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Kindergeld für Berechtigte mit Wohnsitz in Polen

Kindergeld für Berechtigte mit Wohnsitz in Polen

In Polen lebende Kindergeldberechtigte erhalten Kindergeld nur für den Zeitraum, in dem sie inländische Einkünfte erzielt haben.

Revision eingelegt – BFH-Az.: XI R 29/13

Niedersächsisches Finanzgericht 10. Senat, Urteil vom 16.05.2013, 10 K 233/10

§ 1 Abs 3 EStG, § 49 EStG, § 62 EStG

Tatbestand

 

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Die Beteiligten streiten um die Frage, ob der in Polen lebenden Klägerin Kindergeld auch für Zeiträume zusteht, in denen sie nicht in Deutschland gearbeitet hat.

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Die Klägerin ist polnische Staatsangehörige. Sie lebt mit ihrem Ehemann und den gemeinsamen Kindern N (geb. am 7. Oktober 2000) und P (geb. 21. November 2002) in Polen. Im Streitjahr 2007 war die Klägerin vom 10. April bis 10. Juni und vom 2. Juli bis 31. August sozialversicherungspflichtig bei der K Gartenbau in Deutschland beschäftigt. Für diese Tätigkeit erhielt sie Arbeitslohn von insgesamt 5.522 €. Dieser wurde jeweils am Ende des Monats bzw. am Ende des Beschäftigungszeitraums in bar ausgezahlt. Weitere inländische Einkünfte erzielte die Klägerin im Jahr 2007 nicht. Die Klägerin wurde auf ihren Antrag hin vom zuständigen Finanzamt L als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig nach § 1 Abs. 3 Einkommensteuergesetz (EStG) behandelt. Für ihre beiden Kinder erhielt die Klägerin in Polen Familienleistungen.

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Mit Bescheid vom 14. Januar 2010 setzte die beklagte Familienkasse gegenüber der Klägerin Kindergeld für die Monate April 2007 bis einschließlich August 2007 in Höhe der Differenz zwischen dem deutschen Kindergeld und den polnischen Familienleistungen fest. Wegen der Berechnung wird auf die Anlage zum Bescheid (Blatt 40 Kindergeldakte) Bezug genommen. Für die übrigen Monate des Jahres 2007 gewährte die Beklagte kein Kindergeld.

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Hiergegen wendet sich die Klägerin nach erfolglosen Einspruchsverfahren mit der vorliegenden Klage. Sie ist der Ansicht, dass ihr für das gesamte Jahr 2007 Kindergeld zustehe, da sie einkommensteuerrechtlich für das gesamte Jahr nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt worden sei. Eine Versagung ihres Kindergeldanspruchs stelle eine nicht gerechtfertigte Diskriminierung von Wanderarbeitern gegenüber sog. Grenzpendlern da, die ohne einen Wohnsitz in Inland ihre Einkünfte im Inland erzielten und für das gesamte Jahr einen Kindergeldanspruch hätten. Wegen der Einzelheiten des Vorbringens, insbesondere auch der europarechtlichen Argumentation sowie der Auseinandersetzung mit Literatur und Rechtsprechung wird auf den Schriftsatz der Klägerin vom 13. Mai 2013 Bezug genommen.

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Die Klägerin beantragt,

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unter Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom 14. Januar 2010 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 28. Juni 2010 die Beklagte zu verpflichten, gegenüber der Klägerin Kindergeld für deren Kinder in Höhe von 2.156 € festzusetzen und zu gewähren;

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hilfsweise,

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das Verfahren im Hinblick auf eine Anrufung des EuGH durch den 3. Senat des BFH (C – 4/13) sowie der beim BFH anhängigen Revisionsverfahren III R 10/12 und XI R 39/10 auszusetzen bzw. ruhen zu lassen;

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weiterhin hilfsweise,

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dem EUGH folgende Frage im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens vorzulegen:

