Natriumphosphate in die Apatitstruktur hergestellt. Auch entstehe es nicht durch eine Reaktion eines Apatit-, Phosphorsäure- und Natriumcarbonat- oder Natriumhydroxid-Gemisches und es handele sich bei der Ware nicht um eine Mischung von Calcium- und Calcium-Natrium-Phosphaten. Es handele sich vielmehr um ein gesintertes homogenes Produkt, eine nichtstöchiometrische Verbindung. Schließlich sei das Endprodukt trotz der Zuführung geringer Mengen von Natriumphosphat ein „natürliches“ Phosphat. „Natürlich“ i.S. der Pos. 3103 KN sei nicht als „naturbelassen“ zu verstehen. Auch die niederländische Tarifkommission (Rechtssache Nr. 0266/95 TC vom 24. August 1999) habe die nämliche Ware in die Unterpos. 3103 90 00 KN und nicht gemäß der seinerzeit geltenden VO (EG) Nr. 1533/92 in die Pos. 2309 KN eingereiht.
10
Das HZA verweist zur Begründung zunächst darauf, dass nach Anm. 3 Buchst. a Nr. 2 zu Kap. 31 KN nur natürliche Phosphate ohne Zusätze gehörten, so dass das zu tarifierende entfluorierte Calciumphosphat, das aus Naturphosphat mit Apatitstruktur unter Zusatz von Phosphorsäure und Soda hergestellt werde, nicht darunter fallen könne. Die EinreihungsVO Nr. 2354/2000 hält es für einschlägig, zumal die Ware nicht nur als Düngemittel, sondern auch als Futtermittel verwendbar sei. Im Übrigen hält es dem Revisionsvorbringen sinngemäß entgegen, die VO Nr. 2354/2000 enthalte keine ausführliche Beschreibung der Reaktionsführung, der Herstellungsvorgang werde nicht in seine einzelnen Schritte aufgeteilt, sondern ganzheitlich als eine Reaktion angesehen. Den Begriff „Mischung“ verwende die VO Nr. 2354/2000 nicht ausschließlich im Sinne einer mechanischen Mischung, vielmehr erfasse er auch nichtstöchiometrische Verbindungen.
Entscheidungsgründe

11
II. Die Entscheidung ergeht gemäß § 126a der Finanzgerichtsordnung (FGO). Der Senat hält einstimmig die Revision für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich. Die Beteiligten sind davon unterrichtet worden und hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.
12
Die Revision der Klägerin ist zulässig, aber nicht begründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO). Das FG ist rechtsfehlerfrei zu dem Ergebnis gekommen, dass der Widerruf der vZTA rechtmäßig war, weil die als entfluoriertes Calciumphosphat bezeichnete Ware nicht, wie in der vZTA festgelegt, in die Unterpos. 3103 90 00 der hier maßgeblichen VO (EWG) Nr. 2658/87 des Rates vom 23. Juli 1987 über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif i.d.F. der Verordnung (EG) Nr. 1549/2006 der Kommission vom 17. Oktober 2006 (Amtsblatt der Europäischen Union Nr. L 301/1) einzureihen war.
13
1. Das HZA und das FG haben die Rechtsgrundlage für den Widerruf der vZTA zutreffend in Art. 9 Abs. 1 ZK gesehen.
14
Hiernach wird eine begünstigende Entscheidung widerrufen, wenn in anderen als in den in Art. 8 ZK bezeichneten Fällen eine oder mehrere Voraussetzungen für ihren Erlass nicht erfüllt waren oder nicht mehr erfüllt sind. Die vZTA, ein Unterfall der verbindlichen Auskunft i.S. des Art. 12 ZK, erfüllt die Begriffsmerkmale einer Entscheidung i.S. des Art. 4 Nr. 5 ZK. Ihre begünstigende Wirkung für den Berechtigten ergibt sich aus der Bindung der Zollbehörden aller Mitgliedstaaten der Gemeinschaft hinsichtlich der zolltariflichen Einreihung (Art. 12 Abs. 2 Unterabs. 1 ZK). Erweist sich eine vZTA nach ihrer Erteilung als fehlerhaft, ohne dass eine Rücknahme nach Art. 8 ZK in Betracht kommt, ist die erteilende Zollbehörde verpflichtet, sie zu widerrufen, auch wenn der Antragsteller für die Unrichtigkeit der Tarifierung keine Ursache gesetzt hat (vgl. den Senatsbeschluss vom 11. März 2004 VII R 20/01, BFH/NV 2004, 1305).
15
2. Das FG hat weiter zutreffend entschieden, dass die der Klägerin erteilte vZTA von Anfang an so nicht hätte ergehen dürfen, weil das streitgegenständliche Erzeugnis nicht in die Unterpos. 3103 90 00 KN eingereiht werden kann.
16
Unbeschadet der EinreihungsVO Nr. 2354/2000 wird die zu tarifierende Ware von der Pos. 3103 KN nicht erfasst, weil sie nicht den Anforderungen der Anm. 3 Buchst. a zu Kap. 31 KN entspricht.
17
Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union –EuGH– (vgl. Urteil vom 7. Februar 2002 C-276/00, Slg. 2002, I-1389, Rz 21) und des erkennenden Senats (z.B. Senatsurteil vom 28. März 2006 VII R 50/04, BFHE 213, 169, m.w.N., Zeitschrift für Zölle und Verbrauchsteuern 2006, 293) ist das entscheidende Kriterium für die zollrechtliche Tarifierung von Waren allgemein in deren objektiven Merkmalen und Eigenschaften zu suchen, wie sie im Wortlaut der Positionen und Unterpositionen und in den Anmerkungen zu den Abschnitten oder Kapiteln der KN festgelegt sind. Daneben stellen die vom Rat für die Zusammenarbeit auf dem Gebiete des Zollwesens für das Harmonisierte System bzw. die von der Europäischen Kommission für die KN ausgearbeiteten Erläuterungen ein wichtiges, wenn auch nicht verbindliches Erkenntnismittel für die Auslegung der einzelnen Tarifpositionen dar.
18
Nach Anm. 3 Buchst. a Nr. 2 zu Kap. 31 KN gehören zu Pos. 3103 KN ausdrücklich nur natürliche Phosphate der Pos. 2510, die weitergehend thermisch behandelt wurden, als zum Entfernen von Verunreinigungen erforderlich. Die Pos. 2510 KN erfasst „Natürliche Calciumphosphate, natürliche Aluminiumcalciumphosphate und Phosphatkreiden“ und die dazu ergangenen Erläuterungen zum Harmonisierten System (ErlHS) zu Pos. 2510 KN präzisieren unter Rz 01.0 „Zu dieser Position gehören nur Apatit und andere natürliche Calciumphosphate …“. Nach der ErlHS zu Pos. 3103 KN Rz 08.0 erfasst diese Position nicht andere als die vorstehend aufgeführten Phosphaterzeugnisse (chemische oder andere).
19
Bei der Ware, die von der Klägerin zur Tarifierung gestellt wurde, handelt es sich weder um Apatit noch um ein anderes natürliches Calciumphosphat, das (lediglich) thermisch behandelt wurde. Laut Warenbeschreibung wird sie „aus Naturphosphat mit Apatitstruktur … unter Zusatz geringer Mengen Phosphorsäure und Soda hergestellt“. In der Revisionsbegründung erläutert die Klägerin, das Natriumphosphat werde in die Kristallstruktur des Apatit eingelagert, bei einer Glühtemperatur verbänden sich die Komponenten durch eine Festkörperreaktion. Und nach den Feststellungen des FG, die –weil mit der Revision nicht angegriffen– für den Senat nach § 118 Abs. 2 FGO bindend sind, handelt es sich bei den in der Strukturformel des Hauptbestandteils der Ware CA5Na2(PO4)4 genannten Stoffen Phosphorpentoxid und Natriumoxid um Anteile am Endprodukt und nicht lediglich um bei der Herstellung eingesetzte Substanzen. Ob die Herstellung des Endprodukts auf eine chemische Reaktion oder eine thermische Behandlung zurückzuführen ist, ist demgegenüber nicht entscheidend. Denn der von der Klägerin eingehend beschriebene Prozess des (thermischen) Aufschlusses der Apatitstruktur ist untrennbar verbunden mit der Einlagerung von Natriumphosphat in diese Struktur und damit dem Entstehen der gewünschten, zur Verwendung als Futtermittel geeigneten nichtstöchiometrischen Verbindung. Das heißt, eine thermische Behandlung des Naturphosphats allein hat nicht zur Herstellung des zu tarifierenden Produkts geführt, sondern erst die Zuführung von Phosphorpentoxid und Natriumoxid hat die Veränderung der Kristallstruktur des Naturphosphats und damit die Entstehung des Endprodukts bewirkt. Daran scheitert die Einreihung der Ware in die Pos. 3103 KN. Denn es handelt sich um ein anderes als von der Beschreibung in Anm. 3 Buchst. a Nr. 2 zu Kap. 31 KN und in ErlHS zu Pos. 3103 Rz 05.0 erfasstes Phosphaterzeugnis und wird damit nach der ErlHS zu Pos. 3103 Rz 08.0 von der Pos. 3103 KN nicht erfasst. Die Auffassung der Klägerin, die in der Anm. 3 Buchst. a Nr. 2 zu Kap. 31 KN beschriebene „weitergehende thermische Behandlung“, welche zur Einreihung der natürlichen Phosphate in die Pos. 3103 KN führt, erfasse auch den Aufschluss der Apatitstruktur unter Einlagerung des Natriumphosphats, findet weder in der genannten Anmerkung noch in den ErlHS zu Pos. 3103 KN eine Stütze.
20
3. Da die Rechtmäßigkeit des Widerrufs der vZTA nicht davon abhängt, in welche Position der KN die Ware zutreffend einzureihen ist, lässt der Senat offen, ob das zu tarifierende entfluorierte Calciumphosphat von der VO Nr. 2354/2000 erfasst wird und damit in die dort genannte Unterpos. 2309 90 97 KN, bzw. in die im Jahr 2007 geltende Unterpos. 2309 90 99 KN einzureihen ist.
21
Damit erübrigt sich auch eine Vorlage an den EuGH zur Prüfung der Vereinbarkeit der VO Nr. 2354/2000 mit den einschlägigen Positionen der KN.
22
4. Die von der Klägerin vorgelegte Entscheidung der niederländischen Tarifkommission in der Rechtssache Nr. 0266/95 TC vom 24. August 1999 ist für den Streitfall unergiebig. Denn sie enthält keine Aussage darüber, ob die zu beurteilende Ware entsprechend der Vorgaben der Pos. 3103 KN und der Anm. 3 zu Kap. 31 KN in die Unterpos. 3103 90 00 KN einzureihen ist. Wie sich aus Tz 6.1.2. der Entscheidung ergibt, erfolgte die Einreihung in diese Unterposition in jenem Streitfall, weil sich die dortige Klägerin auf eine dänische vZTA berufen konnte, in der die nämliche Ware in diese Tarifposition eingereiht worden war.

Beendigung der Verfahrensruhe im Einspruchsverfahren durch Vorläufigkeitsvermerk

Rechtsschutz – Voraussetzungen für Eintritt und Beendigung der Zwangsruhe gemäß § 363 Abs. 2 AO – Unterlassene Anhörung des Steuerpflichtigen nach Wegfall des Ruhensgrundes

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 23.1.2013, X R 32/08

Beendigung der Verfahrensruhe im Einspruchsverfahren durch Vorläufigkeitsvermerk – Rechtsschutz – Voraussetzungen für Eintritt und Beendigung der Zwangsruhe gemäß § 363 Abs. 2 AO – Unterlassene Anhörung des Steuerpflichtigen nach Wegfall des Ruhensgrundes – Verfassungskonforme Auslegung einer Steuerrechtsnorm – Änderung von Steuerbescheiden durch Aufnahme von Vorläufigkeitsvermerken als Teilabhilfe im Einspruchsverfahren – Umfang von Vorläufigkeitsvermerken – Abzug von Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung

Leitsätze

Die Finanzbehörde kann die durch Berufung auf ein vorgreifliches Verfahren bewirkte Verfahrensruhe im Einspruchsverfahren durch einen Vorläufigkeitsvermerk derselben Reichweite beenden. Der Vorläufigkeitsvermerk bietet einen der Verfahrensruhe gleichwertigen Rechtsschutz.

Tatbestand

1
A. Die zusammenveranlagten Kläger und Revisionskläger (Kläger) erzielten in den Streitjahren 2000 und 2001 Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Die Einkommensteuerbescheide 2000 und 2001 erklärte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt –FA–) hinsichtlich „der beschränkten Abzugsfähigkeit von Vorsorgeaufwendungen (§ 10 Abs. 3 EStG)“ nach § 165 Abs. 1 Satz 2 der Abgabenordnung in der in den Streitjahren gültigen Fassung (AO) für vorläufig. Gegen beide Einkommensteuerbescheide legten die Kläger Einspruch ein. Das hierfür von ihrem Prozessbevollmächtigten jeweils verwendete Formblatt (Kopiervorlage) enthielt eine Begründung folgenden Wortlauts:

2
„In einem neu anhängigen Verfahren … vor dem BFH ist die Rechtsfrage anhängig, ob Rentenversicherungsbeiträge voll als Werbungskosten abziehbar sein müssen (BFH; Az.: X R 65/01 und 66/01). Meine Mandanten waren im Jahre [handschriftlich eingesetzt: „2000“ bzw. „2001“] rentenversicherungspflichtig. Diese Rechtsfrage betrifft in erster Linie § 9 I S. 1 EStG und ist somit nicht vom Vorläufigkeitsvermerk bezüglich der beschränkten Abziehbarkeit von Vorsorgeaufwendungen (§ 10 III EStG) abgedeckt. Da das Verfahren auf den Besteuerungsfall meiner Mandanten zutrifft, ruht das Verfahren gem. § 363 II S. 2 AO kraft Gesetzes, es sei denn das Finanzamt erweitert den Vorläufigkeitsvermerk auf diese Rechtsfrage.“

3
Außerdem habe das Bundessozialgericht mit Urteil vom 29. Juni 2000 (es handelt sich vermutlich um das Verfahren B 4 RA 57/98 R, BSGE 86, 262) entschieden, die Kürzung des Vorwegabzugs bei Arbeitnehmern sei rechtswidrig. Es werde um Mitteilung gebeten, ob der bestehende Vorläufigkeitsvermerk diese Rechtsfrage einschließe, ansonsten ruhe auch hier das Verfahren.

4
Die vor dem Bundesfinanzhof (BFH) anhängigen Verfahren X R 65/01 und X R 66/01 wurden, nachdem sie zwischenzeitlich die Aktenzeichen XI R 56/01 und XI R 57/01 erhalten hatten, am 21. Juli 2004 vom erkennenden Senat unter den Aktenzeichen X R 72/01 und X R 73/01 entschieden (BFH/NV 2005, 513 bzw. Neue Juristische Wochenschrift –NJW– 2005, 93). Am 20. Januar 2005 teilte das FA den Klägern mit, Rentenversicherungsbeiträge seien nicht als Werbungskosten abziehbar. Dies sei nunmehr höchstrichterlich entschieden worden. Die Kläger würden daher gebeten, ihre Einsprüche zurückzunehmen.

