Archiv der Kategorie: Umsatzsteuer

Umsatzsteuer: Umsatzsteuergesetz, Umsatzsteuerrichtlinien und Umsatzsteuerdurchführungsverordnung

Umsatzsteuer | Zum Leistungsort im Bereich der Lagerung von Waren (EuGH)

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

27. Juni 2013(*)

„Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 44 und 47 – Ort, der als Ort der Tätigung der steuerbaren Umsätze gilt – Steuerliche Anknüpfung – Begriff ‚Dienstleistung im Zusammenhang mit einem Grundstück‘ – Komplexe grenzüberschreitende Dienstleistung im Bereich der Lagerung von Waren“

In der Rechtssache C‑155/12

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Naczelny Sąd Administracyjny (Polen) mit Entscheidung vom 8. Februar 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 30. März 2012, in dem Verfahren

Minister Finansów

gegen

RR Donnelley Global Turnkey Solutions Poland sp. z o.o.

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Richterin M. Berger sowie der Richter A. Borg Barthet, E. Levits und J.‑J. Kasel (Berichterstatter),

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der RR Donnelley Global Turnkey Solutions Poland sp. z o.o., vertreten durch W. Varga, radca prawny,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und M. Szpunar als Bevollmächtigte,

–        der griechischen Regierung, vertreten durch K. Paraskevopoulou und M. Germani als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Hottiaux und C. Soulay als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 31. Januar 2013

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 44 und 47 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie 2008/8/EG des Rates vom 12. Februar 2008 (ABl. L 44, S. 11) geänderten Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Minister Finansów (Finanzminister) und der RR Donnelley Global Turnkey Solutions Poland sp. z o.o. (im Folgenden: RR), einer mehrwertsteuerpflichtigen Gesellschaft polnischen Rechts, über die für die Zwecke der Mehrwertsteuererhebung vorzunehmende Bestimmung des Ortes, an dem eine Dienstleistung im Bereich der Lagerung von Waren als erbracht gilt.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3        Art. 44 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:

„Als Ort einer Dienstleistung an einen Steuerpflichtigen, der als solcher handelt, gilt der Ort, an dem dieser Steuerpflichtige den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit hat. Werden diese Dienstleistungen jedoch an eine feste Niederlassung des Steuerpflichtigen, die an einem anderen Ort als dem des Sitzes seiner wirtschaftlichen Tätigkeit gelegen ist, erbracht, so gilt als Ort dieser Dienstleistungen der Sitz der festen Niederlassung. In Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer solchen festen Niederlassung gilt als Ort der Dienstleistung der Wohnsitz oder der gewöhnliche Aufenthaltsort des steuerpflichtigen Dienstleistungsempfängers.“

4        Art. 47 dieser Richtlinie bestimmt:

„Als Ort einer Dienstleistung im Zusammenhang mit einem Grundstück, einschließlich der Dienstleistungen von Sachverständigen und Grundstücksmaklern, der Beherbergung in der Hotelbranche oder in Branchen mit ähnlicher Funktion, wie zum Beispiel in Ferienlagern oder auf einem als Campingplatz hergerichteten Gelände, der Einräumung von Rechten zur Nutzung von Grundstücken sowie von Dienstleistungen zur Vorbereitung und Koordinierung von Bauleistungen, wie z. B. die Leistungen von Architekten und Bauaufsichtsunternehmen, gilt der Ort, an dem das Grundstück gelegen ist.“

Polnisches Recht

5        Art. 5 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes über die Steuer auf Gegenstände und Dienstleistungen (ustawa o podatku od towarów i usług) vom 11. März 2004 (Dz. U. Nr. 54, Pos. 535) in der im Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuergesetz) sieht vor, dass im Inland erfolgte Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen der Mehrwertsteuer unterliegen.

6        Art. 8 Abs. 1 und 4 des Mehrwertsteuergesetzes bestimmt:

„1.      Als Dienstleistung im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Nr. 1 gilt jede Leistung an eine natürliche Person, eine juristische Person oder eine nichtrechtsfähige Organisationseinheit, die keine Lieferung von Gegenständen im Sinne des Art. 7 ist, dabei eingeschlossen:

1)      die Abtretung eines nicht körperlichen Gegenstands, ungeachtet der Form des Rechtsgeschäfts;

2)      die Verpflichtung, die Vornahme einer Handlung zu unterlassen oder eine Handlung oder einen Zustand zu dulden;

3)      die Erbringung einer Dienstleistung auf Anordnung einer Behörde oder einer in ihrem Auftrag handelnden Person oder kraft Gesetzes.

