IX R 12/17 – Entschädigung für den Verlust von Versorgungsanwartschaften – Zwangslage bei Einigung mit Arbeitgeber

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 13.3.2018, IX R 12/17
ECLI:DE:BFH:2018:U.130318.IXR12.17.0

Entschädigung für den Verlust von Versorgungsanwartschaften – Zwangslage bei Einigung mit Arbeitgeber

Leitsätze

NV: Widerruft der Arbeitgeber einseitig die bisherige betriebliche Versorgungszusage und bietet er den Beschäftigten eine neue betriebliche Altersversorgung an, die zu wesentlich niedrigeren Versorgungsansprüchen führt, so handelt es sich bei einer Zahlung des Arbeitgebers, die den zukünftigen Einnahmenverlust teilweise ausgleichen soll, um eine Entschädigung i.S. von § 24 Nr. 1 Buchst. a EStG.

Tenor

Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des Finanzgerichts München, Außensenate Augsburg, vom 26. Juli 2016  6 K 1608/13 aufgehoben.

Die Einkommensteuer 2010 wird unter Änderung des Einkommensteuerbescheids für 2010 in Gestalt der dazu ergangenen Einspruchsentscheidung auf den Betrag festgesetzt, der sich ergibt, wenn die Einkünfte des Klägers aus nichtselbständiger Arbeit um 45.662 EUR niedriger angesetzt und in derselben Höhe tarifbegünstigte außerordentliche Einkünfte berücksichtigt werden.

Die Berechnung der Steuer wird dem Beklagten übertragen.

Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Beklagte zu tragen.

Tatbestand

 
I.
1 
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist seit 1999 Angestellter der … (A). Die A gewährte ihren Beschäftigten eine betriebliche Altersversorgung nach beamtenrechtlichen Grundsätzen über eine eigene Versorgungseinrichtung. Zum 31. Dezember 2009 schloss die A diese Einrichtung und bot den Beschäftigten an, die bis zu diesem Zeitpunkt erworbenen Anwartschaften nach Maßgabe einer Dienstvereinbarung in ein beitragsfinanziertes System zu überführen. Bei Zustimmung zu diesem Angebot gewährte die A eine individuell berechnete Wechselprämie. Der Kläger nahm das Angebot zum Wechsel an und vereinnahmte im Streitjahr 2010 eine Wechselprämie von insgesamt 45.661,96 EUR.
2 
Der Kläger und seine mit ihm zusammen veranlagte Ehefrau, die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), gingen insofern von einer tarifbegünstigten Entschädigung aus. Die bis zum 31. Dezember 2009 gewährte Zusage hätte beim Kläger zu einer Altersrente in Höhe von 71,75 % des letzten Bruttogehalts (rd. 3.700 EUR/Monat) geführt. Die neue Zusage summiere sich dagegen auf voraussichtlich nur 2.699 EUR pro Monat. Um die Zustimmung zum Wechsel zu erhalten, habe der Arbeitgeber allen Betroffenen eine Wechselprämie als Teilentschädigung angeboten.
3 
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt –FA–) folgte dem nicht, unterwarf die Wechselprämie dem Regeltarif (Einkommensteuerbescheid für 2010 vom 6. Februar 2012) und wies den dagegen gerichteten Einspruch als unbegründet zurück (Einspruchsentscheidung vom 26. April 2013).
4 
Das Finanzgericht (FG) hat die Klage abgewiesen. Mit ihrer Revision erheben die Kläger die Sachrüge (Verletzung von § 24 Nr. 1 Buchst. a i.V.m. § 34 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes –EStG–).
5 
Die Kläger beantragen sinngemäß,
die Vorentscheidung aufzuheben, den Einkommensteuerbescheid für 2010 in Gestalt der Einspruchsentscheidung zu ändern und die Einkommensteuer 2010 auf den Betrag festzusetzen, der sich ergibt, wenn die Einkünfte des Klägers aus nichtselbständiger Arbeit um 45.662 EUR niedriger angesetzt und in derselben Höhe tarifbegünstigte außerordentliche Einkünfte berücksichtigt werden.
6 
Das FA beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
7 
Die Beteiligten haben übereinstimmend auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