5
Mit Schreiben vom 24. Januar 2005 erweiterten die Kläger ihre Einsprüche. Vor dem BFH sei derzeit ein Verfahren anhängig, in dem es um die Rechtsfrage gehe, ob nicht jedem Steuerpflichtigen die den Abgeordneten steuerfrei zustehende Kostenpauschale gemäß Art. 3 des Grundgesetzes (GG) gewährt werden müsse. Dieses Verfahren sei auch für ihren Besteuerungsfall von Bedeutung. Im Hinblick auf diese beim BFH anhängige Rechtsfrage ruhe das Einspruchsverfahren nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO weiterhin kraft Gesetzes.

6
Mit Einspruchsentscheidung vom 24. November 2005 erklärte das FA die Einkommensteuerfestsetzungen hinsichtlich der Nichtabziehbarkeit von Beiträgen zu Rentenversicherungen als vorweggenommene Werbungskosten bei den Einkünften i.S. des § 22 Nr. 1 Satz 3 des Einkommensteuergesetzes in der in den Streitjahren gültigen Fassung (EStG) sowie hinsichtlich der Nichtberücksichtigung pauschaler Werbungskosten bzw. Betriebsausgaben in Höhe der steuerfreien Aufwandsentschädigung nach § 12 des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Deutschen Bundestages (AbgG) für vorläufig und wies die Einsprüche im Übrigen als unbegründet zurück. Dazu führte es aus, durch die Vorläufigkeitserklärung hinsichtlich der nicht als Werbungskosten berücksichtigten Rentenversicherungsbeiträge sei dem Antrag der Kläger entsprochen worden. Der Vorwegabzug gemäß § 10 Abs. 3 Nr. 2 EStG sei gemäß § 10 Abs. 3 Nr. 2 Satz 2 Buchst. a EStG um 16 % der Arbeitslöhne beider Kläger zu kürzen, so dass letztendlich kein Vorwegabzug verbleibe. Auch in den übrigen strittigen Punkten sei dem Rechtsschutzbedürfnis der Kläger durch die Vorläufigkeitsvermerke ausreichend Rechnung getragen worden. Das Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) vom 27. Juni 2005 IV A 7 -S 0338- 54/05 (BStBl I 2005, 794) sehe vor, dass ein Ruhen des Verfahrens nicht gewährt werden könne, wenn die Steuerfestsetzung bezüglich der betreffenden Punkte vorläufig ergangen sei. An diese Anweisung sei das FA im Interesse einer gleichmäßigen Besteuerung und der Gleichbehandlung aller Steuerpflichtigen gebunden.

7
Mit Schreiben vom 2. Januar 2006 lehnte das FA die am 19. Dezember 2005 unter Hinweis auf § 172 Abs. 1 Satz 2 AO beantragte und in zwei Telefonaten zwischen ihm und dem Prozessbevollmächtigten der Kläger am 28. und 29. November 2005 bereits diskutierte Aufhebung der Einspruchsentscheidung mit einer ausführlichen Begründung ab, legte den Antrag im Einvernehmen mit den Klägern als Klage aus und leitete ihn an das Finanzgericht (FG) weiter.

8
Das FG wies die Klage mit dem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2008, 1352 veröffentlichten Urteil als unbegründet ab.

9
Mit der Revision verfolgen die Kläger ihr Begehren weiter. Die Einspruchsentscheidung sei verfahrensfehlerhaft ergangen und daher isoliert aufzuheben. Die Verfahrensruhe nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO habe sowohl hinsichtlich der Behandlung der Rentenversicherungsbeiträge als auch hinsichtlich der entsprechenden Anwendung der steuerfreien Kostenpauschale für Abgeordnete fortgedauert. Ihre Einspruchsbegründung in Bezug auf die Rentenversicherungsbeiträge habe sich neben den Verfahren X R 65/01 und X R 66/01 auch auf das Verfahren X R 45/02 gestützt. Wie dem Senatsurteil vom 26. September 2006 X R 39/05 (BFHE 215, 1, BStBl II 2007, 222) zu entnehmen sei, umfasse § 363 Abs. 2 Satz 2 AO auch Parallelverfahren. Daher habe die Zwangsruhe erst am 8. November 2006 mit dem BFH-Urteil X R 45/02 (BFHE 216, 47, BStBl II 2007, 574) geendet. Die Fortsetzungsmitteilung vom 20. Januar 2005 sei rechtswidrig, da das FA dies verkannt und daher keine Ermessenserwägungen angestellt habe.

10
Unabhängig davon habe die Einspruchserweiterung vom 24. Januar 2005 zur weiteren gesetzlichen Zwangsruhe geführt, die erst mit dem Urteil des BFH vom 11. September 2008 VI R 63/04 (BFH/NV 2008, 2018) geendet habe. Das FA habe die eingetretene Verfahrensruhe nicht lediglich mit einem in der Einspruchsentscheidung angebrachten Vorläufigkeitsvermerk ohne Fortsetzungsmitteilung nach § 363 Abs. 2 Satz 4 AO beenden können. Sie, die Kläger, hätten als Einspruchsführer aufgrund des Ruhens des Verfahrens durch das Fehlen des Vorläufigkeitsvermerks eine Rechtsposition innegehabt, die das FA durch den Vorläufigkeitsvermerk habe verändern wollen. Um der „Klarheit der Spielregeln“ willen sei in einem solchen Fall eine vorherige Fortsetzungsmitteilung notwendig. Sei der Einspruchsführer nach dem Grundsatz der Verfahrensklarheit gehalten, die Bezugsverfahren gemäß § 363 Abs. 2 Satz 2 AO exakt zu bezeichnen, verlangten dieser Grundsatz sowie der Grundsatz eines fairen Verfahrens auf der anderen Seite vom FA, die Änderung der Verfahrenslage sowie der Verfahrensposition, die der Einspruchsführer durch die verfahrensgestaltende Einspruchsbegründung erlangt habe, durch eine Fortsetzungsmitteilung gemäß § 363 Abs. 2 Satz 4 AO anzukündigen.

11
Die Finanzverwaltung gehe aufgrund des im Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung geltenden BMF-Schreibens in BStBl I 2005, 794 offensichtlich selbst davon aus, dass Einspruchsverfahren nach einer Aufforderung -die nichts anderes sei als eine Fortsetzungsmitteilung- weiterhin ruhen könnten, wenn sich der Einspruchsführer auf andere Verfahren stütze. Da die vorläufige Steuerfestsetzung gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO eine Ermessensentscheidung sei, stelle das BMF-Schreiben in BStBl I 2005, 794 eine Ermessensrichtlinie dar, die zur Selbstbindung der Verwaltung führe. Ein Abweichen hiervon laufe dem sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergebenden Vertrauensgrundsatz zuwider. Für die Notwendigkeit einer Anhörung des Steuerpflichtigen spreche auch der Anwendungserlass zur Abgabenordnung (AEAO), der ausdrücklich regele, dass die Finanzbehörde, wenn sie nach § 363 Abs. 2 Satz 4 AO die Fortsetzung des bisher ruhenden Einspruchsverfahrens mitteile, vor Erlass der Einspruchsentscheidung den Beteiligten die Gelegenheit geben solle, sich erneut zu äußern.

12
Beide Vorläufigkeitsvermerke bewirkten außerdem nicht denselben umfänglichen Rechtsschutz wie eine Zwangsruhe nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO; sie verschlechterten nicht nur die verfahrenstaktische, sondern vielmehr auch die verfahrensrechtliche Position der Kläger. Die Einspruchsentscheidung mit der Aufnahme der Vorläufigkeitsvermerke sei eine Verböserung i.S. von § 367 Abs. 2 Satz 2 AO. Sie, die Kläger, hätten daher vor deren Erlass nach § 365 Abs. 1, § 91 Abs. 1 AO i.V.m. Art. 103 und Art. 20 Abs. 3 GG angehört werden müssen. So bezögen sich die Vorläufigkeitsvermerke nicht auf einfachgesetzliche Rechtsfragen, mit denen in beiden Streitpunkten dem Begehren der Kläger, ggf. im Wege verfassungskonformer Auslegung, hätte Rechnung getragen werden können. Dies wäre hinsichtlich der Rentenversicherungsbeiträge durch Bejahung des Vorrangs des § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG gegenüber § 10 Abs. 3 EStG, hinsichtlich der Kostenpauschale der Abgeordneten durch die analoge Anwendung von § 3 Nr. 12 EStG auf alle Steuerpflichtigen möglich gewesen. Auch nähmen die Vorläufigkeitsvermerke den Klägern die Möglichkeit, nach § 361 Abs. 2 Satz 2 AO die Aussetzung der Vollziehung (AdV) zu beantragen. Falls eine Aussetzung der Steuerfestsetzung (§ 165 Abs. 1 Satz 4 AO) mit einer AdV vergleichbar sein solle, stelle sich die Frage, ob eine Aussetzung der Steuerfestsetzung –wie eine Aufhebung der Vollziehung– auch rückwirkend ausgesprochen werden könne. Zudem erfassten die Vorläufigkeitsvermerke nur Verfahren, die zum Zeitpunkt ihrer Bekanntgabe bereits anhängig gewesen seien, so dass eine Änderung des Bescheids nach § 165 Abs. 2 AO nicht mehr auf später anhängig werdende Verfahren gestützt werden könne. Ferner erlaubten sie nicht, bei erfolglosem Abschluss des Musterverfahrens oder etwa anderweitiger Erledigung (Hauptsacheerledigung durch Abhilfe etc.) selbst vor Gericht zu gehen.

13
Schließlich habe der Erlass der Einspruchsentscheidung ohne vorherige Anhörung den Klägern die Möglichkeit abgeschnitten, ihren Einspruch auf weitere für ihren Fall präjudizielle Musterverfahren vor dem BFH und dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zu stützen. Demgegenüber gehe der Große Senat des BFH davon aus, dass ein bereits anhängiges Rechtsmittel erweitert werden könne (Beschluss vom 23. Oktober 1989 GrS 2/87, BFHE 159, 4, BStBl II 1990, 327). Eine zielgerichtete Einspruchserweiterung sei kein Missbrauch der gesetzlichen Zwangsruhe als Mittel zum bloßen Offenhalten eines Steuerbescheids. Lägen die Voraussetzungen der Zwangsruhe vor, gehe es um effektiven, individuellen Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 GG, den in Anspruch zu nehmen niemals missbräuchlich sei.

14
Stelle die Aufnahme eines Vorläufigkeitsvermerks hingegen keine Verböserung dar und entfalle damit die Beschwer der Kläger im ursprünglich gerügten Punkt, der die Verfahrensruhe ausgelöst habe, könne die damit verbundene Änderung der Steuerfestsetzung nur eine Vollabhilfe sein. In diesem Falle dürfe eine Einspruchsentscheidung nach § 367 Abs. 2 Satz 3 AO nicht ergehen.

15
Sehe der angerufene Senat in § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO einen adäquaten Ersatz zur gesetzlichen Verfahrensruhe, komme es entscheidend darauf an, dass diese Vorschrift nicht ihrerseits verfassungswidrig sei. Insofern sei das Revisionsverfahren im Hinblick auf die unter dem Aktenzeichen 1 BvR 1359/11 anhängige Verfassungsbeschwerde, in der die Verfassungswidrigkeit dieser Vorschrift gerügt und deren Begründung ausdrücklich zum Gegenstand dieses Revisionsverfahrens gemacht werde, zum Ruhen zu bringen oder nach § 74 der Finanzgerichtsordnung (FGO) auszusetzen. Falls das Verfahren nicht ausgesetzt werde, werde angeregt, dem BVerfG gemäß Art. 100 GG die Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 165 Abs. 1 Satz 2 AO vorzulegen. Ebenso sei eine Vorlage wegen der Frage der Verfassungsmäßigkeit der einkommensteuerlichen Behandlung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung angezeigt. Hier sei bereits eine Verfassungsbeschwerde unter dem Aktenzeichen 2 BvR 598/12 anhängig, die sich gegen das Senatsurteil vom 16. November 2011 X R 15/09 (BFHE 236, 69, BStBl II 2012, 325) richte. Es werde insoweit auf die beigefügte Begründung dieser Verfassungsbeschwerde, deren Argumentation man sich zu eigen mache, Bezug genommen.

16
Die Kläger begehren ferner, die Einkommensteuerbescheide 2000 und 2001 jeweils mit einem Vorläufigkeitsvermerk hinsichtlich des Grundfreibetrages zu versehen. Die Vertreterin des FA hat daraufhin in der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Senat zu Protokoll erklärt: „Die Einspruchsentscheidung vom 24. November 2005 wird dahingehend abgeändert, dass die Einkommensteuerbescheide 2000 und 2001 hinsichtlich der Höhe des Grundfreibetrages für vorläufig erklärt werden.“

17
Die Kläger beantragen,

die Einspruchsentscheidung vom 24. November 2005 sowie das Urteil des FG aufzuheben und den Rechtsstreit an das FA zur Weiterführung des außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahrens zurückzuverweisen,

hilfsweise,

unter Änderung der Einkommensteuerbescheide 2000 und 2001 vom 23. Januar 2013 die Einkommensteuer in der Weise festzusetzen, dass die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung in voller Höhe, ggf. auch im Wege des negativen Progressionsvorbehalts berücksichtigt werden.

18
Das FA lehnt ein Ruhen des Verfahrens ab und beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe
19
B. I. Das angefochtene Urteil ist aus verfahrensrechtlichen Gründen aufzuheben, da die am 23. Januar 2013 während des Revisionsverfahrens zu Protokoll gegebene Erklärung des FA die Einkommensteuerbescheide 2000 und 2001 vom 15. November 2002 sowie die Einspruchsentscheidung vom 24. November 2005 geändert hat. Damit liegen dem FG-Urteil nicht mehr existierende Bescheide zugrunde mit der Folge, dass auch das FG-Urteil keinen Bestand haben kann (vgl. dazu Senatsurteil vom 18. April 2012 X R 62/09, BFHE 237, 434, BStBl II 2012, 721, m.w.N.).

20
Die Änderungsbescheide vom 23. Januar 2013 wurden nach § 68 Satz 1 FGO Gegenstand des Revisionsverfahrens. Da sich durch die Änderungsbescheide der bisherige Streitstoff nicht verändert hat, bedarf es keiner Zurückverweisung der Sache gemäß § 127 FGO (vgl. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 127 Rz 2). Das finanzgerichtliche Verfahren leidet nicht an einem Verfahrensmangel, so dass die vom FG getroffenen tatsächlichen Feststellungen durch die Aufhebung des Urteils nicht weggefallen sind; sie bilden daher nach wie vor die Grundlage für die Entscheidung des Senats (vgl. BFH-Urteil vom 23. Januar 2003 IV R 71/00, BFHE 201, 269, BStBl II 2004, 43).

II.
21
Der Senat entscheidet in der Sache selbst. Der Hauptantrag der Kläger ist zulässig (unten 1.), jedoch unbegründet. Das FA durfte die Einkommensteuerfestsetzungen 2000 und 2001 hinsichtlich der Nichtabziehbarkeit von Beiträgen zur Rentenversicherung als vorweggenommene Werbungskosten bei den Einkünften i.S. des § 22 Nr. 1 Satz 3 EStG sowie bezüglich der Nichtberücksichtigung pauschaler Werbungskosten bzw. Betriebsausgaben in Höhe der steuerfreien Aufwandsentschädigung nach § 12 AbgG vorläufig festsetzen und die Einsprüche im Übrigen als unbegründet zurückweisen (unten 2.). Der Hilfsantrag der Kläger ist unbegründet, da die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung weder in voller Höhe noch im Wege des negativen Progressionsvorbehalts zu berücksichtigen waren (unten 3.).