4.      Bei der Bestimmung des Ortes einer Dienstleistung werden die Dienstleistungen mit Hilfe statistischer Klassifikationen identifiziert, wenn die Gesetzesvorschriften oder die auf ihrer Grundlage erlassenen Durchführungsbestimmungen für diese Dienstleistungen statistische Symbole anführen.“

7        Gemäß Art. 28b Abs. 1 des Mehrwertsteuergesetzes gilt als Ort einer Dienstleistung, wenn sie an einen Steuerpflichtigen erbracht wird, der Ort, an dem dieser seinen (Wohn‑)Sitz hat, vorbehaltlich der Abs. 2 bis 4 sowie der Art. 28e, 28f Abs. 1, 28g Abs. 1, 28i, 28j und 28n.

8        Gemäß Art. 28b Abs. 2 des Mehrwertsteuergesetzes gilt, wenn Dienstleistungen an eine feste Niederlassung des Steuerpflichtigen erbracht werden, die sich an einem anderen Ort befindet als sein (Wohn‑)Sitz, als Ort dieser Dienstleistungen der Ort der festen Niederlassung.

9        Art. 28e des Mehrwertsteuergesetzes lautet wie folgt:

„Als Ort einer Dienstleistung im Zusammenhang mit einem Grundstück, einschließlich der Dienstleistungen von Sachverständigen und Grundstücksmaklern, der Beherbergung in Hotels oder Objekten mit ähnlicher Funktion, wie z. B. in Ferienlagern oder auf einem als Campingplatz hergerichteten Gelände, des Nießbrauchs an und der Nutzung von Grundstücken sowie von Dienstleistungen zur Vorbereitung und Koordinierung von Bauleistungen, wie z. B. Leistungen von Architekten und der Bauaufsicht, gilt der Ort, an dem das Grundstück gelegen ist.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

10      Im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit erbringt RR an mehrwertsteuerpflichtige Wirtschaftsteilnehmer mit Sitz in anderen Mitgliedstaaten als der Republik Polen eine komplexe Dienstleistung im Bereich der Lagerung von Waren. Diese Dienstleistung umfasst u. a. die Annahme der Waren in einem Lager, ihre Unterbringung auf geeigneten Lagerregalen, ihre Aufbewahrung, ihr Verpacken für die Kunden, ihre Ausgabe sowie ihr Ent‑ und Verladen. Bei einigen Vertragspartnern, bei denen es sich um Lieferanten von Waren an EDV‑Konzerne handelt, gehört zu der fraglichen Dienstleistung außerdem auch das Umpacken von Materialien, die in Sammelpackungen geliefert werden, in individuelle Zusammenstellungen. Die Bereitstellung von Lagerraum ist nur einer der vielen Bestandteile des von RR verwalteten logistischen Prozesses. Darüber hinaus setzt sie im Rahmen der fraglichen Dienstleistung eigene Arbeitnehmer ein sowie Verpackungen, deren Kosten ein Bestandteil des Entgelts für die Dienstleistung sind. Die Vertragspartner von RR, die einen Auftrag für diese Lagerungsdienstleistung erteilen, haben in Polen weder einen Sitz noch eine feste Niederlassung.

11      Am 25. März 2010 stellte RR einen Antrag auf Einzelfallauslegung betreffend die für die Zwecke der Berechnung der Mehrwertsteuer vorzunehmende Bestimmung des Ortes der Erbringung der komplexen Dienstleistung im Bereich der Lagerung. Ihrer Ansicht nach muss als Ort, an dem eine Dienstleistung der von ihr angebotenen Art erbracht wird, der Ort des Sitzes des Empfängers dieser Leistung gelten. Die von RR angebotenen Dienstleistungen dürften daher in Polen nicht der Mehrwertsteuer unterliegen. Insbesondere sei die komplexe Dienstleistung im Bereich der Lagerung von Waren nicht als Dienstleistung im Zusammenhang mit einem Grundstück anzusehen. Die Absicht der Parteien bestehe nämlich nicht darin, den fraglichen Dienstleistungsempfängern ein Recht auf Nutzung der Lagerfläche einzuräumen, sondern es gehe lediglich darum, die Waren in unverändertem Zustand zu erhalten und sämtliche mit einer solchen Dienstleistung verbundenen ergänzenden Leistungen zu erfüllen.

