Rede des Bundesministers der Finanzen Hans Eichel zum Thema „Aktuelle Steuerpolitik“ auf dem DEUTSCHEN STEUERBERATERKONGRESS am 10. Mai 2004 in Stuttgart
Sehr geehrter Dr. Heilgeist, meine sehr verehrten Damen und Herren!
In der Nacht auf den 1. Mai waren Millionen von Menschen in Europa auf der Straße, um den Beitritt von 10 neuen Staaten zur Europäischen Union zu feiern.
Erweiterung der EU
Seit diesem Tag umfasst die „wiedervereinte“ Europäische Union 25 Staaten mit rund 455 Millionen Einwohnern und zählt damit zu einem der weltweit größten Wirtschaftsräume.
Wir sollten uns dabei vergegenwärtigen, dass es um weit mehr als die Erweiterung eines Marktes geht. Ziel ist es, Europa zu einem Kontinent dauerhaften Friedens und dauerhaften Wohlergehens seiner Menschen zu machen.
Gleichwohl stehen für viele die wirtschaftlichen Aspekte im Vordergrund. Es muss am Ende greifbare Vorteile für alle geben.
Die Erweiterung bietet viele Chancen. Sie ist aber auch mit Risiken verbunden. Auch in Deutschland gibt es hier Fragen. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der günstigen steuerlichen Bedingungen etwa in Polen, Tschechien, der Slowakei oder Ungarn. Es ist kein Geheimnis, dass die steuerlichen Rahmenbedingungen in den Beitrittsländern aktuell vor allem durch niedrige Körperschaftsteuersätze, ja eine allgemein sehr niedrige Ertragsteuerbelastung gekennzeichnet sind. Das sind wichtige Orientierungsmarken im internationalen Wettbewerb um „Steuerstandorte“.
Aber: Der Standortwettbewerb mit steuerlichen Vergünstigungen ist nicht erst eine Frage des EU-Beitritts. Im Gegenteil: Mit der Verpflichtung der Beitrittsländer zur Anwendung des Acquis communautaire wird er in faire Bahnen gelenkt.
Abbau von steuerlichen Hindernissen
Vor dem Hintergrund einer immer stärker zusammenwachsenden Wirtschafts- und Währungsunion in Europa werden zwischenstaatliche Abstimmungen und vor allem koordiniertes Vorgehen wichtiger denn je.
Es wird aber auch darum gehen, die Harmonisierung voranzutreiben: Zur Wahrung der Wettbewerbsgleichheit in der Gemeinschaft streben wir möglichst einheitliche steuerliche Rahmenbedingungen an. Insbesondere für international operierende Wirtschaftsunternehmen brauchen wir einen europatauglichen Rechtsrahmen und ein Höchstmaß an Transparenz.
Bekämpfung des „unfairen“ Steuerwettbewerbs
Mit dem „Verhaltenskodex zur Bekämpfung des unfairen Steuerwettbewerbs bei der Unternehmensbesteuerung“ soll dieses Ziel europaweit durchgesetzt werden. Es handelt sich um eine politische Selbstverpflichtung der Mitgliedstaaten, bestehende „unfaire“ Steuerregelungen für Investitionen von Steuerausländern bis zum 31. Dezember 2005 abzubauen und keine neuen „unfairen“ Steuerregelungen einzuführen.
Grundsätzlich ist die Definition der als „unfair“ geltenden Maßnahmen relativ eng. Sie geht von dem Besteuerungsniveau des jeweiligen Mitgliedstaats aus. Unfair sind nur selektive Regelungen, die eine deutlich unter diesem Niveau liegende Effektivbesteuerung bewirken.
Ein generell sehr niedriger Tarif in einem Mitgliedstaat wird dagegen nicht als unfair angesehen. Das ist noch Beschlusslage in der Europäischen Union. Wir meinen, das muss man intensiv diskutieren.
Standortwettbewerb
Der Standort Deutschland ist weiterhin hoch attraktiv. Die Unternehmensberatung A. T. Kearney hat in ihrer jährlichen Umfrage unter 1.000 international agierenden Unternehmen festgestellt, dass Deutschland das attraktivste Ziel für internationale Investoren in der Europäischen Union der 15 ist. Selbst in der Europäischen Union der 25 rangiert lediglich Polen vor Deutschland.