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Ist das EU-Primärrecht (hier insbesondere die Artikel 3 und 45 des Vertrages über die Europäische Union (AEUV) sowie das EU-Sekundärrecht (hier insbesondere die VO 1408/71 bzw. 883/2004) jeweils in ihren aktuellen Fassungen dahin auszulegen das sie einer Entscheidung des Mitglied-staates entgegenstehen, wonach einem Angehörigen eines Mitglied-staates, der sich zur Ausübung einer Beschäftigung in diesem Mitgliedstaat dort aufhält und tätig ist (sog. Wanderarbeitnehmer) und der als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig im gesamten Kalenderjahr veranlagt wurde, Familienleistungen i.S.d. VO 1408/71 bzw. 883/2004 lediglich für den Zeitraum der Ausübung der Beschäftigung in diesem Mitgliedstaat gewährt wird, wenn nach der Entscheidung des Mitglied-staates jedoch einem Angehörigen eines Mitgliedstaates, der sich lediglich als sog. Grenzpendler innerhalb seiner täglichen Arbeitszeit in diesem Mitgliedstaat aufhält und als unbeschränkt einkommenssteuerpflichtig im gesamten Kalenderjahr veranlagt wurde, die Familienleistungen für das gesamte Kalenderjahr gewährt werden?

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Die Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Sie ist der Ansicht, dass Kindergeld nur für den Zeitraum zu gewähren sei, in dem die Klägerin in Deutschland sozialversicherungspflichtig beschäftigt war. Einem Ruhen des Verfahrens stimmt die Beklagte nicht zu.

Entscheidungsgründe

 

I.

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Nachdem die Bundesagentur für Arbeit ihre Familienkassen zum 1. Mai 2013 neu geordnet hat, war das Rubrum entsprechend anzupassen, da insoweit aufgrund dieses Organisationsaktes ein Beklagtenwechsel stattgefunden hat (vgl. BFH-Urteil vom 1. August 1979 VII R 115/76, BStBl II 1979, 714).

II.

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Die Klage ist unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Kindergeld für die Monate Januar bis März 2007 sowie September bis Dezember 2007.

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1. Der Klägerin steht nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG für die streitigen Monate Januar bis März 2007 und September bis Dezember 2007 kein Anspruch auf Kindergeld zu; denn nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG hat Anspruch auf Kindergeld für Kinder i. S. d. § 63 EStG, wer im Inland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Diese Voraussetzungen erfüllt die Klägerin nicht. Anhaltspunkte für einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt der Klägerin in diesem Zeitraum im Inland sind weder von der Klägerin vorgetragen noch aus den Akten ersichtlich.

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2. Für die streitigen Monate Januar bis März 2007 und September bis Dezember 2007 steht der Klägerin auch kein Anspruch nach § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG zu. Nach dieser Norm hat Anspruch auf Kindergeld, wer ohne Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wird. Die Behandlung als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig erfolgt jedoch nur, soweit inländische Einkünfte i.S.d. § 49 EStG erzielt werden. Dementsprechend liegt eine Behandlung nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig bei der Anwendung des § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG nur für diejenigen Kalendermonate vor, in denen der Kindergeldberechtigte Einkünfte i.S.d. § 49 EStG erzielt, die nach § 1 Abs. 3 EStG der Einkommensteuer unterliegen (vgl. BFH-Urteil vom 24. Oktober 2012 V R 43/11, BFH/NV 2013, 448).

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Vorliegend hat die Klägerin im Jahr 2007 durch die nichtselbständige Tätigkeit für die K Gartenbau lediglich in den Monaten April bis August inländische Einkünfte i.S.d. § 49 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a EStG erzielt. Der für diese Tätigkeit entrichtete Arbeitslohn wurde vollständig in den Monaten April bis August 2007 in bar an die Klägerin ausgezahlt. In den übrigen Monaten des Jahres 2007 erzielte die Klägerin keine inländischen Einkünfte.

III.