12      In der am 8. Juni 2010 erlassenen Einzelfallauslegung vertrat die polnische Finanzverwaltung, vertreten durch den Minister Finansów, demgegenüber die Ansicht, dass Dienstleistungen im Bereich der Lagerung von Waren den Charakter von Dienstleistungen im Zusammenhang mit einem Grundstück hätten und damit den Tatbestand des Art. 28e des Mehrwertsteuergesetzes erfüllten. Als Ort der Erbringung dieser Dienstleistungen gelte folglich der Ort, an dem das als Lager verwendete Grundstück gelegen sei.

13      RR erhob Klage gegen diese Einzelfallauslegung und machte geltend, dass die vom Minister Finansów vertretene Auslegung von Art. 28e des Mehrwertsteuergesetzes vom Wortlaut und von der Auslegung des Art. 47 der Mehrwertsteuerrichtlinie abweiche, dem Grundsatz der Kohärenz des Unionsrechts zuwiderlaufe und die einheitliche Anwendung dieses Rechts in den Mitgliedstaaten gefährde. Nach den Bestimmungen dieser Richtlinie handle es sich bei Dienstleistungen im Zusammenhang mit einem Grundstück nämlich um Dienstleistungen, die das jeweilige Grundstück beträfen. Dies sei bei der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Dienstleistung jedoch gerade nicht der Fall.

14      Der Wojewódzki Sąd Administracyjny w Łodzi (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Łódź [Lodsch]) gab dieser Klage mit Urteil vom 25. November 2010 statt, da er der Ansicht war, dass die von RR erbrachten Leistungen keine Dienstleistungen im Zusammenhang mit einem Grundstück seien. Insbesondere könnten die fraglichen Leistungen nicht der Kategorie der Dienstleistungen zugeordnet werden, die die „Einräumung von Rechten zur Nutzung von Grundstücken“ umfassten, da Gegenstand der von RR mit ihren Vertragspartnern geschlossenen Verträge die Verwahrung und das aktive Management der in den Lagern von RR gelagerten Waren sei. Den Kunden würden keine Rechte zur Nutzung der Grundstücke in welcher Form auch immer eingeräumt. Der maßgebliche Bestandteil einer Dienstleistung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden sei das Management der Ware mit dem Ziel, es den Kunden zu ermöglichen, diese auf möglichst effektive Art und Weise zu vermarkten. Im Übrigen weise diese Dienstleistung keinen „ausreichend direkten Zusammenhang mit einem Grundstück“ im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs (Urteil vom 7. September 2006, Heger, C‑166/05, Slg. 2006, I‑7749) auf und könne somit nicht unter Art. 47 der Mehrwertsteuerrichtlinie fallen. Wenn die fraglichen Dienstleistungen an außerhalb Polens ansässige Empfänger erbracht würden, seien sie daher nicht in Polen zu besteuern.

15      Der Minister Finansów trug zur Begründung der von ihm gegen dieses Urteil beim Naczelny Sąd Administracyjny (Hauptverwaltungsgericht) eingelegten Kassationsbeschwerde vor, dass im vorliegenden Fall die Lagerungsdienstleistung die Haupt‑ bzw. überwiegende Leistung darstelle und dass sich die übrigen von RR angebotenen Dienstleistungen aus der Natur der Hauptleistung ergäben. Der enge Zusammenhang dieser Dienstleistung mit dem konkret als Lager bestimmten Grundstück sei unbestreitbar. Der Ort der Besteuerung dieser Dienstleistung müsse daher nach Art. 28e des Mehrwertsteuergesetzes bestimmt werden und liege somit in Polen.

16      Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ergibt sich aus dem Urteil Heger sowie aus den Urteilen vom 3. September 2009, RCI Europe (C‑37/08, Slg. 2009, I‑7533), und vom 27. Oktober 2011, Inter-Mark Group (C‑530/09, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht), dass für die Feststellung, ob es sich um eine Dienstleistung im Zusammenhang mit einem Grundstück im Sinne des Art. 47 der Mehrwertsteuerrichtlinie handelt, eine Reihe von Voraussetzungen erfüllt sein müssen. Im vorliegenden Fall bestehe zwar ein gewisser Zusammenhang zwischen der fraglichen Dienstleistung und einem Grundstück, dieser Zusammenhang sei jedoch lediglich untergeordneter Art.