Allein 2002 habe Deutschland 38,1 Mrd. Dollar Direktinvestitionen an sich ziehen können. Als Grund für das gestiegene Vertrauen internationaler Investoren nennt die Studie unter anderem die Steuerreform des Jahres 2000.
Im Unternehmenssteuerbereich hat sich ebenfalls Entscheidendes getan: Seit 2001 haben wir ein europataugliches, deutlich vereinfachtes und international wettbewerbsfähiges Unternehmenssteuerrecht. Die Körperschaftsteuer haben wir auf 25 % für thesaurierte und ausgeschüttete Gewinne reduziert. Mit dem neuen Halbeinkünfteverfahren haben wir auch in Europa Maßstäbe gesetzt.
Gleichwohl geraten wir in Gefahr, im Wettbewerb um Investitionsstandorte, der auch auf dem Feld der Steuertarife ausgetragen wird, wieder an Boden zu verlieren. Und nicht nur wir. Denn ein zügelloser Steuerwettbewerb über die Steuersätze ist ein brandgefährliches Spiel, das letztlich keinen Gewinner haben wird.
Die Bekämpfung eines binnenmarktschädlichen Steuerwettbewerbs zwischen EU-Staaten ist deshalb nicht nur für Deutschland von vitalem Interesse.
Für ein steuerlich gut beratenes und geschickt gestaltendes Unternehmen mag der Steuersenkungswettlauf zwischen den Staaten für eine gewisse Zeit einen individuellen Nutzen bringen. Konkurrenz belebt schließlich das Geschäft. Das gilt auch in der Steuerpolitik!
Standortqualität
Jedoch kennen Sie alle die Wichtigkeit einer guten Infrastruktur, eines hohen Bildungs- und Ausbildungsstandes oder auch die Nähe zu Großkunden für Standortentscheidungen und erfolgreiches Wirtschaften.
Ein Staat, der keine entsprechenden Dienstleistungen auf hohem Niveau anbieten kann, wird seiner Volkswirtschaft keinen Gefallen tun, sondern ihr Schaden zufügen.
Ich wünsche mir deshalb vor allem eine verstärkte Koordinierung auf dem Gebiet der direkten Steuern auf EU-Ebene. Damit werden die Vorteile eines gesunden Wettbewerbs erhalten. Gleichzeitig werden aber auch unerwünschte Folgen des Steuer-Dumping vermieden.
Mindeststeuersätze
Von der Kommission wird zwar kein einheitlicher europäischer Unternehmenssteuertarif angestrebt. Um jedoch den Wettlauf um den niedrigsten nominalen Steuersatz entgegenzuwirken und Europa zu einem einheitlichen Wirtschaftsstandort nach innen und außen fortzuentwickeln, ist die Einführung eines Mindeststeuersatzes innerhalb der EU notwendig.
Daher sollte auf politischer Ebene eine Diskussion über einen Mindeststeuersatz eingeleitet und intensiv verfolgt werden.
Deutschlands Strategie in Europa
Welche weiteren Folgerungen ergeben sich für die deutsche Steuerpolitik aus der fortschreitenden Europäisierung bzw. Internationalisierung?
Offensichtlich ist jedenfalls, dass wir Steuerpolitik immer weniger rein national definieren können. Wir müssen uns nicht nur an Vorgaben des Gemeinschaftsrechts halten. Auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs wendet sich verstärkt nationalen Steuer-regeln zu.
Vor allem die Abwehrgesetzgebung der Mitgliedstaaten kommt mehr und mehr auf den Prüfstand des EuGH. In jüngster Zeit wurden der pauschalierte Steuerabzug für nicht ansässige Steuerpflichtige und die deutschen Unterkapitalisierungsvorschriften als europarechtswidrig beanstandet. Nicht unerwähnt soll auch das Urteil zur französischen Wegzugsbesteuerung bleiben.
Aktive Mitgestaltung des EU-Rechts
Erste Erkenntnis aus dieser Entwicklung: Wir brauchen eine gut abgestimmte steuerpolitische Strategie sowohl in Europa als auch national. Für uns gilt es dabei, in größerem Maße als bisher eine aktive Rolle bei der Gestaltung des EU-Rechts zu übernehmen.