Entscheidungsgründe

 
II.
8 
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Stattgabe der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung –FGO–). Das FG hat zu Unrecht die Voraussetzungen für eine tarifbegünstigte Entschädigung (§ 34 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 24 Nr. 1 Buchst. a EStG) verneint.
9 
1. Zur Begründung seiner Entscheidung hat das FG u.a. ausgeführt, eine tarifbegünstigte Entschädigung könne nur angenommen werden, wenn das dem weggefallenen Anspruch zugrunde liegende Rechtsverhältnis vollständig beendet sei (z.B. Urteil des Bundesfinanzhofs –BFH– vom 6. März 2002 XI R 36/01, BFH/NV 2002, 1144). Das FG hat insofern auf das Anstellungsverhältnis des Klägers bei der A abgestellt. Dieses sei nicht beendet, sondern fortgesetzt worden. Die Pensionszusage sei lediglich beschränkt bzw. modifiziert worden. Das genüge nicht.
10 
2. Diese Ausführungen halten rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
11 
a) Entschädigungen i.S. von § 24 Nr. 1 Buchst. a EStG sind Leistungen, die "als Ersatz für entgangene oder entgehende Einnahmen" gewährt werden, d.h. an die Stelle weggefallener oder wegfallender Einnahmen treten. Der Steuerpflichtige muss einen Schaden durch Wegfall von Einnahmen erlitten haben und die Zahlung muss unmittelbar dazu bestimmt sein, diesen Schaden auszugleichen (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Urteil vom 29. Februar 2012 IX R 28/11, BFHE 237, 56, BStBl II 2012, 569).
12 
b) Ohne Rechtsverstoß ist das FG zunächst davon ausgegangen, dass die vom Kläger vereinnahmte "Wechselprämie" nicht nur einen Anreiz für die Zustimmung zur Umstellung der betrieblichen Altersversorgung bieten sollte, sondern auch dazu bestimmt war, den zustimmenden Arbeitnehmer für den Verlust zukünftiger Rentenansprüche (teilweise) zu entschädigen. Das ergibt die Auslegung der Verträge. Zwar hat sich das FG im Urteil nicht ausdrücklich dazu geäußert, es hat die umstrittene Zahlung aber ohne weiteres als "Abfindungszahlung" bezeichnet und nicht infrage gestellt, dass es sich (zumindest auch) um eine Ersatzleistung für entgehende Einnahmen handeln sollte. Der BFH kann die Auslegung selbst vornehmen, weil das FG den Tatbestand insofern vollständig festgestellt hat.
13 
c) Zu Unrecht hat das FG jedoch angenommen, eine tarifbegünstigte Entschädigung sei nur anzunehmen, wenn darüber hinaus das zugrunde liegende Rechtsverhältnis vollständig beendet werde.
14 
aa) Der erkennende Senat hat bereits klargestellt, dass er der möglicherweise anders zu verstehenden Rechtsprechung des XI. Senats (z.B. BFH-Urteile vom 10. Oktober 2001 XI R 54/00, BFHE 197, 54, BStBl II 2002, 181, und vom 12. April 2000 XI R 1/99, BFH/NV 2000, 1195) insoweit nicht folgt (Senatsurteil vom 25. August 2009 IX R 3/09, BFHE 226, 261, BStBl II 2010, 1030). Das Gesetz verlangt nicht die vollständige Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Es genügt, wenn im Rahmen eines fortgesetzten Rechtsverhältnisses auf neuer Rechtsgrundlage eine Entschädigung für den Verlust (Wegfall) zukünftiger Ansprüche geleistet wird (Teilentschädigung). Der Senat hat dies insbesondere bei einer Entschädigung für die unbefristete Reduzierung der wöchentlichen Arbeitszeit bei Fortsetzung des Anstellungsverhältnisses bejaht (BFH-Urteil in BFHE 226, 261, BStBl II 2010, 1030).
15 
bb) Diese Rechtsprechung ist auf den Streitfall übertragbar. Widerruft der Arbeitgeber einseitig die bisherige betriebliche Versorgungszusage und bietet er den Beschäftigten eine neue betriebliche Altersversorgung an, die zu wesentlich niedrigeren Ansprüchen führt, so handelt es sich bei einer Zahlung des Arbeitgebers, die den zukünftigen Einnahmenverlust teilweise ausgleichen soll, um eine Entschädigung i.S. von § 24 Nr. 1 Buchst. a EStG. Weggefallen sind die Anwartschaften aus der bisherigen Versorgungszusage. Die Abfindungszahlung, mit der dieser Verlust teilweise ausgeglichen werden soll, beruht insoweit auf einer neuen Rechtsgrundlage. Darin liegt nicht lediglich eine Modifikation des bisherigen Vertrags. Das gilt jedenfalls, wenn –wie im Streitfall– das System der betrieblichen Altersversorgung vom Arbeitgeber vollständig um- und auf eine neue Rechtsgrundlage gestellt wird.
16 
cc) Das FG ist von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen. Sein Urteil kann deshalb keinen Bestand haben.
17 
3. Die Sache ist spruchreif.
18 
a) Unproblematisch ist zunächst, dass der Kläger der Verständigung mit dem Arbeitgeber zugestimmt hat. Eine "Zwangssituation", auf die es nach der Rechtsprechung für die Annahme einer Entschädigung i.S. von § 24 Nr. 1 EStG ankommt, ist, wenn man an dem Erfordernis festhält (zweifelnd BFH-Urteil vom 23. November 2016 X R 48/14, BFHE 256, 290, BStBl II 2017, 383, Rz 26), beim Arbeitnehmer jedenfalls nicht deshalb zu verneinen, weil er einer gütlichen Einigung zugestimmt hat (vgl. BFH-Urteil in BFHE 237, 56, BStBl II 2012, 569). Im Streitfall bestehen insoweit keine Besonderheiten. Der Kläger hat nachvollziehbar dargelegt, dass ihm die A bei Nichtzustimmung in Aussicht gestellt habe, keine Abfindung und lediglich reduzierte Versorgungsleistungen zu zahlen. Wenn der Arbeitnehmer unter diesen Bedingungen dem neuen Regelwerk zustimmt, steht er dabei unter einem nicht unerheblichen Druck.
19 
b) Auf der Grundlage der vom FG festgestellten Tatsachen steht ferner fest, dass es beim Kläger im Streitjahr zu einer "Zusammenballung" von Einkünften und infolge dessen zu einer Progressionssteigerung als Voraussetzung für die Anwendung von § 34 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2 EStG gekommen ist (dazu zuletzt BFH-Urteil vom 11. Oktober 2017 IX R 11/17, BFHE 259, 529, Der Betrieb 2018, 163). Die Abfindung von 45.662 EUR hat sich auf den Steuertarif erhöhend ausgewirkt.
20 
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

Quelle: bundesfinanzhof.de