17      Unter diesen Umständen hat der Naczelny Sąd Administracyjny beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

–        Sind die Regelungen, die sich aus den Art. 44 und 47 der Mehrwertsteuerrichtlinie ergeben, dahin auszulegen, dass komplexe Dienstleistungen im Bereich der Lagerung von Waren, die die Annahme der Waren in einem Lager, ihre Unterbringung auf geeigneten Lagerregalen, die Aufbewahrung dieser Waren für den Kunden, die Ausgabe der Waren, das Entladen und das Verladen und in Bezug auf einige Kunden das Umpacken von Materialien, die in Sammelpackungen geliefert werden, in individuelle Zusammenstellungen umfassen, Dienstleistungen im Zusammenhang mit einem Grundstück sind, die gemäß Art. 47 der Mehrwertsteuerrichtlinie an dem Ort besteuert werden, an dem das Grundstück gelegen ist?

–        Oder handelt es sich um Dienstleistungen, die nach Art. 44 der Mehrwertsteuerrichtlinie an dem Ort, an dem der Dienstleistungsempfänger, an den die Dienstleistungen erbracht werden, den ständigen Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit oder eine feste Niederlassung hat, oder, wenn es hieran fehlt, an seinem Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthaltsort besteuert werden?

Zur Vorlagefrage

18      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 47 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass eine komplexe Dienstleistung im Bereich der Lagerung, die in der Annahme von Waren in einem Lager, ihrer Unterbringung auf geeigneten Lagerregalen, ihrer Aufbewahrung, ihrer Verpackung, ihrer Ausgabe, ihrem Ent‑ und Verladen sowie in Bezug auf einige Kunden dem Umpacken von Materialien, die in Sammelpackungen geliefert werden, in individuelle Zusammenstellungen besteht, eine Dienstleistung im Zusammenhang mit einem Grundstück im Sinne dieses Artikels ist.

19      Um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, ist angesichts der Tatsache, dass der in der Vorlagefrage bezeichnete Umsatz mehrere Bestandteile umfasst, erstens zu prüfen, ob dieser Umsatz als durch eine einheitliche Leistung oder als durch mehrere eigene und selbständige, hinsichtlich der Mehrwertsteuer getrennt zu beurteilende Leistungen getätigt anzusehen ist.

20      Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs geht nämlich hervor, dass unter bestimmten Umständen mehrere formal unterschiedliche Einzelleistungen, die getrennt erbracht werden und damit jede für sich zu einer Besteuerung oder Befreiung führen könnten, als einheitlicher Umsatz anzusehen sind, wenn sie nicht selbständig sind (Urteile vom 21. Februar 2008, Part Service, C‑425/06, Slg. 2008, I‑897, Randnr. 51, und vom 27. September 2012, Field Fisher Waterhouse, C‑392/11, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 15).

21      Hierzu hat der Gerichtshof entschieden, dass eine Leistung als einheitlich anzusehen ist, wenn der Steuerpflichtige zwei oder mehr Handlungen vornimmt oder Elemente liefert, die so eng miteinander verbunden sind, dass sie objektiv eine einzige untrennbare wirtschaftliche Leistung bilden, deren Aufspaltung wirklichkeitsfremd wäre (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. Oktober 2005, Levob Verzekeringen und OV Bank, C‑41/04, Slg. 2005, I‑9433, Randnr. 22, und Field Fisher Waterhouse, Randnr. 16).

22      Dies ist auch dann der Fall, wenn eine oder mehrere Einzelleistungen eine Hauptleistung bilden und die andere Einzelleistung oder die anderen Einzelleistungen eine oder mehrere Nebenleistungen bilden, die steuerlich wie die Hauptleistung behandelt werden. Eine Leistung ist insbesondere dann als Nebenleistung zu einer Hauptleistung anzusehen, wenn sie für die Kunden keinen eigenen Zweck, sondern das Mittel darstellt, um die Hauptleistung des Leistungserbringers unter optimalen Bedingungen in Anspruch zu nehmen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 25. Februar 1999, CPP, C‑349/96, Slg. 1999, I‑973, Randnr. 30, vom 10. März 2011, Bog u. a., C‑497/09, C‑499/09, C‑501/09 und C‑502/09, Slg. 2011, I‑1457, Randnr. 54, und Field Fisher Waterhouse, Randnr. 17).