Die konstruktive Mitarbeit in Gremien der Europäischen Union eröffnet die Möglichkeit, die weiteren steuerpolitischen Entscheidungen innerhalb der EU so zu beeinflussen, dass unsere nationalen Interessen angemessen berücksichtigt werden.
Ansatzpunkte bieten sich vielfältig:
Steuerliche Gewinnermittlung
Beim Thema „Steuerliche Gewinnermittlung“ halten wir die von der Kommission vorgeschlagene einheitliche Bemessungsgrundlage bei der Unternehmensbesteuerung für denrichtigen Ansatz. Auf diesem Gebiet deutet sich im Übrigen eine engere Kooperation zwischen Deutschland und Frankreich an, die mittelfristig beispielhaft in der EU sein und Maßstäbe setzen könnte.
Umwandlungen
Die steuerneutrale grenzüberschreitende Umwandlung wird zurzeit im Rahmen einer Ergänzung der Fusionsrichtlinie geprüft. Auch diese Überlegungen decken sich mit dennationalen Überlegungen für eine grenzüberschreitende Umwandlung nach dem deutschen Umwandlungssteuerrecht.
Konzernbesteuerung
Eine grenzüberschreitende Konzernbesteuerung ist von der Kommission als mittelfristiges Projekt ebenfalls angeregt worden. Bemerkenswert ist, dass Österreich mit Blick auf die Erweiterung der Europäischen Kommission ein in diese Richtung gehendes Projekt bereits politisch beschlossen hat. Auf die Ergebnisse darf man gespannt sein.
Anpassung des nationalen Rechtsrahmens an internationale Standards und Gegebenheiten
Darüber hinaus sind wir gefordert, den nationalen Rechtsrahmen insbesondere an EU-Standards anzupassen. Die zweite Säule der EU-Strategie Deutschlands zur Fortentwicklung des Steuerrechts ist deshalb die stärkere EU- bzw. internationale Ausrichtung des nationalen Rechts.
Reform des Außensteuerrechts
Die Bundesregierung hat sich in diesem Zusammenhang zum Ziel gesetzt, das Außensteuergesetz zu reformieren, das sich zunehmend als zu enges Korsett für den Flexibilität erfordernden Außenhandel erweist.
Wenn gegenwärtig von der Modernisierung des Außensteuerrechts gesprochen wird, ist insbesondere die Hinzurechnungsbesteuerung nach dem Außensteuergesetz gemeint. Die Bundesregierung hat immer deutlich gemacht, dass wir an der Hinzurechnungsbesteuerung grundsätzlich festhalten wollen. Wir bleiben jedoch bei unserer Ankündigung, die Hinzurechnungsbesteuerung und dabei vor allem den Katalog der Einkünfte, die der Hinzurechnungsbesteuerung unterliegen, kritisch zu überprüfen und ggf. anzupassen.
Bekämpfung des Umsatzsteuerbetrugs
Es gibt weitere Betätigungsfelder: Bekanntermaßen ist die Umsatzsteuer EU-weit die betrugsanfälligste Steuer überhaupt.
Vor diesem Hintergrund ist die Intensivierung der Bekämpfung des Umsatzsteuerbetrugs ein weiterer Schwerpunkt auf unserer steuerpolitischen Agenda. Bekanntlich wird die Umsatzsteuerhinterziehung häufig in Form so genannter Karussellgeschäfte EU-weit und teilweise sogar im Stile organisierter Kriminalität betrieben. Der finanzielle Schaden für die Haushalte der Mitgliedstaaten ist enorm. Dem gilt es, im europäischen Gleichklang entschieden entgegenzuwirken.
Ein wichtiger Schritt im Kampf gegen den Umsatzsteuerbetrug ist z. B. ein verbesserter Informationsaustausch innerhalb der EU. Es kommen jedoch auch gesetzgeberische Maßnahmen bis hin zu einem Systemwechsel bei der Umsatzsteuer in Betracht:
Im Interesse einer effektiven Bekämpfung des Umsatzsteuerbetruges muss ein Systemwechsel zum Beispiel zur Ist-Versteuerung durch ein weitgehend automatisiertes crosscheck-Verfahren abgesichert werden. Einen entsprechenden Vorschlag haben wir kürzlich erarbeitet und in die Diskussion mit der EU-Kommission, den Bundesländern und den Verbänden eingeführt.