22
1. Bei den Klägern ist das erforderliche besondere Rechtsschutzinteresse an der isolierten Aufhebung der Einspruchsentscheidung (zu diesem Erfordernis vgl. BFH-Urteile vom 19. August 1982 IV R 185/80, BFHE 136, 445, BStBl II 1983, 21, und vom 19. Dezember 1995 III R 100/90, NJW 1996, 1560) gegeben. Die Rechtswidrigkeit des Widerrufs eines Ruhens des Verfahrens kann gemäß § 363 Abs. 3 AO nur durch Klage gegen die Einspruchsentscheidung geltend gemacht werden. Der Zulässigkeit einer solchen Klage steht nicht entgegen, dass die Kläger –hilfsweise– die steuerliche Berücksichtigung der von ihnen geleisteten Beiträge zur Arbeitslosenversicherung beantragt haben. Dieses Begehren haben sie ausdrücklich nur für den Fall der Abweisung ihres Antrags auf isolierte Aufhebung der Einspruchsentscheidung geltend gemacht (siehe dazu Senatsurteil in BFHE 215, 1, BStBl II 2007, 222, m.w.N.).

23
2. Der Hauptantrag ist nicht begründet. Das FA konnte im Rahmen der Einspruchsentscheidung vom 24. November 2005 die Einkommensteuer 2000 und 2001 in den beiden o.g. Punkten vorläufig festsetzen und die Einsprüche im Übrigen als unbegründet zurückweisen.

24
a) Die durch die Einsprüche vom 18. Dezember 2002 nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO bewirkte Verfahrensruhe war mit Ablauf des 21. Juli 2004 beendet.

25
aa) § 363 Abs. 2 Satz 2 AO in der bis zum 31. Dezember 2008 geltenden Fassung lautete:

26
„Ist wegen der Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsnorm oder wegen einer Rechtsfrage ein Verfahren bei dem Europäischen Gerichtshof, dem Bundesverfassungsgericht oder einem obersten Bundesgericht anhängig und wird der Einspruch hierauf gestützt, ruht das Einspruchsverfahren insoweit; dies gilt nicht, soweit nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 [in der seit dem 1. Januar 2009 geltenden Fassung auch Nr. 4] die Steuer vorläufig festgesetzt wurde.“

27
Die Verfahrensruhe beginnt und endet mit Eintritt und Fortfall ihrer Voraussetzungen automatisch (vgl. hierzu BFH-Urteil in BFHE 215, 1, BStBl II 2007, 222). Die Voraussetzungen sind u.a. dann entfallen, wenn das oder die Verfahren, um dessen oder deren Willen das Einspruchsverfahren ruhte (im Folgenden: Bezugsverfahren), nicht mehr anhängig ist oder sind.

28
bb) Auf welches oder welche Verfahren ein Einspruch im Sinne dieser Vorschrift „gestützt“ wird, ist eine Frage der Auslegung. Die Auslegung außerprozessualer Willenserklärungen, zu denen auch der Einspruch gehört, ist Gegenstand der dem FG obliegenden tatrichterlichen Würdigung (vgl. Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler –HHSp–, § 118 FGO Rz 205, 195). Sie bindet gemäß § 118 Abs. 2 FGO den BFH, sofern sie den Auslegungsgrundsätzen entspricht und nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstößt (ständige Rechtsprechung, vgl. Senatsurteil vom 19. Juli 2011 X R 26/10, BFHE 234, 239, BStBl II 2012, 856, m.w.N.).

29
Das FG hat die Einsprüche dahin ausgelegt, dass sie sich lediglich auf die zum damaligen Zeitpunkt unter den beiden Aktenzeichen X R 65/01 und X R 66/01 vor dem BFH anhängigen Verfahren bezogen. Dieses Auslegungsergebnis entspricht dem Grundsatz der Verfahrensklarheit. Wenn ein beratener Steuerpflichtiger sich ausdrücklich unter Nennung der Aktenzeichen auf bestimmte Verfahren stützt, ruht das Einspruchsverfahren nur im Hinblick auf diese Verfahren. Im Übrigen haben die Kläger dies zu dem Zeitpunkt, als das FA sie über das Ende der Verfahrensruhe informierte, noch ebenso beurteilt. Andernfalls hätten sie mit ihrem Schreiben vom 24. Januar 2005 nicht nur den Einspruch auf ein anderes Bezugsverfahren erweitert, sondern ebenfalls auf die Fortdauer des Ruhens hingewiesen.

30
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Senatsurteil in BFHE 215, 1, BStBl II 2007, 222. Der Senat hat dort sinngemäß ausgeführt, § 363 Abs. 2 Satz 2 AO bezwecke zwar in erster Linie, das Einspruchsverfahren bis zur Klärung der Rechtsfrage in einem Musterverfahren ruhen zu lassen; es reiche aber nach dem –maßgebenden– Wortlaut der Vorschrift aus, wenn sich ein Einspruchsführer auf ein zu einer solchen Rechtsfrage noch anhängiges Parallelverfahren berufe. Es genügt hingegen gerade nicht, dass ein solches Parallelverfahren lediglich existiert.

31
Die Verfahren X R 65/01 und X R 66/01 (zwischenzeitlich unter XI R 56/01 und XI R 57/01 geführt) wurden am 21. Juli 2004 unter X R 72/01 (BFH/NV 2005, 513) und X R 73/01 (NJW 2005, 93) durch Urteile abgeschlossen. Die sich anschließende Verfassungsbeschwerde (2 BvR 2299/04) war als außerordentlicher Rechtsbehelf ein anderes Verfahren (vgl. dazu BFH-Beschluss vom 29. Mai 2007 X B 66/06, BFH/NV 2007, 1693) und verlängerte die Verfahrensruhe nicht automatisch. Mit Ablauf des 21. Juli 2004 war die Verfahrensruhe nach § 363 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 1 AO daher beendet, ohne dass es einer gesonderten Fortsetzungsmitteilung nach § 363 Abs. 2 Satz 4 AO bedurft hätte. Überlegungen zur Ermessensausübung stellen sich daher nicht.

32
b) Durch die Erweiterung des Einspruchs vom 24. Januar 2005 trat erneut eine Verfahrensruhe ein. Diese endete jedoch durch die Einspruchsentscheidung vom 24. November 2005.

33
Die Einspruchsentscheidung enthielt nicht nur die Entscheidung über den Einspruch (unten cc), sondern auch die konkludente Fortsetzungsmitteilung des FA gemäß § 363 Abs. 2 Satz 4 AO (unten aa) und die Bekanntgabe der entsprechenden vorläufigen Festsetzungen (unten bb).

34
aa) Die Fortsetzungsmitteilung ist im Ergebnis rechtmäßig.

35
(1) Dadurch, dass das FA über den Einspruch der Kläger entscheiden wollte, hat es unmissverständlich zu erkennen gegeben, dass es das Ruhen des Verfahrens beenden wollte. In der Einspruchsentscheidung des FA ist damit die konkludente Mitteilung zu sehen, gemäß § 363 Abs. 2 Satz 4 AO das Einspruchsverfahren fortführen zu wollen. Einer ausdrücklichen Mitteilung bedarf es insoweit nicht.

36
(2) Die Mitteilung der Finanzbehörde über die Fortsetzung eines noch von der gesetzlichen Zwangsruhe betroffenen Einspruchsverfahrens ist ein rechtsgestaltender Verwaltungsakt, durch den die gesetzliche Zwangsruhe beendet wird. Die Fortsetzungsmitteilung ist eine Ermessensentscheidung; der Einspruchsführer hat zwar kein subjektives Recht darauf, dass die Finanzbehörde von einer Fortsetzung des Einspruchsverfahrens vor Beendigung der gesetzlichen Zwangsruhe absieht, er hat aber einen Anspruch auf rechtmäßige Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens (so Senatsurteil in BFHE 215, 1, BStBl II 2007, 222, m.w.N.).

37
Die Entscheidung des FA, das Einspruchsverfahren fortsetzen zu wollen, war ermessensgerecht; insbesondere hatte das FA zum Ausdruck gebracht, weshalb es im konkreten Einzelfall die gesetzliche Zwangsruhe beendet hat (vgl. dazu Senatsurteil in BFHE 215, 1, BStBl II 2007, 222, unter II.4.).

38
In der Einspruchsentscheidung vom 24. November 2005 hatte das FA zunächst zu Recht darauf hingewiesen, dass mit der Aufnahme des Vorläufigkeitsvermerks in Bezug auf die nicht als Werbungskosten abziehbaren Rentenversicherungsbeiträge dem Antrag der Kläger entsprochen werde. Dass die Kläger nunmehr in ihrer Revisionsbegründung vom 15. Januar 2009 unter IV.6. die Auffassung vertreten, sie hätten eine adäquate Rechtsschutzgewährung und nicht aber eine vorläufige Steuerfestsetzung gefordert, kann der erkennende Senat angesichts des klaren Wortlauts ihrer Einspruchsbegründung vom 18. Dezember 2002 nicht nachvollziehen.

39
In Bezug auf den pauschalen Werbungskosten- bzw. Betriebsausgabenabzug in Höhe der steuerfreien Abgeordnetenpauschale hat das FA ausgeführt, ein Ruhen des Verfahrens könne aus Gründen der Gleichbehandlung nicht gewährt werden, wenn die Steuerfestsetzung hinsichtlich des betreffenden Punktes vorläufig ergangen sei. Mit dem Schreiben vom 2. Januar 2006 konnte das FA diese Erwägungen zulässigerweise präzisieren, da eine Finanzbehörde gemäß § 102 Satz 2 FGO ihre Ermessenserwägungen hinsichtlich eines Verwaltungsakts bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz eines finanzgerichtlichen Verfahrens ergänzen kann (vgl. statt vieler Senatsurteil in BFHE 215, 1, BStBl II 2007, 222).

40
Die Erläuterungen des FA reichen aus, um die ordnungsgemäße Ausübung des Ermessens zu belegen. So hat das FA darauf hingewiesen, es dürfe für die Frage des Ruhens des Verfahrens im Lichte des Art. 3 GG keinen Unterschied machen, ob die Steuerfestsetzung bereits vorläufig ergangen sei und dann der Steuerpflichtige mangels Rechtsschutzbedürfnis keinen erfolgreichen Antrag auf Ruhen des Verfahrens mehr stellen könne oder ob sie zur Wahrung einer gleichmäßigen Besteuerung erst im Einspruchsverfahren für vorläufig erklärt werde. Es könne unter Beachtung des § 363 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 und § 363 Abs. 2 Satz 4 AO nicht Sinn und Zweck des ersten Halbsatzes des § 363 Abs. 2 Satz 2 AO sein, dem Finanzamt nach dem Erlass eines Steuerbescheids die Möglichkeit eines verfahrensabschließenden Vorläufigkeitsvermerks zu nehmen. Im Übrigen sei nicht davon auszugehen, dass das BVerfG jedem Steuerpflichtigen eine steuerfreie Kostenpauschale zubilligen werde; vielmehr sei in den bisherigen Entscheidungen des BVerfG dem Gesetzgeber sowohl eine Frist zum Erlass einer Neuregelung eingeräumt als auch die Entscheidung überlassen worden, wie die Ungleichbehandlung zu beseitigen sei.

41
(3) Das FA hat jedoch das in dem BMF-Schreiben in BStBl I 2005, 794 vorgesehene Verfahren nicht eingehalten. Danach können Einspruchsverfahren weiter ruhen, wenn vom Einspruchsführer nach Aufforderung durch das Finanzamt andere Gründe, die eine Verfahrensruhe rechtfertigten, angeführt werden.

42
(a) Das BMF-Schreiben ist für das FA bindend, da es sich um eine Verwaltungsvorschrift handelt, die die Ausübung des behördlichen Ermessens bei einer vorläufigen Steuerfestsetzung im Hinblick auf anhängige Musterverfahren regelt. Ist eine Finanzbehörde ermächtigt, nach ihrem Ermessen zu handeln, hat sie ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten (§ 5 AO). Vorgesetzte Dienststellen können dazu ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften erlassen, die unter dem Gesichtspunkt der Selbstbindung der Verwaltung und damit der Beachtung des Gleichbehandlungsgrundsatzes von Bedeutung sein können; das gilt aber nur, wenn sich die in ihnen getroffenen Regelungen –woran im Streitfall keine Zweifel bestehen– innerhalb der Grenzen halten, die das Grundgesetz und die Gesetze der Ausübung des Ermessens setzen (vgl. dazu BFH-Entscheidungen vom 10. Oktober 2001 XI R 52/00, BFHE 196, 572, BStBl II 2002, 201, m.w.N., und vom 27. Juli 2011 I R 44/10, BFH/NV 2011, 2005; siehe auch Drüen in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 4 AO Rz 93; Klein/Gersch, AO, 11. Aufl., § 4 Rz 12; Pahlke/Koenig/Pahlke, Abgabenordnung, 2. Aufl., § 4 Rz 55, § 5 Rz 29 ff.).

43
(b) Damit musste das FA die Kläger auffordern, andere Gründe anzuführen, die eine Verfahrensruhe rechtfertigen könnten. Diese Aufforderung ist vor dem Erlass der Einspruchsentscheidung vom 24. November 2005 jedoch nicht erfolgt.

44
(c) Die im BMF-Schreiben genannte „Aufforderung“ umschreibt –wie die Kläger zu Recht meinen– die Pflicht, den betroffenen Steuerpflichtigen anzuhören. Diese Anhörung konnte das FA gemäß § 126 Abs. 1 Nr. 3 AO nachholen und die Nichtbeachtung der Anforderungen des BMF-Schreibens in BStBl I 2005, 794 heilen.

45
Vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Gewährleistung des rechtlichen Gehörs kann eine Heilung des Verfahrensmangels allerdings nur dann möglich sein, wenn der Sinn und Zweck der Anhörung –das Überdenken der Entscheidung anhand der Stellungnahme des Beteiligten– überhaupt noch erreicht werden kann. Das bedeutet, dass auf der einen Seite dem Steuerpflichtigen ausreichend Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt werden muss und dass auf der anderen Seite die Finanzbehörde die Ergebnisse der nachgeholten Anhörung nicht lediglich zur Kenntnis nehmen darf, sondern auch bereit sein muss, die bisherige Entscheidung kritisch zu überdenken (so zu Recht Rozek in HHSp, § 126 AO Rz 41 f.; ebenso Seer in Tipke/Kruse, a.a.O., § 126 AO Rz 7). Nach § 126 Abs. 2 AO kann die Anhörung bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz eines finanzgerichtlichen Verfahrens nachgeholt werden.

46
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist im Streitfall eine ausreichende nachträgliche Anhörung darin zu sehen, dass die Kläger ihre Einwendungen gegen die Einspruchsentscheidung in ihrem Antrag auf Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 19. Dezember 2005 geltend machen konnten und sie zudem die Möglichkeit hatten, ihren Standpunkt am 28. und 29. November 2005 in zwei Telefonaten ihres Prozessbevollmächtigten mit dem FA zu verdeutlichen. Die ausführliche Stellungnahme des FA vom 2. Januar 2006 zeigt, dass es sich noch vor Beginn des finanzgerichtlichen Verfahrens mit den Argumenten der Kläger gegen die Fortführung des Verfahrens inhaltlich intensiv auseinandergesetzt und dies den Klägern mitgeteilt hat – wenn auch nicht mit dem von den Klägern angestrebten Ergebnis.