23      Zwar ist es Sache des nationalen Gerichts, festzustellen, ob der Steuerpflichtige in einem konkreten Fall eine einheitliche Leistung erbringt, und dazu alle endgültigen Tatsachenbeurteilungen vorzunehmen, doch kann der Gerichtshof ihm alle Auslegungshinweise an die Hand geben, die für die Entscheidung über den Rechtsstreit zweckdienlich sind (vgl. in diesem Sinne Urteile Levob Verzekeringen und OV Bank, Randnr. 23, sowie vom 19. Juli 2012, X, C‑334/10, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 24).

24      Wie die Generalanwältin in den Nrn. 21 bis 23 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, ergibt sich insoweit aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten, dass im Ausgangsverfahren die Lagerung der Waren grundsätzlich als die Hauptleistung anzusehen ist und dass die Annahme, die Unterbringung, die Ausgabe, das Ent‑ und das Verladen der Waren lediglich als Nebenleistungen anzusehen sind. Denn die letztgenannten Leistungen haben für die Kunden grundsätzlich keinen eigenen Zweck, sondern stellen Vorgänge dar, die es ihnen ermöglichen, die Hauptleistung unter optimalen Bedingungen in Anspruch zu nehmen.

25      Was das Umpacken von in Sammelpackungen gelieferten Waren in individuelle Zusammenstellungen betrifft, ist jedoch zu ergänzen, dass diese Leistung, die lediglich an einige Kunden erbracht wird, immer dann als eigenständige Hauptleistung anzusehen ist, wenn dieses Umpacken nicht unerlässlich ist, um eine bessere Lagerung der fraglichen Waren zu gewährleisten.

26      Da aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten nicht hervorgeht, dass das vorlegende Gericht mit seiner Frage auf diesen zweiten Fall abzielt, ist für die weiteren Überlegungen davon auszugehen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende komplexe Leistung im Bereich der Lagerung einen einheitlichen Umsatz darstellt, bei dem die Hauptleistung in der Lagerung von Waren besteht.

27      Unter diesen Umständen ist zweitens der Ort zu bestimmen, an dem dieser einheitliche Umsatz als getätigt gilt.

28      Hierzu ist festzustellen, dass die Mehrwertsteuerrichtlinie ebenso wie die Sechste Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1, im Folgenden: Sechste Richtlinie), die durch die Mehrwertsteuerrichtlinie ersetzt wurde, in ihrem Titel V, der den Ort des steuerbaren Umsatzes betrifft, ein Kapitel 3 über den Ort der Dienstleistung enthält, dessen Abschnitte 2 und 3, wie aus deren Überschriften hervorgeht, sowohl allgemeine Bestimmungen zur Feststellung des Ortes der Besteuerung einer solchen Leistung als auch besondere Bestimmungen über die Erbringung spezieller Dienstleistungen enthalten.

29      Bevor entschieden werden kann, ob eine bestimmte Dienstleistung in einem gegebenen Fall unter die Art. 44 und 45 der Mehrwertsteuerrichtlinie fällt, die die allgemeinen Bestimmungen enthalten, ist somit festzustellen, ob in diesem Fall eine der besonderen Bestimmungen der Art. 46 bis 59b dieser Richtlinie einschlägig ist (vgl. in Analogie zur Sechsten Richtlinie Urteil vom 26. September 1996, Dudda, C‑327/94, Slg. 1996, I‑4595, Randnr. 21).

30      Im vorliegenden Fall ist zu prüfen, ob eine Leistung im Bereich der Lagerung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende in den Anwendungsbereich des Art. 47 der Mehrwertsteuerrichtlinie fallen kann.

31      Zum Wortlaut dieses Art. 47, der im Wesentlichen Art. 9 Abs. 2 Buchst. a der Sechsten Richtlinie entspricht, ist festzustellen, dass Leistungen im Bereich der Lagerung nicht zu den ausdrücklich in diesem Art. 47 aufgezählten Leistungen gehören, weshalb sich aus dem Wortlaut dieser Bestimmung keine sachdienlichen Schlüsse für die Beantwortung der vorgelegten Frage ziehen lassen.

32      Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich jedoch, dass nur diejenigen Dienstleistungen unter Art. 47 der Mehrwertsteuerrichtlinie fallen, die einen ausreichend direkten Zusammenhang mit einem Grundstück aufweisen (vgl. in diesem Sinne Urteil Inter‑Mark Group, Randnr. 30). Ein solcher Zusammenhang zeichnet im Übrigen alle in diesem Artikel genannten Dienstleistungen aus (vgl. zu Art. 9 Abs. 2 Buchst. a der Sechsten Richtlinie Urteil Heger, Randnr. 24).