Brücke zur Steuerehrlichkeit
Zum Stichwort „Steuerehrlichkeit“: Die nachhaltige Verbesserung der Steuermoral und die effektivere Ausschöpfung der Steuerquellen sind Schwerpunkte unserer Steuerpolitik, wobei wir uns nicht auf die Bekämpfung des Umsatzsteuerbetrugs beschränken. Denn nach wir vor müssen wir leider feststellen, dass Steuerhinterziehung verbreitet als Kavaliersdelikt betrachtet wird und sich nicht wenige geradezu einen Sport daraus machen, das Finanzamt zu hintergehen.
Man darf dabei allerdings nicht vergessen, dass Steuerhinterziehung ein Delikt ist, das nur vordergründig den Fiskus trifft; denn geschädigt werden letztlich die, die redlich ihre Steuern zahlen. Trotzdem muss man realistisch sein: Hartnäckige Steuersünder wird man mit derlei Argumenten kaum davon überzeugen, von ihrem kriminellen Tun zu lassen.
Die EU-Zinsrichtlinie, die nach langen Verhandlungen beschlossen wurde, wird Steuerflucht in Europa zwar auf mittlere Sicht erheblich riskanter machen. Aber alle Probleme werden dadurch nicht gelöst. Um Steuerfluchtkapital im weitesten Sinne wieder der Besteuerung zugänglich zu machen, bedarf es daher spezieller Anreize, zumal die Hoheitsrechte des nationalen Gesetzgebers und des Fiskus an den Grenzen enden.
Mit dem am 1. Januar dieses Jahres in Kraft getretenen Gesetz zur Förderung der Steuerehrlichkeit haben wir ein attraktives Angebot unterbreitet, das denjenigen eine goldene Brücke in die Steuerredlichkeit baut, die sich bislang den Steuerbehörden nicht offenbart haben.
Der Rückfluss des Steuerfluchtkapitals ist bisher eher spärlich. Ich bin aber zuversichtlich, dass die Bilanz aufgrund der zeitlich und tariflich gestuften Regelung zum Ende des Jahres sehr viel positiver aussehen wird.
Es gilt aber sicherlich auch, die in diesem Zusammenhang zu leistende Überzeugungsarbeit noch zu intensivieren. Und hier, meine sehr geehrten Damen und Herren, kommt Ihrer Zunft sicherlich eine nicht zu unterschätzende Schlüsselrolle zu. Ich möchte daher an Sie alle appellieren, das Ihre zum Gelingen des Unternehmens „Steueramnestie“ beizutragen. Die Gelegenheit – dafür stehe ich – wird nicht wiederkehren.
Besteuerung der Kapitaleinkünfte
Wie Sie sicherlich wissen, war ursprünglich geplant, im Zuge der Brücke zur Steuerehrlichkeit auch eine Reform der Besteuerung von Kapitaleinkünften anzugehen. Nach eingehender Prüfung verschiedener Alternativen sind wir zu dem Schluss gekommen, jedenfalls eine isolierte Zinsabgeltungssteuer nicht mehr in Betracht zu ziehen. Die damit erreichbaren, sehr begrenzten Anreizwirkungen für die Deklaration von Steuerfluchtkapital müssten durch viel gewichtigere gesamtwirtschaftliche Nachteile erkauft werden.
Dies in aller Klarheit erkannt zu haben, ist nicht zuletzt auch ein Verdienst Ihres wissenschaftlichen Instituts, des DWS, das frühzeitig in einem Gutachten und im Gespräch mit den Fachleuten meines Hauses auf die Probleme einer isolierten Zinsabgeltungssteuer hingewiesen hat.
Anspruchsvollere Lösungen, die ein breiteres Spektrum von Kapitalerträgen und letztlich auch die Besteuerung von Unternehmen einbeziehen, implizieren andererseits aber erhebliche politische und fiskalische Risiken.