47
bb) Die in der Einspruchsentscheidung vom 24. November 2005 enthaltene vorläufige Steuerfestsetzung hinsichtlich des pauschalen Werbungskostenabzugs in Höhe der steuerfreien Abgeordnetenpauschale war rechtmäßig und führte zum Ende der Verfahrensruhe.

48
(1) Die Vorläufigkeit konnte gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO angeordnet werden. Eine solche Anordnung steht im Ermessen der Finanzbehörde (BFH-Urteile vom 26. Oktober 1988 I R 189/84, BFHE 155, 8, BStBl II 1989, 130, und vom 7. Februar 1992 III R 61/91, BFHE 167, 279, BStBl II 1992, 592). Ermessensausübungsfehler sind nicht erkennbar.

49
(2) Die Anordnung der Vorläufigkeit stand im Einklang mit § 363 Abs. 2 Satz 2 AO.

50
(a) Zwar enthält § 363 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 AO die Formulierung „wurde“. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die vorläufige Festsetzung dem Einspruch vorangegangen sein muss. Auch untersagt die bis dahin bestehende Verfahrensruhe nicht den Erlass eines durch Aufnahme des Vorläufigkeitsvermerks geänderten Bescheids, da § 363 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 AO zum Ausdruck bringt, dass der Vorläufigkeitsvermerk die Verfahrensruhe ersetzen kann.

51
(b) Die durch vorläufige Festsetzung geänderten Bescheide entsprachen auch den tatbestandlichen Anforderungen des § 363 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 AO. Sie reichten so weit wie die Verfahrensruhe. Sie betrafen dieselbe Rechtsfrage wie das Bezugsverfahren und eröffneten insoweit dieselben Änderungsmöglichkeiten wie die Verfahrensruhe, hielten die Steuerbescheide also hinsichtlich dieser Frage in demselben Umfange offen.

52
Zwar erfasst ein Vorläufigkeitsvermerk nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO lediglich die Vereinbarkeit eines Steuergesetzes mit höherrangigem Recht, nicht aber einfachgesetzliche Rechtsfragen. § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AO ist erst seit dem 1. Januar 2009 in Kraft, so dass trotz Vorläufigkeitsvermerks eine auf Fragen einfachen Rechts gestützte Verfahrensruhe fortgedauert hätte (Birkenfeld in HHSp, § 363 AO Rz 213). Dies spielt im Streitfall jedoch keine Rolle, da die von den Klägern für geboten erachtete verfassungskonforme Auslegung eine Frage der Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht ist (so BFH-Urteil vom 30. September 2010 III R 39/08, BFHE 231, 7, BStBl II 2011, 11, unter B.II.2.a).

53
(3) Die Änderung der Steuerbescheide durch Aufnahme der Vorläufigkeitsvermerke war verfahrensrechtlich als Teilabhilfe im Einspruchsverfahren nach § 367 Abs. 2 Satz 1 AO zulässig.

54
(a) Zu einer Vollabhilfe konnte es im Einspruchsverfahren –im Gegensatz zu den Überlegungen der Kläger– nicht kommen, da das FA in der Einspruchsentscheidung u.a. die Auffassung der Kläger, die Kürzung des Vorwegabzugs gemäß § 10 Abs. 3 Nr. 2 Satz 2 Buchst. a EStG sei bei Arbeitnehmern rechtswidrig, zurückgewiesen hat.

55
(b) Einer vorherigen Anhörung der Kläger gemäß § 367 Abs. 2 Satz 2 AO bedurfte es nicht. Zwar unterläuft dem FA ein wesentlicher Verfahrensmangel, wenn es eine verbösernde Einspruchsentscheidung ohne Hinweis auf die Verböserungsmöglichkeit erlässt (BFH-Urteile vom 4. September 1959 III 286/57 U, BFHE 69, 569, BStBl III 1959, 472; vom 1. Dezember 1961 VI 264/61 U, BFHE 74, 371, BStBl III 1962, 140). Die Gerichte haben den Betroffenen dann so zu stellen, dass er durch das unrechtmäßige Verhalten keinen Schaden erleidet (ständige Rechtsprechung, vgl. BFH-Beschluss vom 14. Juli 2004 IX B 102/03, BFH/NV 2004, 1514, m.w.N.). Die Aufnahme der Vorläufigkeitsvermerke stellte jedoch keine Verböserung dar. Im Gegensatz zur Auffassung der Kläger werden ihre Rechtsposition und ihre Rechtsschutzmöglichkeiten nicht beeinträchtigt.

56
(aa) Bei isolierter Betrachtung führten die Vorläufigkeitsvermerke lediglich zu den Änderungsmöglichkeiten nach § 165 Abs. 2 Satz 1 AO, die sich unter den konkreten Umständen nur zu Gunsten der Kläger auswirken konnten. Allerdings kann auch die Verschlechterung der verfahrensrechtlichen Stellung des Steuerpflichtigen eine Verböserung i.S. von § 367 Abs. 2 Satz 2 AO darstellen (vgl. BFH-Urteil vom 9. Dezember 2009 II R 39/07, BFH/NV 2010, 821, unter II.2.b, m.w.N.). Die vorläufigen Festsetzungen beendeten gemäß § 363 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 AO die durch das Bezugsverfahren VI R 63/04 begründete Verfahrensruhe. Damit verschlechterte sich aber nur die „verfahrenstaktische“, nicht jedoch die verfahrensrechtliche Position der Kläger.

57
(bb) Die vorläufige Festsetzung führt zwar zur Beendigung der Verfahrensruhe und erlaubt es der Finanzverwaltung, das Einspruchsverfahren abzuschließen, so dass die Möglichkeit, gemäß § 361 Abs. 2 AO AdV zu beantragen, entfällt.

58
Dies stellt jedoch keinen verfahrensrechtlichen Nachteil dar, da dem Steuerpflichtigen ein vergleichbarer Rechtsschutz in Gestalt der Aussetzung der Festsetzung nach § 165 Abs. 1 Satz 4 AO zur Verfügung steht. Nach dieser Vorschrift kann unter den Voraussetzungen der Sätze 1 und 2 die Steuerfestsetzung auch gegen oder ohne Sicherheitsleistung ausgesetzt werden. Damit ist die vorläufige Freistellung von der Steuer nach § 155 Abs. 1 Satz 3 AO, mithin die vorläufige Nichtfestsetzung der Steuer gemeint (Schuster in HHSp, § 155 AO Rz 26; Heuermann in HHSp, § 165 AO Rz 20 ff.; Pahlke/Koenig/Cöster, a.a.O., § 165 Rz 39; dem Grunde nach wohl ebenso Seer in Tipke/Kruse, a.a.O., § 165 AO Rz 23). Sie stellt den Steuerpflichtigen formell und materiell nicht schlechter als die AdV – unabhängig davon, ob es sich bei der AdV um eine Aussetzung oder Aufhebung der Vollziehung handelt.

59
Die Aussetzung der Festsetzung gemäß § 165 Abs. 1 Satz 4 AO ist eine Ermessensentscheidung des FA. Sie kann sich grundsätzlich auf alle Vorläufigkeitsgründe des § 165 Abs. 1 AO beziehen, wie sich aus § 165 Abs. 1 Satz 4 AO ergibt. Bei einer Aussetzung der Festsetzung in den Fällen des § 165 Abs. 1 Nrn. 2 und 3 AO ist jedoch –ebenso wie bei der AdV (siehe dazu auch BFH-Beschluss vom 1. April 2010 II B 168/09, BFHE 228, 149, BStBl II 2010, 558, m.w.N.)– zu beachten, dass sie nur bei Vorliegen eines (besonderen) berechtigten Aussetzungsinteresses des Steuerpflichtigen zu gewähren ist. Wie die AdV kann die vorläufige Aussetzung der Festsetzung den Steueranspruch ganz oder teilweise umfassen und damit ebenso differenziert nach Streitpunkten ausgesprochen werden. Dies ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 3 AO, wonach eine Freistellung ausdrücklich ganz oder teilweise erfolgen kann.

60
Nachteilige Zinsfolgen der Aussetzung der Festsetzung gegenüber der AdV sind ebenfalls nicht erkennbar. Eine etwaige Verzinsung nach § 233a AO übersteigt die Verzinsung nach § 237 AO nicht. Schließlich spricht nichts dagegen, ebenso wie bei der AdV eine Aussetzung der Festsetzung nachträglich auszusprechen.

61
(cc) Die Annahme der Kläger, ein Vorläufigkeitsvermerk beziehe sich nicht auf neu anhängig werdende Verfahren zu derselben Rechtsfrage, trifft nicht zu. Er bezieht sich vielmehr, wenn es nicht ausdrücklich anders formuliert ist, auch auf später anhängig werdende Verfahren und geht insoweit über die Reichweite der Verfahrensruhe noch hinaus. Der Senat nimmt zur weiteren Begründung Bezug auf das BFH-Urteil in BFHE 231, 7, BStBl II 2011, 11 (unter B.II.1.b) und schließt sich den dortigen Ausführungen einschließlich der Abgrenzung zu dem Senatsurteil vom 31. Mai 2006 X R 9/05 (BFHE 213, 199, BStBl II 2006, 858) an.

62
(dd) Die Kläger sind ebenfalls nicht gehindert, ihren Rechtsstreit selbst zu Ende zu führen. Endet ein Bezugsverfahren nicht im Sinne des Steuerpflichtigen oder ohne Sachentscheidung, so dass die Vorläufigkeit ins Leere geht, so kann er anschließend den Streit in der Sache selbst fortsetzen (vgl. BFH-Urteil in BFHE 231, 7, BStBl II 2011, 11, unter B.II.2.d, m.w.N.).

63
(ee) Soweit die Kläger schließlich meinen, der Nachteil liege darin, dass sie ihren Einspruch nicht mehr um weitere Gründe ergänzen könnten, liegt darin keine Verböserung i.S. des § 367 Abs. 2 Satz 2 AO. Gegen diese Änderung der Verfahrenslage besitzen sie kein Abwehrrecht, weil sie nicht in ihren subjektiven Rechten verletzt werden. Art. 19 Abs. 4 GG verpflichtet nicht dazu, Einspruchsverfahren möglichst lange offenhalten zu können, damit der Steuerpflichtige an künftigen Änderungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu derzeit nicht streitigen Rechtsfragen teilhaben kann (ständige BFH-Rechtsprechung, z.B. Urteile vom 6. Oktober 1995 III R 52/90, BFHE 178, 559, BStBl II 1996, 20; in BFHE 215, 1, BStBl II 2007, 222, unter II.6.; Beschluss vom 6. Juli 1999 IV B 14/99, BFH/NV 1999, 1587). Auch § 363 Abs. 2 Satz 2 AO dient nicht diesem Zweck (vgl. Senatsurteil in BFHE 215, 1, BStBl II 2007, 222, unter II.4.).

64
Der Beschluss des Großen Senats des BFH in BFHE 159, 4, BStBl II 1990, 327 steht dem nicht entgegen, da sich der Große Senat in dieser Entscheidung nicht zu der streitrelevanten Frage des möglichen Offenhaltens eines Einspruchsverfahrens geäußert, sondern vielmehr erläutert hat, dass es zulässig sei, eine Anfechtungsklage nach Ablauf der Klagefrist zu erweitern, sofern nicht bereits eine –im Einkommensteuerrecht regelmäßig nicht anzunehmende– Teilbestandskraft eingetreten sei.

65
(4) Aus den vorstehend dargestellten Gründen bestehen nach Auffassung des erkennenden Senats die von den Klägern durch die Übernahme der Begründung der Verfassungsbeschwerde 1 BvR 1359/11 gerügten Rechtsschutzlücken nicht. Eine Richtervorlage gemäß Art. 100 GG kommt nicht in Betracht.

66
cc) Durch die Einspruchsentscheidung vom 24. November 2005 selbst werden die Kläger ebenfalls nicht in ihren Rechten verletzt.

67
(1) Wird die Bekanntgabe der vorläufigen Festsetzung mit der Bekanntgabe der die vorherige Beendigung der Verfahrensruhe voraussetzenden Einspruchsentscheidung verbunden, so genügt es zur Erfüllung der Voraussetzungen des § 363 Abs. 2 Satz 2 AO, wenn erstere der Einspruchsentscheidung unmittelbar vorangeht. Für eine längere Zwischenfrist besteht keine Notwendigkeit.

68
(2) Erforderlich ist jedoch, dass die Finanzbehörde, wenn sie dem Steuerpflichtigen die Fortsetzung eines ruhenden Einspruchsverfahrens nach § 363 Abs. 2 Satz 4 AO mitteilt, den Beteiligten vor Erlass einer Einspruchsentscheidung Gelegenheit gibt, sich erneut zu äußern (Ziffer 3 Satz 1 AEAO zu § 363 AO, AO-Kartei NW § 363 AO Karte 1). Dieses hat das FA im Streitfall unterlassen.

69
Die unterbliebene Anhörung konnte aber –ebenso wie die durch das BMF-Schreiben in BStBl I 2005, 794 geforderte und ebenfalls unterbliebene Aufforderung– gemäß § 126 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. Abs. 2 AO rechtzeitig vor Abschluss des Verwaltungsverfahrens nachgeholt werden. Die Gelegenheit zur Äußerung im Rahmen des Antrags der Kläger auf Aufhebung der Einspruchsentscheidung gemäß § 172 Abs. 1 Satz 2 AO vom 19. Dezember 2005, die beiden Telefonate des Prozessvertreters der Kläger mit dem FA im November 2005 sowie die ausführliche Stellungnahme des FA vom 2. Januar 2006 haben den Verfahrensfehler geheilt (vgl. dazu oben B.II.2.b.aa(3)(c)).

70
3. Der Hilfsantrag, die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung in voller Höhe, ggf. auch im Wege des negativen Progressionsvorbehalts zu berücksichtigen, ist unbegründet.

71
Der erkennende Senat hat in seinem Urteil in BFHE 236, 69, BStBl II 2012, 325 entschieden, der Gesetzgeber sei verfassungsrechtlich nicht verpflichtet gewesen, Beiträge an die Bundesanstalt für Arbeit (heute: Beiträge zu Versicherungen gegen Arbeitslosigkeit) einkommensteuerlich in vollem Umfang und nicht nur in dem durch § 10 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a i.V.m. Abs. 3 EStG vorgegebenen Rahmen zum Abzug zuzulassen. Dabei hat sich der Senat auf die Rechtsprechung des BVerfG gestützt, in der eine verfassungsrechtliche Pflicht, unter dem Gesichtspunkt der „Zwangsläufigkeit“ Ausgaben bis zur Höhe der Pflichtsozialversicherungsbeiträge zum Abzug von der einkommensteuerlichen Bemessungsgrundlage zuzulassen, ausdrücklich verneint wird, da das Prinzip der Steuerfreiheit des Existenzminimums dem Steuerpflichtigen lediglich den Schutz des Lebensstandards auf Sozialhilfeniveau gewährleistet, nicht aber auf dem Niveau, das durch die Leistungen der gesetzlichen Sozialversicherung erreicht werden kann. Auch eine steuerliche Berücksichtigung der Beiträge an die Bundesanstalt für Arbeit im Wege des negativen Progressionsvorbehalts gemäß § 32b EStG wurde vom Senat abgelehnt, da in § 32b Abs. 1 Nrn. 2 und 3 EStG (heute § 32b Abs. 1 Satz 1 Nrn. 2 bis 5 EStG) ausdrücklich der Begriff der „Einkünfte“ verwendet wird, auf deren Höhe sich Sonderausgaben gemäß § 2 Abs. 4 EStG nicht auswirken. Die Beiträge an die Bundesanstalt für Arbeit stellen nach Auffassung des erkennenden Senats keine Werbungskosten dar, da der Gesetzgeber die Vorsorgeaufwendungen mit konstitutiver Wirkung –und Vorrang gegenüber der allgemeinen Regelung des Einleitungssatzes des § 10 Abs. 1 EStG– den Sonderausgaben zugewiesen und ihren Abzug nur in den Grenzen der in § 10 Abs. 3 EStG bestimmten Höchstbeträge zugelassen hat.