33      Was den Begriff „Grundstück“ angeht, hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass ein wesentliches Merkmal eines Grundstücks ist, dass es mit einem bestimmten Abschnitt des Hoheitsgebiets des Mitgliedstaats, in dem es gelegen ist, verbunden ist (vgl. in diesem Sinne Urteil Heger, Randnr. 20).

34      Wie die Generalanwältin in Nr. 35 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, muss eine Dienstleistung daher, damit sie in den Anwendungsbereich des Art. 47 der Mehrwertsteuerrichtlinie fällt, mit einem ausdrücklich bestimmten Grundstück im Zusammenhang stehen.

35      Da jedoch eine Vielzahl von Dienstleistungen auf die eine oder andere Weise mit einem Grundstück im Zusammenhang steht, ist außerdem erforderlich, dass Gegenstand der Dienstleistung das Grundstück selbst ist. Dies ist u. a. dann der Fall, wenn ein ausdrücklich bestimmtes Grundstück insoweit als wesentlicher Bestandteil einer Dienstleistung anzusehen ist, als es einen zentralen und unverzichtbaren Bestandteil dieser Dienstleistung darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteil Heger, Randnr. 25).

36      Die in Art. 47 der Mehrwertsteuerrichtlinie aufgezählten Dienstleistungen, die entweder die Nutzung oder die Herrichtung eines Grundstücks oder aber die Verwaltung – einschließlich der Verwertung – und die Bewertung eines Grundstücks betreffen, zeichnen sich nämlich dadurch aus, dass das Grundstück selbst der Gegenstand der Dienstleistung ist.

37      Eine Dienstleistung im Bereich der Lagerung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die nicht als Dienstleistung betreffend die Herrichtung, die Verwaltung oder die Bewertung eines Grundstücks angesehen werden kann, kann folglich nur dann in den Anwendungsbereich des genannten Art. 47 fallen, wenn dem Empfänger dieser Dienstleistung ein Recht auf Nutzung eines ausdrücklich bestimmten Grundstücks oder eines Teils desselben gewährt wird.

38      Wenn sich entsprechend den Ausführungen der Generalanwältin in Nrn. 42 und 43 ihrer Schlussanträge herausstellen sollte, dass die Empfänger einer solchen Dienstleistung im Bereich der Lagerung z. B. kein Recht auf Zugang zu dem Teil des Grundstücks haben, in dem ihre Waren gelagert sind, oder wenn das Grundstück bzw. das Gebäude, auf dem oder in dem die Waren gelagert werden sollen, keinen zentralen und unverzichtbaren Bestandteil der Dienstleistung darstellt, was von den nationalen Gerichten zu prüfen ist, kann eine Dienstleistung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nicht unter Art. 47 der Mehrwertsteuerrichtlinie fallen.

39      Folglich ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass Art. 47 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass eine komplexe Dienstleistung im Bereich der Lagerung, die in der Annahme von Waren in einem Lager, ihrer Unterbringung auf geeigneten Lagerregalen, ihrer Aufbewahrung, ihrer Verpackung, ihrer Ausgabe sowie ihrem Ent‑ und Verladen besteht, nur dann unter diesen Artikel fällt, wenn die Lagerung die Hauptleistung eines einheitlichen Umsatzes darstellt und den Empfängern dieser Dienstleistung ein Recht auf Nutzung eines ausdrücklich bestimmten Grundstücks oder eines Teils desselben gewährt wird.

Kosten

40      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

Art. 47 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2008/8/EG des Rates vom 12. Februar 2008 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass eine komplexe Dienstleistung im Bereich der Lagerung, die in der Annahme von Waren in einem Lager, ihrer Unterbringung auf geeigneten Lagerregalen, ihrer Aufbewahrung, ihrer Verpackung, ihrer Ausgabe sowie ihrem Ent‑ und Verladen besteht, nur dann unter diesen Artikel fällt, wenn die Lagerung die Hauptleistung eines einheitlichen Umsatzes darstellt und den Empfängern dieser Dienstleistung ein Recht auf Nutzung eines ausdrücklich bestimmten Grundstücks oder eines Teils desselben gewährt wird.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Polnisch.