Einen denkbaren Weg hat das Gutachten des Sachverständigenrats gewiesen, in dem uns die Einführung einer dualen Einkommensteuer nach dem Vorbild der nordischen Staaten nahe gelegt wird. Die im Anschluss daran geführte Diskussion hat aber auch deutlich gemacht, welches Wagnis wir damit eingehen würden. Vorbehalte gibt es nicht nur in der Koalition. Denn wie es für mich aussieht, ist auch die Union von ihrer ursprünglichen Präferenz für die Abgeltungssteuer abgerückt. Allerdings bietet die Union zu diesem Thema, wie bei so vielen Themen, kein klares Bild. Denn der Wirtschaftsrat votiert jetzt wieder pro Abgeltung.
Kakophonie können wir uns aber nicht leisten. Die Besteuerung von Kapitaleinkommen ist ein hochsensibles Thema, mit großen Auswirkungen auf die Finanzmärkte und den Standort Deutschland. Wir müssen alles verhindern, was nur dazu beiträgt, Investoren, Unternehmen und private Haushalte zu verunsichern.
Attentismus wäre die wahrscheinliche Folge und das Gegenteil dessen, was unsere Volkswirtschaft jetzt braucht. Aus diesem Grund halte ich es für zwingend, erst dann in eine konkrete Reformdiskussion einzutreten, wenn wir grundlegenden Konsens über die Reformnotwendigkeit und die Eckwerte eines derartigen Vorhabens erzielt haben, so dass die erforderlichen parlamentarischen Mehrheiten hinreichend gesichert erscheinen.
Die Bundesregierung wird das Thema deshalb erst aufgreifen, sobald sich ein Grundkonsens in der Sache abzeichnet.
Grundlegende Steuerreform
Meine Damen und Herren, die Diskussion um eine grundlegende Reform des Steuerrechts wird vor allem unter dem Gesichtspunkt der Steuervereinfachung geführt.
Das kann man verstehen. Kritik am komplizierten Steuersystem war schon immer populär und auch nie ganz unberechtigt.
Allerdings wird dabei die wichtige Tatsache unterschlagen, dass das geltende Recht für einfache Lebenssachverhalte, also die Masse der Steuererklärungen, durchaus klare Orientierungen bietet.
In der steuerpolitischen Reformdebatte wäre außerdem schon viel gewonnen, wenn den Bürgerinnen und Bürgern zwei Dinge ehrlich gesagt würden:
Erstens: Das Steuerrecht ist im Wesentlichen deshalb kompliziert, weil teilweise komplexe Lebenssachverhalte zu berücksichtigen sind. Das macht auch Vereinfachungen grundsätzlich schwierig.
Zweitens: Eine Reform des Steuerrechts darf nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Vereinfachung geführt werden, denn „einfach“ bedeutet noch lange nicht „gerecht“ bzw. „gesellschaftlich wünschenswert“.
Deshalb ist auch die Finanzministerkonferenz, die die wichtigsten Steuerreformkonzepte einer gründlichen Bewertung unterzogen hat, zu einem eher ernüchternden Ergebnis gekommen: Es gibt kein Patentrezept für eine grundlegende Vereinfachung des Steuerrechts.
Denn keines der derzeit diskutierten Modelle erfüllt die an eine „echte“ Steuerreform anzulegenden Kriterien überzeugend. Nicht zuletzt wegen der teilweise enormen Mindereinnahmen, die unter dem Strich herauskommen. Steuermindereinnahmen in zweistelliger Milliardenhöhe sind angesichts eines gesamtstaatlichen Defizits von über 80 Mrd. € im vergangenen Jahr und der uneinheitlichen, tendenziell jedoch eher ungünstigen Entwicklung der Steuereinnahmen in diesem Jahr schlichtweg nicht verkraftbar.
Alle Reformkonzepte haben daneben hochgradig problematische Verteilungswirkungen. Von den Entlastungen würden Spitzenverdiener weit überproportional profitieren, finanzieren müssten dies aber zum guten Teil Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit niedrigem oder mittlerem Einkommen. Für so eine Art Reform stehe ich nicht zur Verfügung!