72
In der Verfassungsbeschwerde 2 BvR 598/12 wird zwar die Auffassung vertreten, der gebotene verfassungsrechtlich abgesicherte Anspruch auf steuerliche Berücksichtigung der Beiträge zur Bundesanstalt für Arbeit als pflichtbestimmter, indisonibler Aufwand folge aus der verfassungskonformen Beachtung und Berücksichtigung des objektiven und subjektiven Nettoprinzips. Hilfsweise seien die Beiträge bei der Ermittlung des besonderen Steuersatzes gemäß § 32b Abs. 1 Nr. 1 EStG als vorweggenommene Werbungskosten zu berücksichtigen, was der folgerichtigen und gebotenen Umsetzung der Systematik der Einkommensteuer entspreche.

73
Mit sämtlichen Argumenten hat sich der Senat bereits in seinem Urteil in BFHE 236, 69, BStBl II 2012, 325 auseinandergesetzt, die Verfassungsmäßigkeit der nur eingeschränkten steuerlichen Berücksichtigung der Beiträge indes bejaht (vgl. dazu auch FG Hamburg, Urteil vom 21. September 2012 3 K 144/11, EFG 2013, 26 zu § 10 Abs. 4 EStG in der Fassung des Bürgerentlastungsgesetzes Krankenversicherung). Insofern wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Urteilsbegründung in BFHE 236, 69, BStBl II 2012, 325 (unter II.2.a und b) verwiesen.

74
Eine –behauptete– Verletzung des durch Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verfassungsrechtlich garantierten Rechts auf den gesetzlichen Richter ist ebenfalls nicht erkennbar; auch insoweit wird auf die Begründung des Senatsurteils in BFHE 236, 69, BStBl II 2012, 325 (unter II.2.a cc) Bezug genommen.

III.
75
Trotz der beim BVerfG anhängigen Verfassungsbeschwerden 1 BvR 1359/11 sowie 2 BvR 598/12 war der erkennende Senat nicht verpflichtet, das Verfahren in analoger Anwendung des § 74 FGO auszusetzen.

76
1. Nach § 74 FGO kann das Gericht die Aussetzung des Verfahrens u.a. dann anordnen, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet. Die Entscheidung über die Aussetzung des Verfahrens ist eine Ermessensentscheidung des Gerichts, bei der insbesondere prozessökonomische Gesichtspunkte und die Interessen der Beteiligten abzuwägen sind (ständige Rechtsprechung des BFH, siehe u.a. Beschluss vom 4. April 2003 V B 199/02, BFH/NV 2003, 1081, m.w.N.). Eine Aussetzung des Verfahrens entsprechend § 74 FGO kann dann geboten sein, wenn vor dem BVerfG bereits ein nicht als aussichtslos erscheinendes Musterverfahren gegen eine im Streitfall anzuwendende Norm anhängig ist, zahlreiche Parallelverfahren vorliegen und keiner der Verfahrensbeteiligten ein besonderes berechtigtes Interesse an einer Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der umstrittenen gesetzlichen Regelung trotz des beim BVerfG anhängigen Verfahrens hat (ständige Rechtsprechung des BFH, u.a. Beschlüsse vom 9. Juni 2010 II B 154/09, BFH/NV 2010, 1652, und vom 1. August 2012 IV R 55/11, BFH/NV 2012, 1826, m.w.N.). Sind die oben genannten Voraussetzungen erfüllt, ist im Regelfall das Ermessen auf Null reduziert und das Verfahren auszusetzen. Dennoch bleibt die Aussetzung bei einem anhängigen Musterverfahren eine einzelfallbezogene Ermessensentscheidung (so zu Recht Brandis in Tipke/Kruse, a.a.O., § 74 FGO Rz 14).

77
2. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist es ermessensgerecht, das Verfahren nicht auszusetzen.

78
a) Der erkennende Senat teilt ausdrücklich nicht die Auffassung der Kläger, ein Revisionskläger könne ohne jegliche Einschränkungen bestimmen, ob er sein Verfahren selbst fortführen oder den Ausgang eines vorgreiflichen Verfahrens abwarten will. Zwar hat der BFH entschieden, es gehöre zum Recht individueller Prozessführung eines Bürgers, dass sein Verfahren zum vorübergehenden Stillstand gebracht werde, wenn bereits Prozesse anhängig seien; dies gelte jedenfalls dann, wenn das Begehren auf Ruhen oder Aussetzung des Verfahrens nicht von sachwidrigen Motiven getragen sei (Urteil vom 29. April 2003 VI R 140/90, BFHE 202, 49, BStBl II 2003, 719, und Senatsbeschluss in BFH/NV 2007, 1693). Diese Erwägungen sind jedoch im Rahmen von Kostenentscheidungen ergangen und können nicht dergestalt verallgemeinert werden, dass ein Kläger jederzeit Anspruch auf vorübergehenden Stillstand seines Verfahrens hat. Sie stünden ansonsten im Widerspruch zu den Vorschriften zum Ruhen des Verfahrens, das von der Zustimmung beider Parteien abhängig ist (vgl. § 251 der Zivilprozessordnung), zur Klage- oder Revisionsrücknahme, die nach einer mündlichen Verhandlung oder dem Ergehen eines Gerichtsbescheids nur mit Einwilligung des Prozessgegners möglich ist (§ 72 Abs. 1 Satz 2 FGO, § 125 Abs. 1 Satz 2 FGO) sowie in Bezug auf die Aussetzung des Verfahrens gemäß § 74 FGO, die grundsätzlich im Ermessen des Gerichts steht.

79
b) Bei der Abwägung der jeweiligen Interessenlagen ist nicht zu verkennen, dass die Kläger ein begründetes Interesse an der Aussetzung des Verfahrens haben. Sollte nämlich das BVerfG in der Verfassungsbeschwerde 1 BvR 1359/11 zum Ergebnis kommen, der BFH habe in seinem Urteil in BFHE 231, 7, BStBl II 2011, 11 mit § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO eine verfassungswidrige Vorschrift angewandt bzw. sie sei von ihm nicht verfassungskonform ausgelegt worden, wäre dies auch im Streitfall zu berücksichtigen.

80
Dem steht aber das Interesse des FA gegenüber, das Verfahren zügig zu beenden und Rechtssicherheit u.a. in Bezug auf die Rechtsfrage zu erhalten, ob das FA die durch die Berufung auf ein präjudizielles Verfahren bewirkte Verfahrensruhe im Einspruchsverfahren durch einen Vorläufigkeitsvermerk derselben Reichweite beenden kann.

81
Eine Aussetzung des Verfahrens ist indes bereits deswegen nicht zwingend, weil für den Senat nicht erkennbar ist, dass zahlreiche Parallelfälle existieren. Bislang sind lediglich die beiden oben genannten Verfahren vor dem BVerfG anhängig. Zusätzlich sind vor dem BFH Revisionsverfahren eines Ehepaares anhängig, die u.a. die Verfassungsmäßigkeit sowohl des Zusammenwirkens der Vorschriften der gesetzlichen Zwangsruhe gemäß § 363 Abs. 2 Satz 2 AO mit der vorläufigen Steuerfestsetzung gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO als auch der eingeschränkten steuerlichen Berücksichtigung der Beiträge zur Bundesanstalt für Arbeit zum Gegenstand haben. Diese Verfahren wurden jedoch mit Zustimmung aller Beteiligten zum Ruhen gebracht.

82
c) Hinzu kommt ein weiterer Aspekt, der gegen die Aussetzung des Verfahrens spricht: Das mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene BFH-Urteil in BFHE 231, 7, BStBl II 2011, 11 bezieht sich vor allem auf die Verfassungsmäßigkeit eines Vorläufigkeitsvermerks nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO. Im Streitfall sind hingegen die Voraussetzungen für den Eintritt sowie die Beendigung der Zwangsruhe gemäß § 363 Abs. 2 AO durch eine vorläufige Steuerfestsetzung sowie die Rechtmäßigkeit der durch den Vorläufigkeitsvermerk eingetretenen Änderung der Steuerbescheide streitig. Es ist daher sinnvoll, das Verfahren nicht auszusetzen, sondern erneut –diesmal schwerpunktmäßig zu einem anderen Teilbereich– zu entscheiden.

Körperschaftsteuerpflicht von kommunalen Kindertageseinrichtungen

Die Bundesregierung sieht sich in einem Urteil des Bundesfinanzhofs zur Körperschaftsteuerpflicht von kommunalen Kindertageseinrichtungen bestätigt (Urteil vom 12.07.2012, Az. I R 106/10).

Im Übrigen könne laut Körperschaftsteuerrichtlinien die Festsetzung einer Steuer unterbleiben, wenn die Kosten der Einziehung der Steuer einschließlich der Festsetzung außer Verhältnis zu dem festzusetzenden Betrag stehen, heißt es in der Antwort der Regierung (17/12985) auf eine Kleine Anfrage der SPD-Fraktion (17/12897).

Quelle: Deutscher Bundestag

Bekämpfung von Steuerhinterziehung

EU-Kommission richtet Plattform für verantwortungsvolles Handeln im Steuerwesen ein

Im Zuge ihres konzertierten Vorgehens gegen Steuerbetrug und Steuerhinterziehung hat die Kommission heute die neue Plattform für verantwortungsvolles Handeln im Steuerwesen eingerichtet. Diese Plattform soll die Fortschritte der Mitgliedstaaten beim Vorgehen gegen aggressive Steuerplanung und Steueroasen entsprechend der Empfehlungen (siehe IP/12/1325) überwachen, die die Kommission im vergangenen Jahr vorgelegt hat. Damit soll gewährleistet werden, dass die Mitgliedstaaten in einem koordinierten EU-Rahmen wirksame Maßnahmen ergreifen. Die Plattform wird sich aus einem breiten Spektrum von Interessenträgern – nationale Steuerbehörden, Europäisches Parlament, Unternehmen, wissenschaftliche Kreise, NRO und andere Beteiligte – zusammensetzen. Sie soll auch den Dialog und den Austausch von Fachwissen vereinfachen, was zu einem besser koordinierten und wirksameren Vorgehen der EU gegen Steuerbetrug und Steuerhinterziehung führen kann.

Algirdas Šemeta, für Steuern, Zoll, Statistik, Audit und Betrugsbekämpfung zuständiges Mitglied der Europäischen Kommission, erklärte: „Wenn wir gegen Steuerhinterziehung vorgehen, kämpfen wir für die Gerechtigkeit unserer Steuersysteme, die Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaften und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten. Es steht so viel auf dem Spiel, dass dieser Kampf nicht verlorengehen darf. Der neue Einsatz der Mitgliedstaaten ist sehr zu begrüßen und muss jetzt in Maßnahmen umgesetzt werden. Die Plattform, die ich heute einrichten werde, wird einen Beitrag leisten. Sie wird gewährleisten, dass bei der Bekämpfung von Steuerhinterziehung die Ergebnisse den Erwartungen gerecht werden.“

Die Plattform für verantwortungsvolles Handeln im Steuerwesen ist eine Initiative des Aktionsplans der Kommission vom Dezember 2012 zur Bekämpfung von Steuerhinterziehung (siehe MEMO/12/949). Sie wird sich aus rund 45 Mitgliedern zusammensetzen – jeweils einem hochrangigen Vertreter der Steuerverwaltungen der Mitgliedstaaten und bis zu 15 anderen Vertretern. Letztere werden anhand eines offenen Bewerbungsverfahrens von der Kommission ernannt. Die Aufforderung für Bewerbungen zur Auswahl der teilnehmenden Organisationen ist heute ebenfalls ergangen. Die Organisationen werden für eine dreijährige Mandatsperiode ausgewählt, die durch eine weitere erfolgreiche Bewerbung nach Ablauf dieses Zeitraums verlängert werden kann.

Hintergrund

Die Plattform wird insbesondere die Fortschritte bei zwei Empfehlungen des Aktionsplans verfolgen.

Die erste Empfehlung beinhaltet eine entschiedene Haltung der EU gegenüber Steueroasen, die über die derzeitigen internationalen Maßnahmen hinausgeht. Den Mitgliedstaaten werden einheitliche Kriterien an die Hand gegeben, um Steueroasen zu erkennen, so dass sie diese auf nationale schwarze Listen setzen können.

Die zweite Empfehlung betrifft die aggressive Steuerplanung. Sie führt aus, wie verhindert werden kann, dass Unternehmen Wege finden, um ihrer Steuerpflicht nicht in vollem Umfang nachzukommen. Es wird vorgeschlagen, die Missbrauchsbekämpfungsvorschriften in Doppelbesteuerungsabkommen, nationalen Rechtsvorschriften und dem Unternehmenssteuerrecht der EU zu verstärken. Künstliche Vorkehrungen, die eingeführt wurden, um eine Besteuerung zu vermeiden, würden außer Acht bleiben, und die Unternehmen würden stattdessen anhand der tatsächlichen wirtschaftlichen Substanz besteuert.

 

 

Gegen Steuerhinterziehung

Für die Bundesregierung zählt der Kampf gegen Steuerhinterziehung und Steueroasen zu den wichtigsten Aufgaben. Erst 2011 hat sie die gesetzlichen Regeln zur strafbefreienden Selbstanzeige deutlich verschärft. Nun arbeitet sie mit Nachdruck an einem verbesserten internationalen Informationsaustausch. Der fehlende Informationsaustausch mit anderen Staaten ist die Hauptursache für eine erfolgreiche Steuerflucht. Für Steuerhinterzieher galten früher vor allem die Staaten und Gebiete als besonders attraktiv, die sich nicht zum steuerlichen Informationsaustausch bereit erklärten.

Gesetzliche Hürden verschärft
Seit 2011 führt die steuerliche Selbstanzeige nur noch dann zur Straffreiheit, wenn Steuerhinterzieher alles offengelegen. Straffreiheit trifft erst ein, wenn die Selbstanzeige umfassend und vollständig ist. So genannte Teilselbstanzeigen sind nicht mehr möglich.

Der Zeitpunkt, bis zu dem eine strafbefreiende Selbstanzeige möglich ist, wurde vorverlegt. In der Vergangenheit war dies bis zum Erscheinen des Steuerprüfers möglich. Nun ist es bereits zu spät, sobald die Prüfungsanordnung bekannt gegeben wurde.

Die strafbefreiende Selbstanzeige ist dabei ein erfolgreiches Instrument zur Bekämpfung von Steuerhinterziehung. Eine vollständige Abschaffung der Selbstanzeige hätte die Ermittlungsmöglichkeiten verringert.