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Das Gericht durfte in der Sache entscheiden. Eine Aussetzung des Verfahrens nach § 74 FGO kommt nicht in Betracht. Nach dieser Norm kann das Gericht die Aussetzung des Verfahrens anordnen, wenn die Entscheidung des Rechtstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder dem Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtstreits bildet. Eine derartige Aussetzung ist nicht im Hinblick auf das von der Klägerin genannte Verfahren C – 4/13 vor dem EuGH geboten. Der BFH hat dem EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens am 27. September 2012 (III R 40/09, BFH/NV 2013, 302) folgende Fragen vorgelegt:

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1. Ist Art. 76 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen, dass es im Ermessen des zuständigen Trägers des Beschäftigungsmitgliedstaats steht, Art. 76 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 anzuwenden, wenn im Wohnmitgliedstaat der Familienangehörigen kein Antrag auf Leistungsgewährung gestellt wird?

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2. Für den Fall, dass die erste Frage bejaht wird: Aufgrund welcher Ermessens-erwägungen kann der für Familienleistungen zuständige Träger des Beschäftigungsmitgliedstaats Art. 76 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 anwenden, als ob Leistungen im Wohnmitgliedstaat der Familienangehörigen gewährt würden?

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3. Für den Fall, dass die erste Frage bejaht wird: Inwieweit unterliegt die Ermessensentscheidung des zuständigen Trägers der gerichtlichen Kontrolle?

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Da die hier zu entscheidende Rechtsfrage nicht den Gegenstand des Verfahrens beim EuGH bildet, kommt eine Aussetzung vorliegend nicht in Betracht.

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Der erkennende Senat hält eine Aussetzung des Klageverfahrens im Hinblick auf die beim BFH unter den Aktenzeichen III R 10/12 und XI R 39/10 anhängigen Revisionsverfahren nicht für geboten. Denn nach der ständigen Rechtsprechung des BFH, der sich der erkennende Senat anschließt, darf ein Rechtsstreit nicht allein deshalb nach § 74 FGO ausgesetzt werden, weil beim BFH ein Revisionsverfahren anhängig ist, dass eine vergleichbare Rechtsfrage betrifft oder als Musterverfahren geführt wird (vgl. BFH-Beschluss vom 24. September 2012 VI B 79/12, BFH/NV 2013, 70 m.w.N.).

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Ebenso war kein Ruhen des Verfahrens nach § 155 Finanzgerichtsordnung (FGO) i.V.m. § 251 Zivilprozessordnung (ZPO) anzuordnen, da dies nicht von beiden Beteiligten beantragt worden ist.

IV.

27
Für den erkennenden Senat besteht kein Anlass, dem EuGH die im Klageantrag hilfsweise gestellte Rechtsfrage vorzulegen. Eine europarechtswidrige Ungleichbehandlung von Grenzgängern und Wanderarbeitern liegt nicht vor. Beide Gruppen haben im Inland einen Kindergeldanspruch nach dem Monatsprinzip für den Zeitraum ihrer anspruchs-begründenden Tätigkeit. Die von der Klägerin gerügte Ungleichbehandlung der Wanderarbeiter läge nach Ansicht des erkennenden Senats nur dann vor, wenn einem Grenzpendler, der seiner Tätigkeit im Inland erst während des laufenden Jahres aufnimmt oder vor Ablauf des Jahres beendet, Kindergeld für das gesamte Jahr zustünde. Diese Frage ist jedoch -soweit ersichtlich- in Rechtsprechung und Literatur noch nicht positiv beantwortet worden. Wegen der weiteren Begründung schießt sich der Senat den Ausführungen des BFH im Urteil vom 24. Oktober 2012 (V R 43/11, BFH/NV 2013, 448) an.

V.

28
Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO. Die Zulassung der Revision beruht auf § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO; die Frage unter welchen Voraussetzungen Wander-arbeiter, die nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt werden, für das gesamte Jahr einen Anspruch auf Kindergeld haben und ob ggf. eine Gleichstellung mit sog. Grenzpendlern erfolgen muss, ist Gegenstand mehrere Revisionsverfahren beim BFH und hat daher grundsätzliche Bedeutung.