Ich sage demgegenüber ganz klar: Ich bin für Steuervereinfachung, ich bin für mehr Transparenz im Steuerrecht.
Für mich gibt es aber klare Vorgaben: Erstens: Die Steuersenkung muss für den Staat finanzierbar sein. Zweitens: Die Steuerentlastung muss sozial gerecht sein. Drittens: Eine Steuerreform muss ein Mehr an Europatauglichkeit und eine bessere Position im internationalen Steuerwettbewerb bringen.
Erfolgreiche Steuerpolitik der Bundesregierung
Meine Damen und Herren, wir fangen in der Reformdiskussion aber nicht bei Null an. In der Steuerpolitik hat sich seit 1999 bereits eine Menge zum Positiven entwickelt.
Ich habe vorhin auf die erheblichen Entlastungen bei der Einkommensteuer und die Verbesserungen im Unternehmenssteuerbereich hingewiesen. Hier sind wir inzwischen viel besser aufgestellt als zu Beginn der vergangenen Legislaturperiode.
Abbau von Subventionen und Steuervergünstigungen
Vereinfachungen haben wir auch durch den konsequenten Abbau von steuerlichen Ausnahmeregelungen und Steuersubventionen erreicht.
Die Finanzhilfen, die der Bund weitgehend eigenständig beeinflussen kann, haben wir von 11,4 Mrd. Euro im Jahr 1998 konsequent auf 7,7 Mrd. Euro in 2003 abgesenkt. 2004 werden sie knapp unter 7 Mrd. Euro liegen. Dies sind dann rund 4,4 Mrd. Euro oder knapp 40 % weniger als zur Regierungsübernahme.
Im Finanzplan bis 2007 ist ein weiterer Abbau von knapp 1,6 Mrd. Euro auf 5,4 Mrd. Euro vorgesehen. Das bedeutet: in zwei Legislaturperioden werden wir die Finanzhilfen mehr als halbiert haben!
Weitere Erfolge in diesem Bereich hängen davon ab, ob die Opposition endlich ihre kurzsichtige, rein taktisch motivierte Blockadehaltung aufgibt. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang auch noch einmal ausdrücklich die Eigenheimzulage, deren Fortbestand weder in wohnungsbau- noch in haushaltpolitischer Hinsicht gerechtfertigt ist.
Verbesserung des Steuervollzugs und weitere Vereinfachung des Steuerverfahrens
Die Forderung nach Vereinfachung und Modernisierung darf sich aber nicht auf das materielle Recht beschränken. Wir müssen gleichzeitig den Steuervollzug verbessern, um die Steuerquellen effektiver auszuschöpfen. Außerdem gilt es, das Steuerverfahren effizienter und den Zugang zur Steuerverwaltung komfortabler zu gestalten.
Diesem Ziel dient nicht zuletzt die Einführung einer elektronischen Lohnsteuerbescheinigung. Sie ist für mich ein zentrales Projekt zum Abbau bürokratischer Belastungen. Die bisher papiergebundenen Abläufe können nun weitgehend vollelektronisch abgewickelt werden. Das lästige Aufkleben der Lohnsteuerbescheinigungen entfällt.
In einem zweiten Schritt werden wir die rechtlichen und technischen Voraussetzungen dafür schaffen, die traditionelle Lohnsteuerkarte vollständig entbehrlich zu machen und die notwendige Kommunikation elektronisch abzuwickeln.
Außerdem unterstützt die Bundesregierung nachdrücklich die elektronische Steuerklärung (ELSTER). Dabei streben wir weitere Vereinfachungen an, wir wollen insbesondere die bisher notwendige Abgabe von Belegen weitgehend überflüssig machen.
Ein weiteres wichtiges Projekt zielt darauf ab, die Normenflut der steuerlichen Verwaltungsvorschriften einzudämmen. Die enorme Zahl von rund 96.000 Verwaltungsvorschriften resultiert unter anderem aus der Verwaltungspraxis, BMF-Schreiben nochmals durch so genannte Umsetzungserlasse der 16 obersten Landesfinanzbehörden und Umsetzungsverfügungen der 19 Oberfinanzdirektionen in Geltung zu setzen.