50.000-Euro-Grenze: Für eine Strafbefreiung darf die Steuerhinterziehung grundsätzlich nicht mehr als 50.000 Euro ausmachen. Die Geständigen müssen die nicht gezahlten Steuern fristgerecht plus Zinsen nachzahlen. Wurden mehr als 50.000 Euro Steuern hinterzogen, tritt Straffreiheit nur ein, wenn neben der Steuernachzahlung samt Zinsen eine Zusatzleistung von 5 Prozent geleistet wird.

Steuerabkommen mit der Schweiz wäre richtig
Die Bundesregierung ist weiter davon überzeugt, dass das deutsch-schweizerische Steuerabkommen richtig gewesen wäre: „Wir brauchen ein solches Steuerabkommen mit der Schweiz, so wie es die Schweiz auch mit anderen Ländern geschlossen hat. Alles spricht für diese systematische, lückenlose Lösung, und eines Tages wird ein solches Abkommen auch kommen“, bekräftigte Regierungssprecher Steffen Seibert.

Das von der Bundesregierung mit der Schweiz ausgehandelte Steuerabkommen hätte gewährleistet, dass alle Steuerpflichtigen ihren Anteil für die Vergangenheit und für die Zukunft hätten leisten müssen. Da es nicht zustande gekommen ist, verjähren für die Vergangenheit jedes Jahr hunderte Millionen Euro an Steuerforderungen.

Auch für die Zukunft ist nicht gesichert, dass alle ihren fairen Anteil an der Steuerlast tragen – unabhängig davon, ob sie Konten in der Schweiz oder in Deutschland haben. Das Abkommen hätte zudem sichergestellt, dass die Steuerbehörden mit sehr einfachen, stichprobenartigen Abfragen feststellen könnten, wer noch ein Konto in der Schweiz hat.

Informationsaustausch verbessern
Die Bundesregierung geht das Thema „Steueroasen“ offensiv an. Erfolgreich kann man das Problem aber nur im internationalen Verbund lösen. Mittlerweile haben sich nahezu alle Staaten mit relevanten Finanzzentren zum steuerlichen Informationsaustausch verpflichtet.

Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hat gemeinsam mit seinen Kollegen aus den USA, Großbritannien und Frankreich im Rahmen der G20 die so genannte BEPS-Initiative gestartet, mit der sie den Trend zu Gewinnverlagerungen von Unternehmen in Steueroasen stoppen wollen.

Deutschland hat sich stets für mehr Transparenz und einen verbesserten Informationsaustausch für Steuerzwecke – sowohl mit einzelnen Staaten als auch international – stark gemacht. So hat die Bundesrepublik die Chance genutzt und mit vielen Staaten entsprechende Informationsaustauschabkommen geschlossen. Diese Abkommen ermöglichen Informationen, wenn den Finanzbehörden bereits Anhaltspunkte vorliegen, dass Steuerpflichtige ihre Einkünfte oder Vermögenswerte ins Ausland verlagert haben könnten.

Nur noch wenige Ausnahmeregelungen
Besser ist es natürlich, wenn die Finanzverwaltungen die Informationen über verlagerte Einkünfte und Vermögen ohne konkrete Anfrage erhalten. Es können sich grundsätzlich alle EU-Mitgliedstaaten automatisch gegenseitig über Zinseinkünfte informieren. Allerdings machen zur Zeit noch Österreich und Luxemburg von Ausnahmeregelungen Gebrauch. Aufgrund des internationalen Drucks hat sich Luxemburg inzwischen bereit erklärt, ab 2015 zum automatischen Informationsaustausch überzugehen.

Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und Spanien haben inzwischen erklärt, den gegenseitigen Informationsaustausch auch auf Dividenden und Wertpapierverkaufserlöse auszudehnen.

Quelle: Bundesregierung

Niedersachsen stellt im Bundesrat Entschließungsantrag gegen Steuerbetrug

Die niedersächsische Landesregierung hat auf Vorschlag von Finanzminister Peter-Jürgen Schneider beschlossen, in der nächsten Bundesratssitzung gemeinsam mit den Ländern Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz einen Entschließungsantrag zum Thema „Maßnahmen für mehr Steuergerechtigkeit und gegen Steuerbetrug“ einzubringen, um kriminelle Steuerhinterziehung einzudämmen. Der Entschließungsantrag enthält ein Bündel von Maßnahmen um Steuerbetrug wirksam zu verhindern und aufzudecken. Damit soll die Bundesregierung zum verstärkten Handeln veranlasst werden.

Gefordert werden: u.a.:

neue Sanktionsmöglichkeiten gegen Banken, im Einzelfall bis zum Lizenzentzug,
ein effektiverer zwischenstaatlicher Informationsaustausch,
ein Aussetzen und Neuverhandeln von Doppelbesteuerungsabkommen mit Steueroasen
und eine deutliche Verlängerung der Verjährungsfristen für Steuerhinterziehung.

„Der Bundesfinanzminister hat in der laufenden Legislaturperiode außer Ankündigungen wenig gegen dieses massive Problem getan. Dabei zeigen der Skandal um Steueroasen, geheime Offshore-Finanzplätze und die alarmierend hohe Zahl von 40-50.000 Datensätzen auf der jüngst gekauften CD, dass sich immer noch zu viele Steuerhinterzieher in Sicherheit wiegen“, begründete Finanzminister Schneider diesen Schritt.

Nach seriösen Schätzungen entgehen dem Staat jedes Jahr Einnahmen in Milliardenhöhe.

Schneider erklärte dazu: „Wir müssen die Bundesregierung leider zum Handeln treiben. Durch ihre Untätigkeit auf diesem Feld schafft sie wachsenden Unmut bei den Bürgern. Wer Steuern hinterzieht lebt auf Kosten seiner Mitbürger. Wir werden dafür sorgen, dass der Ehrliche nicht länger der Dumme ist.“

Herausgeber: Nds. Finanzministerium

 

Häusliches Arbeitszimmer: Kosten trotz Poolarbeitsplatz abzugsfähig

Im Streitfall begehrte ein Arbeitnehmer den Werbungskostenabzug für sein häusliches Arbeitszimmer. Anhand einer Bescheinigung seiner Dienststelle wies er nach, dass bei seinem Arbeitgeber nur sog. Poolarbeitsplätze – auf acht Arbeitnehmer kommen drei Arbeitsplätze – bereitgehalten werden. Das Finanzamt lehnte den Abzug unter Hinweis darauf ab, dass dem Kläger von seinem Arbeitgeber ein Arbeitsplatz zur Verfügung gestellt werde. Der Kläger müsse sich bescheinigen lassen, dass einem Antrag auf Zuweisung eines vollumfänglich nutzbaren Arbeitsplatzes nicht entsprochen werden könne.

Das Finanzgericht Düsseldorf hat der Klage stattgegeben und darauf hingewiesen, dass dem Kläger in den Streitjahren kein anderer Arbeitsplatz zur Verfügung gestanden habe, so dass der Abzugsauschluss nicht eingreife. Zwar handele es sich bei dem Büroarbeitsplatz in seiner Dienststelle um einen anderen Arbeitsplatz, dieser habe dem Kläger jedoch nicht für sämtliche beruflichen Zwecke zur Verfügung gestanden. Da der Kläger aufgrund der Unterdeckung an Arbeitsplätzen nicht jederzeit auf einen solchen hätte zugreifen können, habe er einen Großteil der im Rahmen seiner Tätigkeit anfallenden vor- und nachbereitenden Arbeiten im häuslichen Arbeitszimmer verrichten müssen. Dies rechtfertige den (beschränkten) Werbungskostenabzug.

Das Finanzgericht Düsseldorf hat die Revision zum Bundesfinanzhof zugelassen.

Die Entscheidung im Volltext: 10 K 822/12 E

Finanzgericht Düsseldorf, 10 K 822/12 E

Datum:23.04.2013Gericht:Finanzgericht DüsseldorfSpruchkörper:10. SenatEntscheidungsart:UrteilAktenzeichen:10 K 822/12 E Tenor:

Der Beklagte wird verpflichtet, unter Änderung des Einkommensteuerbescheides 2009 vom 6. Januar 2011 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 23. Februar 2012 bei den Einkünften des Klägers aus nichtselbständiger Tätigkeit weitere Werbungskosten in Höhe von 1.250,- € zu berücksichtigen.

Der Einkommensteuerbescheid 2010 vom 27. Juni 2011 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 23. Februar 2012 wird dahingehend geändert, dass bei den Einkünften des Klägers aus nichtselbständiger Tätigkeit weitere Werbungskosten in Höhe von 930,- € berücksichtigt werden.

Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.

Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs der Kläger abwenden, soweit nicht die Kläger zuvor Sicherheit in derselben Höhe leisten.

Die Revision wird zugelassen.

1Tatbestand2Die Kläger sind Eheleute, die in den Streitjahren zusammen zur Einkommensteuer veranlagt wurden. Der Kläger erzielt als Betriebsprüfer beim Finanzamt für Groß- und Konzernbetriebsprüfung (nachfolgend: FAfGKBp) Einkünfte aus nichtselbständiger Tätigkeit.  Aufgrund der räumlichen Gegebenheiten in der Dienststelle hatte sich der Kläger vor Jahren ein häusliches Arbeitszimmer eingerichtet.

3Ende 2008 wurde der Standort der Behörde verlegt. Laut einer Bescheinigung der Dienststelle vom 10. Dezember 2010 werden hier Poolarbeitsplätze im Verhältnis von acht Prüfern zu drei Arbeitsplätzen vorgehalten. Die Möglichkeit, per 1. Oktober 2009 aufgrund der zusätzlichen Anmietung eines weiteren Geschosses eine Aufstockung um elf weitere Arbeitsplätze durchzusetzen, wurde nach einer Bescheinigung der Dienststelle vom 8. April 2011 aus organisatorischen und wirtschaftlichen Erwägungen nicht genutzt.

4Im Rahmen der Einkommensteuererklärung 2009 machte der Kläger Aufwendungen in Höhe von 1.146,20 € und im Rahmen der Einkommensteuererklärung 2010 Aufwendungen von 929,06 € für das häusliche Arbeitszimmer als Werbungskosten geltend.

5Mit Einkommensteuerbescheid vom 3. Mai 2010 setzte der Beklagte die Einkommensteuer 2009 auf 6.551,- € fest. Die geltend gemachten Kosten für das Arbeitszimmer berücksichtigte er unter Hinweis darauf, dass das Arbeitszimmer nicht den Mittelpunkt der gesamten beruflichen und betrieblichen Betätigung darstelle, nicht. Der Bescheid erging vorläufig hinsichtlich der Anwendung der Neuregelung zur Abziehbarkeit der Aufwendungen für ein häusliches Arbeitszimmer.

6Mit Schreiben vom 1. Oktober 2010 bat der Kläger unter Verweis auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Juli 2010 um Berichtigung u.a. der Einkommensteuererklärung 2009. Dabei machte der Kläger nunmehr zusätzlich die Kosten für zwei Teppiche in Höhe von insgesamt 204,47 € (zusammen somit: 1.259,86 €) für das Arbeitszimmer geltend.

7Nachdem der Beklagte den Antrag auf Berichtigung mit Bescheid vom 22. November 2010 abgelehnt und den Kläger aufgefordert hatte, eine Wohnflächenberechnung, Nachweise der Aufwendungen und eine Aufstellung der Kosten einzureichen, übermittelte der Kläger mit Schreiben vom 17. Dezember 2010 seine Berechnung der Wohnfläche, auf die Bezug genommen wird. Dabei wies der Kläger u.a. darauf hin, dass das Schlafzimmer im Dachgeschoss aufgrund der beiderseitigen Schrägen nicht zum Wohnraum gehöre und eigentlich nicht in die Wohnflächenberechnung einzubeziehen sei. Das Büro hatte sich der Kläger nach dieser Aufstellung in einem Kellerraum des aus 2 Eigentumswohnungen bestehenden Hauses eingerichtet.

8Ohne die Teppiche kam der Kläger nunmehr zu einem Kostenanteil von 1.055,39 € für das Arbeitszimmer.

9Mit Bescheid vom 6. Januar 2011 lehnte der Beklagte erneut den Antrag auf nachträgliche Berücksichtigung der Arbeitszimmerkosten – diesmal unter Verweis auf das BFH-Urteil vom 7. August 2003 (VI R 17/01, BStBl II 2004, 78) ‑ ab, weil dem Kläger von seinem Arbeitgeber ein Arbeitsplatz zur Verfügung gestellt werde.

10Dagegen legten die Kläger mit Schreiben vom 11. Januar 2011 Einspruch ein und machten geltend, dass der Arbeitnehmer in dem zitierten Urteil jederzeit über einen Arbeitsplatz habe verfügen können. Dies sei bei dem Kläger nicht der Fall.

11Mit Schreiben vom 1. Februar 2011 führte der Beklagte aus, aufgrund des Tätigkeitsbildes als Großbetriebsprüfer sei eine tagtägliche Nutzung eines Arbeitsplatzes außerhalb der zu prüfenden Betriebe nicht erforderlich. Ein Poolarbeitsplatz, welcher mit anderen Großbetriebsprüfern zu teilen sei, sei als ausreichend anzusehen, da die Kollegen den Arbeitsplatz auch nicht tagtäglich aufsuchen müssten. Da dem Kläger nach dem Geschäftsverteilungsplan der Dienststelle ein Zimmer mit fünf weiteren Kollegen zugewiesen sei, werde um Mitteilung gebeten, wieviele Arbeitsplätze in diesem Zimmer vorhanden seien.

12Nachfolgend ergänzte der Beklagte seine Ausführungen wie folgt:

13Sei die Anzahl der vorhandenen Schreibtische geringer als die Anzahl der Prüfer, die sich den Raum teilten, sei maßgebend, ob die Mitarbeiter den zur Verfügung stehenden Raum in dem für sie konkret erforderlichen Umfang nutzen könnten. Dabei sei zu berücksichtigen, dass sich die Mitarbeiter von Prüfungsfinanzämtern überwiegend im Außendienst befinden würden. Teilten sich acht Prüfer gemeinsam einen Raum mit nur drei Schreibtischen, könne nicht ausgeschlossen werden, dass der einzelne Prüfer den Raum nicht für sämtliche erforderlichen Tätigkeiten nutzen könne, weil die vorhandenen Schreibtische bereits von anderen Prüfern besetzt seien. In diesem Fall stehe den acht betroffenen Prüfern kein „anderer Arbeitsplatz“ zur Verfügung, wenn sie auch auf Antrag keinen Arbeitsplatz im Prüfungs- oder einem Festsetzungsfinanzamt gestellt bekommen würden, den sie für sämtliche erforderlichen Tätigkeiten nutzen könnten.

14Aus den bisher vorgelegten Bescheinigungen gehe nicht hervor, dass dem Kläger auch auf Antrag kein entsprechender Arbeitsplatz habe zur Verfügung gestellt werden können.

15Mit Schreiben vom 10. November 2011 forderte der Beklagte die Beibringung einer Bescheinigung, die konkret wiedergebe, dass ein Antrag des Klägers auf eine feste räumliche Zuweisung im Dienstgebäude gestellt und abgelehnt worden sei.

16Dem entgegneten die Kläger, der Kläger sei in einem Prüfungsfinanzamt mit ca. 120 Prüfern tätig. Schätzungsweise 60-80 Prüfer hätten keinen Arbeitsplatz in der Dienststelle bei höchstens 11 möglichen Arbeitsplätzen. In diesen 11 Arbeitsplätzen seien aber schon die Arbeitsplätze für Prüfungen an Amtsstelle enthalten. Aus diesen tatsächlichen Gegebenheiten habe sich schon kein Grund ergeben, einen Arbeitsplatz in der Dienststelle zu beantragen. Dies sei für die Anerkennung der Aufwendungen auch nicht Voraussetzung.

17Mit Einkommensteuerbescheid vom 6. Juni 2011 setzte der Beklagte die Einkommensteuer 2010 – wiederum ohne Berücksichtigung der geltend gemachten Aufwendungen für das Arbeitszimmer ‑ auf 6.587,- € fest.

18Dagegen legten die Kläger mit Schreiben vom 7. Juni 2011 Einspruch ein. Unter dem 27. Juni 2011 erging für 2010 ein aus hier nicht mehr streitigen Gründen geänderter Einkommensteuerbescheid.

19Mit Einspruchsentscheidung vom 23. Februar 2012 wies der Beklagte die Einsprüche der Kläger als unbegründet zurück.

20Zur Begründung machte er geltend, die Feststellung, dass kein anderer Arbeitsplatz im Sinne von § 9 Abs. 5 i.V.m. § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6 Buchst. b Satz 2 und 3 EStG i.d.F. des JStG 2010 zur Verfügung stehe, sei u.a. an die Voraussetzung geknüpft, dass der Dienstherr auch auf Antrag keinen Arbeitsplatz schaffen könne. Das vergebliche Bemühen um eine feste räumliche Zuweisung im Dienstgebäude sei durch Negativbescheid zu belegen. Der Kläger habe weder in der Vergangenheit, noch aktuell mit Indizwirkung für die Streitjahre einen Antrag auf feste räumliche Zuweisung im Dienstgebäude gestellt.

21Was die Durchsetzung der von ihm in Anspruch genommenen Steuervergünstigungsvorschrift angehe, vermöge die von ihm prognostizierte Erfolglosigkeit jedoch nicht von der Sinnhaftigkeit des Antragsverfahrens abzulenken und von seiner Durchführung zu entlasten. Nur so sei gewährleistet, dass Aussagen zu den Unterbringungsmöglichkeiten eine am jeweiligen Einzelfall orientierte Prüfung zugrunde liege. Diese Notwendigkeit belegten auch die Angaben zu dem im Streitfall maßgebenden Sachverhalt. Sie dokumentierten, dass individuelle Lösungen bei Nachfrage nicht vollkommen ausgeschlossen seien. Ob die Bescheinigung vom 8. April 2011 mangelndes Interesse derer dokumentiere, die über ein häusliches Arbeitszimmer verfügten, sei nicht eindeutig ablesbar, aber denkbar.

22Mit der am 1. März 2012 erhobenen Klage verfolgen die Kläger ihr Begehren weiter.

23Ergänzend machen sie geltend, laut Ziffer VI 15 des Erlasses des Bundesministeriums der Finanzen an die obersten Finanzbehörden der Länder vom 2. März 2011 über die einkommensteuerliche Behandlung der Aufwendungen für ein häusliches Arbeitszimmer entfalle die Erforderlichkeit des häuslichen Arbeitszimmers nur dann, wenn ein Arbeitsplatz zur Verfügung stehe, der so beschaffen sei, dass der Steuerpflichtige auf das häusliche Arbeitszimmer nicht angewiesen sei.

24Nach Ziffer VI 18 werde lediglich das konkrete Darlegen des Nicht-zur-Verfügung-Stehens eines anderen Arbeitsplatzes verlangt. Eine Bescheinigung des Arbeitgebers werde hingegen nicht für unbedingt erforderlich erachtet, sondern lediglich als Indiz für das Nicht-zur-Verfügung-Stehen eines anderen Arbeitsplatzes gesehen.

25Der Kläger könne auch nicht darauf verwiesen werden, mit den anderen Prüfern zu jeweils unterschiedlichen Tageszeiten die Arbeitsplätze zu nutzen oder morgens mit ihnen um die Arbeitsplätze zu kämpfen. Die Dienstzeiten seien bei den Prüfern vergleichbar. Eine dienstliche Regelung hinsichtlich einer Zuordnung der Arbeitsplätze an die Prüfer unter Berücksichtigung der Frage, wer Innendienst zu verrichten habe, existiere nicht.

26Die Kläger beantragen,

27

  • 281 den Beklagten zu verpflichten, unter Änderung des Einkommensteuerbescheides 2009 vom 6. Januar 2011 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 23. Februar 2012 bei den Einkünften des Klägers aus nichtselbständiger Tätigkeit weitere Werbungskosten in Höhe von 1.250,- € zu berücksichtigen,
  • 292 unter Änderung des Einkommensteuerbescheides 2010 vom 27. Juni 2011 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 23. Februar 2012 bei den Einkünften des Klägers aus nichtselbständiger Tätigkeit weitere Werbungskosten in Höhe von 930,- € zu berücksichtigen,
  • 303 hilfsweise, die Revision zuzulassen.

31Der Beklagte beantragt,

32

  • 331 die Klage abzuweisen,
  • 342 hilfsweise, die Revision zuzulassen.

35Ergänzend macht er geltend, es reiche eine Bescheinigung, aus der hervorgehe, dass bei Stellung eines entsprechenden Antrages auf Erhalt eines Arbeitsplatzes diesem nicht hätte entsprochen werden können. Jedoch auch eine solche Bescheinigung liege nicht vor. Sie sei aber unerlässlich und solle belegen, dass dem Kläger in den Streitjahren auch auf entsprechenden Antrag hin kein Arbeitsplatz im FAfGKBp oder einem wohnortnahen Festsetzungsfinanzamt zur Verfügung gestellt worden wäre, den er für sämtliche erforderlichen Tätigkeiten hätte nutzen können.

36Dem Urteil des Finanzgerichts Düsseldorf vom 29. Februar 2012 (EFG 2012, 1432) sei über den entschiedenen Einzelfall hinaus nicht zu folgen. Das Finanzgericht habe nicht geprüft, ob dem Kläger auf Antrag ein anderer Arbeitsplatz zur Verfügung gestellt worden wäre.

37Unter dem 11. April 2013 hat der Beklagte ein Schreiben der Oberfinanzdirektion Rheinland überreicht, auf das Bezug genommen wird. In diesem Schreiben ist u.a. ausgeführt, in dem vom Finanzministerium genehmigten Raumbedarfsplan für das FAfGKBp würden Prüfer von Großbetrieben mit 70 % des Stellensolls berücksichtigt. Das FAfGKBp nutze nicht alle zur Verfügung stehenden Räumlichkeiten selbst. Diese Räumlichkeiten könnten jedoch im Bedarfsfall ebenfalls Prüfern als Arbeitsplatz zur Verfügung gestellt werden. Das FAfGKBp habe bisher nicht bemängelt, dass die Unterbringungssituation nicht ausreichend sei. Bei einer Begehung des Finanzamtes im März 2011 sei festgestellt worden, dass dort zum damaligen Zeitpunkt 12 % (14 von 116) der Betriebsprüfer einen persönlich zugewiesenen Arbeitsplatz ständig nutzten und aufgrund der räumlichen Situation noch zahlreiche weitere Arbeitsplätze persönlich hätten zugewiesen werden können.

38Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge einschließlich der Bauakten des Hauses der Kläger, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

39Entscheidungsgründe

40Die Klage ist begründet.

41Die Bescheide vom 6. Januar 2011 (betr. 2009) und vom 27. Juni 2011 (Einkommensteuerbescheid 2010), jeweils in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 23. Februar 2012, sind rechtswidrig und verletzen die Kläger insoweit in ihren Rechten (§§ 101 Satz 1, 100 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung ‑FGO‑), als der Beklagte die Kosten für das häusliche Arbeitszimmer des Klägers nicht als Werbungskosten zum Abzug zugelassen hat.

42Nach § 9 Abs. 5 i.V.m. § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6 Buchst. b Satz 1 EStG in der Fassung des Artikels 1 des Gesetzes vom 8. Dezember 2010 (Bundesgesetzblatt –BGBl‑ I, S. 1768) kann ein Steuerpflichtiger Aufwendungen für ein häusliches Arbeitszimmer sowie die Kosten der Ausstattung nicht als Werbungskosten abziehen. Dies gilt nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6 Buchst. b Satz 2 EStG u.a. dann nicht, wenn dem Steuerpflichtigen für die betriebliche oder berufliche Tätigkeit kein anderer Arbeitsplatz zur Verfügung steht. In diesen Fällen wird nach Satz 3 1. Halbs. der Vorschrift die Höhe der abziehbaren Aufwendungen auf 1.250 € begrenzt. Auf die nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6 Buchst. b Satz 3 2. Halbs. EStG mögliche unbeschränkte Abzugsfähigkeit der Aufwendungen für ein häusliches Arbeitszimmer für den Fall, dass das Arbeitszimmer den Mittelpunkt der gesamten betrieblichen und beruflichen Betätigung bildet, kommt es vorliegend nicht an, da der Kläger in keinem Streitjahr über 1.250 € liegende Aufwendungen geltend macht.

43§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6 Buchst. b EStG in der vorgenannten Fassung ist auf die hier relevanten Streitjahre anzuwenden, denn nach der Anwendungsregelung in § 52 Abs. 12 Satz 9 EStG gilt diese Vorschrift für alle offenen Fälle ab 2007.

44Dem Kläger stand in den Streitjahren für seine berufliche Tätigkeit kein anderer Arbeitsplatz im Sinne der vorgenannten gesetzlichen Regelung zur Verfügung.

45Ein „anderer Arbeitsplatz“ im Sinne der Abzugsbeschränkung ist grundsätzlich jeder Arbeitsplatz, der zur Erledigung büromäßiger Arbeiten geeignet ist. Die Abzugsbeschränkung setzt keinen eigenen, räumlich abgeschlossenen Arbeitsbereich voraus. Auch ein Raum, den sich der Steuerpflichtige mit weiteren Personen teilt, kann ein anderer Arbeitsplatz im Sinne der Abzugsbeschränkung sein (BFH-Urteil vom 7.8.2003 VI R 17/01, BFHE 203, 130, Bundessteuerblatt –BStBl‑ II 2004, 78; FG Niedersachsen, Urteil vom 22. Juni 2010, 12 K 482/08, Entscheidungen der Finanzgerichte –EFG‑ 2011, 602). Des Weiteren setzt die gesetzliche Regelung auch nicht voraus, dass dem Steuerpflichtigen ein „angemessener“ oder „ruhiger“ anderer Arbeitsplatz zur Verfügung steht (FG Niedersachsen, Urteil vom 22. Juni 2010, 12 K 482/08, EFG 2011, 602). So ist Publikumsverkehr für die Frage, ob es sich um einen anderen Arbeitsplatz im Sinne der Abzugsbeschränkung handelt, grundsätzlich ebenfalls unbeachtlich (BFH-Urteile vom 7.8.2003 VI R 118/00, BFHE 203, 122, BStBl II 2004, 82 und vom 7.8.2003 VI R 162/00, BFHE 203, 124, BStBl II 2004, 83).

46Ein solcher Arbeitsplatz steht allerdings nur dann „für die betriebliche oder berufliche Tätigkeit … zur Verfügung“, wenn ihn der Steuerpflichtige in dem konkret erforderlichen Umfang und in der konkret erforderlichen Art und Weise tatsächlich nutzen kann. Übt der Steuerpflichtige nur eine berufliche Tätigkeit aus, muss geprüft werden, ob ein ‑ an sich vorhandener ‑ anderer Arbeitsplatz auch tatsächlich für alle Aufgabenbereiche dieser Erwerbstätigkeit zur Verfügung steht. Dies folgt aus dem Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung und insbesondere aus dem ihr zugrunde liegenden Leitgedanken der „Erforderlichkeit“ von Aufwendungen. Der Steuerpflichtige ist auch dann auf das häusliche Arbeitszimmer angewiesen, wenn er dort einen nicht unerheblichen Teil seiner beruflichen Tätigkeit verrichten muss (BFH-Urteil vom 7.8.2003 VI R 17/01, BFHE 203, 130, BStBl II 2004, 78).

47Die Beurteilung, ob ein anderer Arbeitsplatz für alle Aufgabenbereiche der Erwerbstätigkeit genutzt werden kann, ist anhand der objektiven Umstände des konkreten Einzelfalls vorzunehmen (BFH-Beschluss vom 5.3.2008 VI B 95/07, Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs ‑BFH/NV‑ 2008, 956 m.w.N.; BFH-Urteil vom 5.10.2011 VI R 91/10, BFHE 235, 372, BStBl II 2012, 127).

48Entsprechend den vorstehenden Grundsätzen ist der Arbeitsplatz des Klägers im FAfGKBp als Büroarbeitsplatz ein „anderer Arbeitsplatz“ im Sinne der Abzugsbeschränkung. Dieser stand dem Kläger jedoch entgegen der Ansicht des Beklagten nicht für sämtliche beruflichen Zwecke zur Verfügung.

49Auf die Prüfung vor Ort hat sich ein Betriebsprüfer, der – wie der Kläger – überwiegend Großbetriebe prüft, an Hand der Steuerakten des jeweiligen Falles vorzubereiten. Die Ergebnisse seiner Prüfung hat der Außenprüfer in Form eines Prüfungsberichtes niederzulegen, dessen Abfassung wesentlicher Teil seiner Tätigkeit ist. Für diese vor- und nachbereitenden Arbeiten im Rahmen einer Außenprüfung bedarf der Prüfer eines Büroarbeitsplatzes. Dementsprechend hat auch der Kläger geschildert, dass er – nachdem er die Akten bei der Finanzbehörde abgeholt hat – zunächst alle daraus ersichtlichen, relevanten Daten in seinem PC speichert, um sodann die Entscheidung zu treffen, ob er den Betrieb überhaupt prüft und gegebenfalls den Prüfungsumfang für sich festzulegen. Die Prüfung einschließlich der Schlussbesprechung werde dann regelmäßig im Unternehmen durchgeführt. Im Anschluss daran fertige er den BP-Bericht, wobei er die rechtliche Würdigung unter Einbeziehung der mit Hilfe seines dienstlichen Notebooks zugänglichen Datenbanken wie Juris und SIS erarbeite. Schließlich bereite er das Ergebnis seiner Prüfung für das Festsetzungsfinanzamt soweit vor, dass etwaige Änderungsbescheide im Prinzip fertig seien. Die von ihm erstellten Eingabewertbögen überlasse er sodann den Festsetzungsfinanzämtern. Dazu müsse er seine während der Prüfung ermittelten Daten umarbeiten, da diese seitens der Finanzämter bei Erstellung der Festsetzungsbescheide aufgrund der nicht kompatiblen Programme nicht unmittelbar genutzt werden könnten.

50Ein für die vorstehend wiedergegebenen Arbeitsschritte erforderlicher Büroarbeitsplatz stand dem Kläger in den Räumen des FAfGKBp nach objektiven Gesichtspunkten nicht zur Verfügung.

51Die Oberfinanzdirektion Rheinland selbst hat in ihrem Schreiben vom 10. April 2013 ‑ bezogen auf die Prüfer von Großbetrieben ‑ eine 30 %ige Unterdeckung bei den Arbeitsplätzen im FAfGKBp eingeräumt.