Auf unseren Vorschlag werden nun alle Länder die abgestimmten BMF-Schreiben unmittelbar als Landesweisung übernehmen. Darüber hinaus werden auf Bundesebene die ca. 5.000 gültigen BMF-Schreiben auf ihre Aktualität geprüft, ggf. aufgehoben oder zusammengefasst.
Buchführungserleichterungen
Ich bringe auch ganz konkrete Vorstellungen zu einem Bereich mit, der vor allem für Sie und Ihre Mandantschaft von besonderem Interesse sein dürfte:
Denn ich bin gerne bereit, einen Vorschlag der Bundessteuerberaterkammer aufzugreifen und unter dem Gesichtspunkt der Steuervereinfachung auch das breite Feld der steuerlichen Buchführungs-, Aufzeichnungs- und Aufbewahrungspflichten zu durchleuchten.
Uns ist durchaus bewusst, dass die Wirtschaft besonders unter der Bürde der 10-jährigen Aufbewahrungspflicht stöhnt. Die Klage über diesen Archivierungsaufwand hat sich noch verstärkt, nachdem die Frist ab 1. Januar 2002 auch für die Sicherstellung der maschinellen Auswertbarkeit der Buchführungsdaten (Stichwort: Datenzugriff!) gilt.
Vor allem die Finanzbehörden der Länder haben sich hier bisher eher zurückhaltend gezeigt. Ich halte die Zeit aber für gekommen, über Erleichterungen bei den Aufbewahrungsfristen im Kontext mit anderen Maßnahmen des Besteuerungsverfahrens nachzudenken.
Eine – gegebenenfalls stufenweise – Verkürzung der 10-jährigen Aufbewahrungsfrist liegt durchaus im Bereich des Möglichen.
Allerdings nicht zum Nulltarif. Ein solchen Schritt könnte ich nur verantworten, wenn auch die Finanzverwaltung im Gegenzug mehr als bisher in die Lage versetzt würde, Betriebsprüfungen – nicht zuletzt im Interesse der Wirtschaft – zeitnäher und gezielter durchführen zu können.
Das geht nicht ohne Ihre konstruktive Mitwirkung. Als Stichworte nenne ich:
- Unbürokratischer Datenzugriff,
- schnellere Erledigung von Auskunfts- und Vorlagepflichten,
- zeitnähere Abgabe der Steuererklärungen,
- Standardisierung der Bilanzen sowie der Gewinn- und Verlustrechnungen.
Wir wollen mit den obersten Finanzbehörden der Länder – zunächst – auf Fachebene ein möglichst ausgewogenes „Erleichterungspaket“ erarbeiten und die Steuerberaterschaft über ihre Dachorganisationen zu gegebener Zeit in das Vorhaben einbinden.
Alterseinkünftebesteuerung
Ein weiteres Thema, das auf unserer steuerpolitischen Agenda weit oben steht und uns vermutlich noch geraume Zeit beschäftigen wird, möchte ich wenigstens kurz streifen: Es geht um die Neuordnung der Besteuerung der Alterseinkünfte.
Vor dem Hintergrund des sich abzeichnenden demografischen Wandels bedeutet die Orientierung an den zentralen Leitbildern „Nachhaltigkeit“ und „Generationengerechtigkeit“ mehr denn je: Keine Generation darf auf Kosten der nachfolgenden Generationen leben, um nicht die langfristige Stabilität unserer Gesellschaft aufs Spiel zu setzen.
Die Herausforderungen der absehbaren gesellschaftsstrukturellen Veränderungen betreffen insbesondere auch die Altersvorsorge. Mit der Einführung der kapitalgedeckten Altersvorsorge, die unter dem Stichwort „Riester-Rente“ bekannt geworden ist, haben wir bereits in der letzten Legislaturperiode einen wichtigen Schritt zu einer nachhaltigen Alterssicherung vollzogen. Jetzt geht es darum, eine zukunftsfähige und transparente Lösung für die Besteuerung von Alterseinkünften zu finden.
Mit dem kürzlich vom Bundestag beschlossenen Alterseinkünftegesetzes kommt die Bundesregierung einem Auftrag des Bundesverfassungsgerichtes nach, bis 2005 für eine gleichmäßige Besteuerung von Sozialversicherungsrenten, Beamtenpensionen und Erwerbseinkommen zu sorgen. Dies soll in Form einer so genannten nachgelagerten Besteuerung erfolgen, bei der in einem zeitlich gestuften Verfahren die Altersvorsorge zunehmend steuerfrei gestellt und im Gegenzug langfristig auf eine volle Besteuerung der Renten umgestellt wird. Die Steuerlast der erwerbstätigen Generation wird demnach sukzessive sinken.
Zum System einer nachgelagerten Besteuerung von Alterseinkünften gibt es keine vernünftige Alternative. Das hat auch die Opposition erkannt: Denn sowohl im CDU/CSU als auch im FDP-Steuerkonzept ist die nachgelagerte Besteuerung vorgesehen. Dennoch scheint es der Opposition aus Prinzip nicht möglich zu sein, mit der Bundesregierung an einem Strang zu ziehen. Das Hickhack um die Frage, ob das Alterseinkünftegesetz ohne Vermittlungsverfahren – und d. h. zügig – den Bundesrat passieren kann, spricht Bände über die Verfassung der Opposition insgesamt und ihre Bereitschaft, angesichts des verfassungsgerichtlichen Auftrags verantwortungsvolle und konstruktive Politik zu betreiben.
Ich möchte uns allen nur wünschen, dass uns ein ähnlich dramatisches Procedere wie Ende letzten Jahres im Vermittlungsverfahren erspart bleibt. Denn zu Recht beklagen Sie die Gesetzgebungshektik der Vergangenheit. Steuerbürger, Unternehmen, Finanzverwaltung und eben auch die Berater sind die Leidtragenden. Das wissen wir und appellieren deshalb an die Länder, sich auch im eigenen Interesse im Bundesrat konstruktiv zu verhalten.
Änderung des Berufsrechts der Steuerberater
Last but not least möchte ich ein Projekt erwähnen, das für Sie von besonderem Interesse sein dürfte: Wir wollen das Berufsrecht der Steuerberater durch eine Harmonisierung mit dem Berufsrecht der Rechtsanwälte liberalisieren. Es ist unter anderem geplant, die Möglichkeit des Syndikus-Steuerberaters zu schaffen, wie dies bei den Rechtsanwälten schon lange möglich ist. Dies wurde und wird von der Wirtschaft vehement gefordert.
Die Gesetzesänderungen sollen im engen Dialog mit Vertretern Ihres Berufsstandes erfolgen. Anregungen Ihrerseits stehen wir offen gegenüber. Auf Fachebene sind im Übrigen bereits Gespräche mit der Bundessteuerberaterkammer aufgenommen worden.
Ein gesetzlicher Rahmen für die geplante Novelle könnte das auf Fachebene in meinemHause bereits geplante Steueränderungsgesetz 2004 sein, das im Übrigen vielfältigen, allerdings eher technischen steuerrechtlichen Anpassungsbedarf aufnehmen und noch in diesem Jahr das parlamentarische Verfahren durchlaufen soll.
Fazit
Meine Damen und Herren! Von Immanuel Kant, an dessen 200. Todestag wir uns in diesem Jahr erinnern, stammt der Satz: „Das einzig Beständige ist die Veränderung.“ Das scheint auch für das Steuerrecht zu gelten.
Damit ist treffend aber auch beschrieben, woran wir uns insgesamt im politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenleben gewöhnen müssen.
Die Antwort auf diesen Veränderungsdruck kann nur sein, vorausschauende Reformpolitik zu betreiben und die langfristigen Auswirkungen von politischen Entscheidungen – auch für kommende Generationen – mit ins Kalkül zu ziehen.
Mit dem umfassenden Modernisierungskonzept „Agenda 2010“ der Bundesregierung ist ein wichtiger Anfang gemacht. Jetzt kommt es darauf an, auch die Ausdauer zu haben, die Reformen kontinuierlich fortzusetzen. Das ist die zentrale Herausforderung in diesem Jahr gerade vor dem Hintergrund der noch ausstehenden zahlreichen Wahlen auf Europa-, Landes- und Kommunalebene.