52Nach dem Vorbringen der Beteiligten und den schriftlichen Angaben des Vorstehers im Einspruchsverfahren waren die räumlichen und personellen Verhältnisse in den Streitjahren so, dass im Gebäude drei Poolarbeitsplätze für 8 Prüfer vorhanden waren. Bei isolierter Betrachtung der den Sachgebieten zugeordneten Zimmer ist somit ebenfalls unstreitig keine 100 %ige Deckungsquote festzustellen. Denn bei acht Prüfern und drei Poolarbeitsplätzen ergibt sich eine (noch ungünstigere) 37 %ige Unterdeckung. Damit lag die Unterdeckung in den Jahren 2009 und 2010 wesentlich höher als im Veranlagungszeitraum 2008, in dem sie sich auf 13,35 % belief und in dem der Beklagte die Kosten des Arbeitszimmers als Werbungskosten anerkannt hat.

53Einen nicht unerheblichen Teil seiner beruflichen Tätigkeit musste der Kläger von daher jedenfalls in den Streitjahren in seinem häuslichen Arbeitszimmer verrichten. Zwar ist es, wie oben ausgeführt, irrelevant, ob der Steuerpflichtige sich ein Großraumbüro mit anderen teilen muss und dort keinen fest zugewiesenen eigenen Schreibtisch hat. Erforderlich für einen „anderen Arbeitsplatz“ i.S. des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6 Buchst. b EStG ist aber, dass der Steuerpflichtige jederzeit für die dienstlich erforderlichen Büroarbeiten auf einen für ihn nutzbaren Arbeitsplatz zugreifen kann. Davon kann bei 3 Arbeitsplätzen für 8 Prüfer nicht ausgegangen werden. Der Steuerpflichtige kann nicht darauf verwiesen werden, zu verschiedenen Tageszeiten auf der Suche nach einem freien Schreibtisch „sein Glück zu versuchen“ oder morgens mit anderen Prüfern einen Wettstreit um den letzten verfügbaren Arbeitsplatz auszutragen (ebenso: FG Düsseldorf, Urteil vom 29.2.2012, 7 K 3963/11 E, EFG 2012, 1432). Eine dienstliche Regelung, wonach an bestimmten Tagen die vorhandenen Arbeitsplätze individuell der entsprechenden Anzahl an Prüfern zugeordnet wurde, weil diese nach den Prüfgeschäftsplänen Innendienst zu verrichten hatten, existierte jedenfalls nicht.

54Abgesehen davon steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass es dem Kläger angesichts der geschilderten Ausstattung des Dienstzimmers, welches ihm und den übrigen Kollegen des Sachgebietes zugeteilt worden war, beispielsweise überhaupt nicht möglich gewesen wäre, dort die Akten, die er zur Vor- und Nachbereitung einer Prüfung benötigte, während dieser mehr als einen Tag dauernden Arbeitsphasen ordnungsgemäß dauerhaft aufzubewahren. Das Poolzimmer wird nach den Schilderungen des Klägers zudem unter Umständen auch sachgebietsübergreifend genutzt, so dass er dann gezwungen ist, irgendwo in dem Dienstgebäude nach einem freien Arbeitsplatz zu suchen.

55Dass der Kläger eingeräumt hat, er habe bislang noch immer einen freien Schreibtisch bzw. eine freie Telefonanlage zum Abrufen der E-Mails und Updaten seines Rechners gefunden, ändert nichts an dem Ergebnis. Denn ein Arbeiten in dem geschilderten, konkret notwendigen Umfang und in der konkret erforderlichen Art und Weise wird dem Kläger in dem Dienstgebäude dadurch nicht ermöglicht.

56Selbst nach der zusätzlichen Anmietung eines weiteren Geschosses ab Oktober 2009 haben sich die Verhältnisse im FAfGKBp nicht derart geändert, dass dem Kläger nunmehr ein eigener Arbeitsplatz im Amt zur Verfügung gestanden hätte. Vielmehr ist dem Kläger unter dem 10. Dezember 2010 bescheinigt worden, dass nach wie vor ein Poolarbeitsplatz in einem Verhältnis von acht Prüfern zu drei Arbeitsplätzen vorgehalten wird.

57Auch der Beklagte scheint ausweislich seines Schreibens vom 14. März 2011 (1. Seite, letzter Satz) sowie der Einspruchsentscheidung (2. Seite, letzter Absatz) davon auszugehen, dass der Kläger in den Streitjahren den Büroarbeitsplatz im FAfGKBp nicht in dem konkret erforderlichen Umfang und in der konkret erforderlichen Art und Weise tatsächlich nutzen konnte. Für diesen Fall stellt er jedoch die zusätzliche Anforderung auf, dass dem Steuerpflichtigen auch auf seinen Antrag hin kein entsprechender Arbeitsplatz zur Verfügung gestellt werden kann.

58Auf die Frage, ob dem Kläger auch auf seine Nachfrage hin ein Arbeitsplatz seitens seines Arbeitgebers in dem Dienstgebäude hätte eingerichtet werden können, kommt es hier aber nicht an. Ein vergebliches Bemühen gegenüber dem Arbeitgeber um einen Arbeitsplatz setzt der Wortlaut des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6 Buchst. b Satz 1 EStG nicht voraus (vgl. auch Söhn in Kirchhof/ Söhn/ Mellinghoff, EStG, § 4 Rdnr. Lb 145).

59Die Frage, ob jemand nicht nur keinen Arbeitsplatz hat, sondern er sich auch keinen Arbeitsplatz einrichten kann, stellt sich – unter dem Blickwinkel der Erforderlichkeit ‑ in erster Linie bei Selbständigen (ständ. BFH-Rspr., s. z.B. BFH-Urteil vom 7.4.2005 IV R 43/03, BFH/NV 2005, 1541) und mag unter Umständen auch bei einem Arbeitnehmer von Relevanz sein, dem die Organisation seines Arbeitsplatzes allein obliegt (vgl. FG München, Urteil vom 24. November 2011, 11 K 1167/11, EFG 2012, 1047). Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass diese Steuerpflichtigen andernfalls durch entsprechende Gestaltung des außerhäuslichen Arbeitsplatzes das grundsätzliche Abzugsverbot für das häusliche Arbeitszimmer unterlaufen könnten.

60Diese Fälle unterscheiden sich jedoch von dem Vorliegenden, in dem der Arbeitgeber selbst beim Erstbezug des Dienstgebäudes offensichtlich darum bemüht war, nur denjenigen Arbeitnehmern einen festen Arbeitsplatz zuzuweisen, die sich zu Hause kein Arbeitszimmer einrichten konnten. Denn nur so kann die Schilderung des Klägers verstanden werden, anlässlich des Umzuges im Jahr 2008 seien die Prüfer gefragt worden, ob sie an einem Dienstzimmer interessiert seien. Es habe sich aber möglichst niemand melden sollen, der über ein häusliches Arbeitszimmer verfüge. Der Kläger hatte danach jedenfalls keine Position inne, die es ihm ermöglicht hätte, durch entsprechende organisatorische Maßnahmen in den Streitjahren sich selbst einen anderen Arbeitsplatz i.S.d. § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6 Buchst. b EStG in dem Dienstgebäude des FAfGKBp zu verschaffen.

61Soweit der Beklagte geltend macht, der Kläger hätte jederzeit Räume eines Festsetzungsfinanzamtes in seinem Bezirk nutzen können, mag es zwar zutreffen, dass es in den verschiedenen Finanzämtern nutzbare Räume gegeben hat, sofern diese nicht für andere Zwecke – Dienstbesprechungen, Personalratssitzungen u.Ä. – benötigt wurden. Der Kläger kann aber nicht darauf verwiesen werden, sich zur Erledigung seiner schriftlichen Arbeiten irgendeinen freien Schreibtisch in irgendeinem Finanzamt in erreichbarer Nähe zu suchen (ebenso: FG Düsseldorf, Urteil vom 29. Februar 2012 7 K 3963/11 E, EFG 2012, 1432). Maßgebend ist allein, ob ihm im Dienstgebäude des FAfGKBp, dem der Kläger zugewiesen ist, ein „anderer Arbeitsplatz“ im Sinne der Abzugsbeschränkung für seine sämtlichen beruflichen Zwecke zur Verfügung steht.

62Da dem Kläger somit im Ergebnis in den Streitjahren kein anderer Arbeitsplatz für die berufliche Tätigkeit zur Verfügung stand, waren die Aufwendungen für das häusliche Arbeitszimmer, welches unstreitig die Anforderungen erfüllt, die an ein häusliches Arbeitszimmer i.S.v. § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6 Buchst. b Satz 1 EStG zu stellen sind, im Streitjahr 2009 mit 1.250 € und im Streitjahr 2010 mit 930,- € abzugsfähig. Hinsichtlich der Höhe der Aufwendungen besteht zwischen den Beteiligten ausweislich ihrer Erklärung zu Protokoll des Gerichts in der mündlichen Verhandlung ebenfalls Übereinstimmung.

63Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 135 Abs. 1 FGO.

64Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung –ZPO‑.

65Die Revision war zuzulassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO). Die Frage, ob Arbeitnehmer dann, wenn weniger Büroarbeitsplätze als Mitarbeiter im Büro vorhanden sind, einen anderen Arbeitsplatz i.S.v. § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6 Buchst. b EStG haben bzw. ob das Nichtvorhandensein eines anderweitigen Arbeitsplatzes im Sinne der Vorschrift dann davon abhängt, dass sich der Arbeitnehmer bei seinem Arbeitgeber um die Zuweisung eines vollumfänglich nutzbaren Arbeitsplatzes vergeblich bemüht, ist bislang noch nicht höchstrichterlich entschieden.

Schärfere Regelung für Probezeit vor Pensionszusage

Schärfere Regelung für Probezeit vor Pensionszusage

Rechtslage
Für Pensionszusagen gilt allgemein, dass dafür Rückstellungen in der Steuerbilanz gebildet werden können. Die Bildung ist nur dann wirksam, wenn eine zivilrechtlich wirksame Zusage erteilt wurde, die den formellen Voraussetzungen der einkommensteuergesetzlichen Bestimmungen entspricht und die Zusage in einer Gesamtbetrachtung nicht zu einer Überversorgung führt. Finanzverwaltung und Rechtsprechung fordern weitere spezielle Voraussetzungen, damit eine Versorgungszusage steuerlich nicht am Prinzip der verdeckten Gewinnausschüttung (vGA) scheitert. Es soll verhindert werden, dass Gewinnverwendungen und Vermögensvorteile der Gesellschaft unangemessenerweise in steuerwirksame Betriebsausgaben transferiert werden (vGA). Zu erfüllende Kriterien sind: Erdienbarkeit der Zusage, anerkennungsrechtliche Probezeit, Angemessenheit der Bezüge, Finanzierbarkeit, Finanzierungsendalter, Üblichkeit und besondere Unverfallbarkeitsvoraussetzungen. Hier spielt insbesondere die Länge der Probezeit eine besondere Rolle. Erst nach deren Ablauf gilt die Pensionszusage als durch das Anstellungsverhältnis veranlasst. Jetzt hat das Bundesfinanzministerium (BMF) detailliert zu der Frage der Probezeit bei Pensionszusagen an Gesellschafter-Geschäftsführer von Kapitalgesellschaften Stellung genommen.

Neue Verwaltungsanweisung  
Das BMF unterscheidet zunächst zwischen zusage- und versorgungsfreier Zeit: Als Probezeit ist der Zeitraum zwischen Dienstbeginn und erstmaliger Vereinbarung einer schriftlichen Pensionszusage (zusagefreie Zeit) zu verstehen. Der Zeitraum zwischen Erteilung und erstmaliger Anspruchsberechtigung (versorgungsfrei Zeit) zählt nicht zur Probezeit. Grundsätzlich ist eine Probezeit von 2-3 Jahren einzuhalten. Bei einer neu gegründeten Kapitalgesellschaft muss diese zuvor allerdings ihre künftige wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zuverlässig abschätzen können, die frühestens nach 5 Jahren möglich sein soll. Bei früherer Erteilung wird eine vGA unterstellt. Eine kürzere Probezeit als 5 Jahre ist möglich, wenn das Unternehmen in anderer Rechtsform seit Jahren tätig war und z. B. durch Betriebsaufspaltung oder Umwandlung die neue Rechtsform erhalten hat. Bei so genannten Management-Buy-Outs soll eine Probezeit von 1 Jahr genügen. Auch die Konsequenzen eines Verstoßes gegen die Probezeitregelung wurden verschärft: Wird die Pensionszusage noch während der Probezeit vereinbart, sind sämtliche Rückstellungen als vGA zu behandeln, auch solche, die erst nach Ende der Probezeit zu bilden sind. Damit ist auch das Haftungsrisiko für die Beratung im Zusammenhang mit der Erteilung einer Pensionszusage erheblich gestiegen.

Konsequenz
Das BMF schließt sich mit der Verwaltungsanweisung der strengen Rechtsprechung des BFH aus dem Jahr 2010 an. Die Anweisungen gelten für alle nach dem 29.7.2010 (dem Veröffentlichungsdatum des BFH-Urteils) erteilten Pensionszusagen. Für solche Zusagen, die danach erteilt wurden, ist daher unbedingt zu prüfen, ob sie den strengeren Anforderungen genügen. Gegebenenfalls muss eine bestehende aufgehoben und eine neue erteilt werden; eventuell kann eine Klärung durch Einholen einer verbindlichen Auskunft angezeigt sein.

Monatsbericht des BMF für April 2013

Das Bundesministerium der Finanzen (BMF) hat heute seinen Monatsbericht für April 2013 veröffentlicht:

“Sämtliche nationalen, europäischen und internationalen Schulden- und Konsolidierungsregeln werden in Deutschland eingehalten. Dies unterstreicht das Stabilitätsprogramm 2013, das vergangene Woche im Kabinett verabschiedet wurde. In der gegenwärtigen wirtschaftlichen Schwächephase können die automatischen Stabilisatoren wirken, ohne die Einhaltung der Maastricht-Defizitgrenze zu gefährden. Im Artikel des Monatsberichts April werden die wichtigsten Eckpunkte des Stabilitätsprogramms 2013 aufgezeigt. Des weiteren finden Sie im aktuellen Monatsbericht des BMF einen Artikel zur Zollbilanz 2012, und es wird über das Ehrenamtsstärkungsgesetz informiert, das eine Flexibilisierung der Finanzplanung gemeinnütziger Organisationen ermöglicht, Rechtssicherheit schafft und Bürokratie abbaut.

Editorial
Überblick zur aktuellen Lage
Analysen und Berichte
Deutsches Stabilitätsprogramm 2013
Das Ehrenamtsstärkungsgesetz – Verbesserte Förderung für ehrenamtliches Engagement
Zollbilanz 2012
Aktuelle Wirtschafts- und Finanzlage
Konjunkturentwicklung aus finanzpolitischer Sicht
Steuereinnahmen von Bund und Ländern im März 2013
Entwicklung des Bundeshaushalts bis einschließlich März 2013
Entwicklung der Länderhaushalte im Januar und Februar 2013
Finanzmärkte und Kreditaufnahme des Bundes
Europäische Wirtschafts- und Finanzpolitik
Termine, Publikationen
Statistiken und Dokumentationen
Übersichten zur finanzwirtschaftlichen Entwicklung
Übersichten zur Entwicklung der Länderhaushalte
Kennzahlen zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
Monatsbericht des BMF (April 2013) (PDF, 2,6 MB)”

Bundesministerium der Finanzen (BMF)

Steuern & Recht vom Steuerberater M. Schröder Berlin