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Eheleute, die ihre gesamten steuerpflichtigen Einkünfte im Inland versteuern, können die Zusammenveranlagung (Splitting) wählen

FG Baden-Württemberg Urteil vom 18.4.2013, 3 K 825/13

Eheleute, die in der Schweiz ansässig geworden sind und weiterhin ihre gesamten steuerpflichtigen Einkünfte im Inland versteuern, können die Zusammenveranlagung unter Anwendung des Splitting-Verfahrens wählen (Folgeentscheidung zum EuGH-Urteil vom 28. Februar 2013 C-425/11, Ettwein, DStR 2013, 514

Tenor

 

1. Der Einkommensteueränderungsbescheid für 2008 vom 30. Juni 2011, der Einkommensteuerbescheid für 2008 vom 22. März 2010 und die Einspruchsentscheidung vom 10. September 2010 (jeweils zur Steuernummer: xxxxx/xxxxx) werden aufgehoben. Der Beklagte wird verpflichtet, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts auf der Grundlage einer Zusammenveranlagung der Klägerin mit R. E. die geänderte Einkommensteuer zu errechnen, ferner der Klägerin das Ergebnis dieser Berechnung unverzüglich mitzuteilen und den Einkommensteuerbescheid mit dem geänderten Inhalt nach Rechtskraft diese Urteils neu bekanntzugeben.

 

2. Die Kosten des Verfahrens hat der Beklagte zu tragen.

 

3. Die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren wird für notwendig erklärt.

 

4. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Ermöglicht der Kostenfestsetzungsbeschluss eine Vollstreckung von mehr als 1.500 EUR, darf die Vollstreckung nur gegen Sicherheitsleistung in Höhe des darin festgesetzten Erstattungsbetrages erfolgen. In anderen Fällen kann der Beklagte die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder durch Hinterlegung abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit leisten.

 

5. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1
Die Klägerin ist die Ehefrau von B (im Folgenden: B). Beide besitzen ausschließlich die deutsche Staatsangehörigkeit. Die Klägerin ist Unternehmensberaterin, B gestaltender Künstler (Maler).
2
Die Eheleute hatten im Veranlagungszeitraum 2008 (Streitjahr) ihren Wohnsitz (§ 1 Abs. 1 Satz 1 der im Streitjahr geltenden Fassung des Einkommensteuergesetzes -EStG 2008-) in X/Kanton Y/Confoederatio Helvetica (Schweizerische Eidgenossenschaft -im Folgenden auch: CH bzw. Schweiz-). Im Übrigen hatten sie dort auch ihre ständige Wohnstätte und den Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen i.S.v. Art. 4 Abs. 2 Buchstabe a und b des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und Vermögen vom 11. August 1971 (BGBI II 1972, 1022, BStBl I 1972, 519)-DBA-Schweiz 1971-.
3
Aus der Unternehmensberatung erzielte die Klägerin im Streitjahr als Einzelunternehmerin Einkünfte aus Gewerbebetrieb in Höhe von xxx.xxx EUR. B übte seine Tätigkeit als Maler im Rahmen der B GbR (B-GbR) aus, an der die Klägerin mit 49 v.H. und E mit 51 v.H. beteiligt waren. Nach dem Bescheid für das Streitjahr vom 28. Juni 2011 über die gesonderte und einheitliche Feststellung der Einkünfte bezüglich der B-GbR erzielten die Klägerin und E Einkünfte aus selbständiger Arbeit in Höhe jeweils von xx.xxx,xx EUR. Die Unternehmensberatung wie auch die Tätigkeit der B-GbR (im wesentlichen durch den E) wurden in Konstanz (Bundesrepublik Deutschland -BRD bzw. Inland-) ausgeübt. Die B-GbR und das Einzelunternehmen der Klägerin hatten im Streitjahr jeweils nur eine Betriebsstätte (Art, 7 Abs. 1 DBA-Schweiz 1971 i.V.m. Art. 5 Abs. 1 DBA-Schweiz 1971) bzw. eine feste Einrichtung (Art. 14 DBA-Schweiz 1971) im Inland. Sowohl die B-GbR als auch das Einzelunternehmen der Klägerin erbrachten im Streitjahr ausschließlich Leistungen gegenüber im Inland ansässigen Abnehmern.
4
Im Übrigen wurden Einnahmen aus Kapitalvermögen in Gestalt von Zinsen für eine Kapitalanlage bei der Bank I in Z (im Folgenden: Bank I) in Höhe von x.xxx,xx EUR (durch die Klägerin) und von xx,xx EUR (durch B) erzielt (Hinweis auf das Schreiben der Klägerin vom 28. Juni 2011, Bl. 216-230 der FG-Akten, und die Jahressteuerbescheinigungen der Bank I vom 26. Januar 2009, Bl. 25 und 26 der Einkommensteuerakten Band I zur St.Nr.: xxxx/xxxxx -im Folgenden: ESt-Akten I-).
5
In ihrer am 15. Oktober 2009 beim FA eigereichten und gemeinsam unterschriebenen Einkommensteuererklärung beantragten die Klägerin und E die Zusammenveranlagung (Zeile 19 des Mantelbogens zur Einkommensteuererklärung, Bl. 13 der ESt-Akten I). Die Eheleute verwandten bei der Abgabe der Einkommensteuererklärung den Vordruck 2008ESt1A011.
6
Im -unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergangenen (§ 164 der Abgabenordnung [AO])- Einkommensteuerbescheid vom 11. November 2009 veranlagte das FA die Eheleute zusammen zur Einkommensteuer unter Anwendung des Splitting-Verfahrens (s. § 32a Abs. 5 EStG 2008). Die Einkünfte aus Gewerbebetrieb und aus selbständiger Arbeit wurden erklärungsgemäß angesetzt. Die Einkünfte aus Kapitalvermögen beliefen sich nach Berücksichtigung des Werbungskosten-Pauschbetrags (§ 9a Abs. 1 Nr. 2 EStG 2008) und des Sparer-Freibetrags (§ 20 Abs. 9 Sätze 2 ff. EStG 2008) auf jeweils 0 EUR. Die Einkommensteuer betrug 40.836 EUR.
7
Mit Schreiben vom 11. November 2009 teilte das FA den Eheleuten mit, dass der unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehende Einkommensteuerbescheid vom selben Tag aufgehoben werde, weil die Voraussetzungen für eine Zusammenveranlagung nicht vorlägen. Anschließend würden Einzelveranlagungen gegenüber den Eheleuten durchgeführt. Daraufhin hob das FA mit dem -auf § 164 Abs. 2 AO gestützten- Bescheid vom 1. Dezember 2009 den Einkommensteuerbescheid auf. Zur Begründung wurde dargelegt, dass eine Zusammenveranlagung gemäß § 1a Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 i.V.m. § 1a Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG 2008 nicht in Betracht komme, weil die Eheleute im Streitjahr weder ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates der Europäischen Union noch eines Staates hatten, auf den das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum zur Anwendung komme.
8
Mit dem form- und fristgerecht eingelegten Einspruch machten die Eheleute geltend, die „Antragsfiktion des § 1a Abs. 1 Nr. 2 EStG 2008“ sei nicht zu berücksichtigen, weil beide Ehegatten die Voraussetzungen der „fiktiven unbeschränkten Einkommensteuerpflicht“ erfüllen würden.
9
Daraufhin legte das FA im Schreiben vom 30. Dezember 2009 noch einmal ausführlich seine Rechtsauffassung des Inhalts dar, dass auch die „fiktive unbeschränkte Einkommensteuerpflicht“ der Eheleute deren Zusammenveranlagung und die Anwendung des Splitting-Verfahrens nicht ermögliche. Gleichzeitig wurden die Eheleute gebeten, mitzuteilen, ob sie den Einspruch zurücknehmen oder aufrecht erhalten wollen.
10
Am 22. März 2010 gab das FA jeweils einen an die Klägerin und an den B gerichteten Einzelveranlagungsbescheid zur Post. Die Einkommensteuerschuld der Klägerin wurde auf xx.xxx,xx EUR festgesetzt. Die Einkünfte der Klägerin aus Gewerbebetrieb und selbständiger Arbeit wurden wie bisher angesetzt, deren Einkünfte aus Kapitalvermögen nunmehr -wegen der geänderten Aufteilung des Sparer-Freibetrags- mit xxx EUR (Bl. 32 der Einkommensteuerakten St.Nr.: xxxxx/xxxxx -im Folgenden: ESt-Akten II-). Die Einkommensteuer des E wurde auf 0 EUR festgesetzt (Bl. 6 der Einkommensteuerakten Band I, St.Nr.: xxxxx/xxxxx -im Folgenden: ESt-Akten III-).
11
Die Eheleute erklärten am 1. April 2010 im Anschluss an das (oben erwähnte) Schreiben des FA vom 30. Dezember 2009 die Rücknahme ihres Einspruchs.
12
Der an den E gerichtete Einkommensteuerbescheid vom 22. März 2010 wurde nach Ablauf der Einspruchsfrist bestandskräftig.
13
Die Klägerin legte gegen den an sie gerichteten Einkommensteuerbescheid am 20. April 2010 form-und fristgerecht Einspruch ein, mit dem sie vorbringt, dass die Versagung familienbedingter Entlastungen (Zusammenveranlagung mit B und Splitting-Tarif) gegen Art. 6 des Grundgesetzes (GG) und im Übrigen auch gegen Art. 1 Buchstabe d des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit, unterzeichnet in Luxemburg vom 21. Juni 1999, das am 2. September 2001 vom Bundestag als Gesetz beschlossen worden (BGBl II 2001, 810) und am 1. Juni 2002 in Kraft getreten ist (FZA bzw. auch: Abkommen EG-Schweiz), verstoße.
14
Zusammen mit dem Einspruchsschreiben wurden auch die „Bescheinigungen außerhalb EU/EWR“ betreffend die Klägerin und E vorgelegt (Bl. 3-6 der Rechtsbehelfsakten -Rb-Akten-), die am 16. März 2010 von einem Bediensteten der Kantonalen Steuerverwaltung Y, natürliche Personen (… straße xx in xxxx U/CH) unterzeichnet worden waren. Danach haben weder die Klägerin noch B im Streitjahr Einkünfte erzielt, die in ihrem Ansässigkeitsstaat (Schweiz) der Besteuerung unterlegen haben. Nach den Verfügungen vom 3. Februar 2010 des Gemeindesteueramts X/CH ergibt sich ein in der Schweiz steuerbares Einkommen des Klägerin und des B von jeweils 0 CHF, im Ausland von xxx.xxx CHF (Bl. 204-207 der FG).
15
Der Einspruch wurde mit Rechtsbehelfsentscheidung vom 10. September 2010 als unbegründet zurückgewiesen. Auf die hierzu dargelegten Gründe wird zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen.
16
Anschließend erhob die Klägerin Klage mit der sie weiterhin die Zusammenveranlagung mit E unter Anwendung des Splitting-Verfahrens verfolgt.
17
Am 21. April 2011 fand vor dem Berichterstatter des erkennenden Senats beim FA ein Termin zur Erörterung des Sach- und Streitstandes (Erörterungstermin) statt. Auf die hierüber den Beteiligten bekanntgegebene Niederschrift wird Bezug genommen (Bl. 70-75 der FG-Akten). Im Erörterungstermin erklärte B ausdrücklich, dass er mit der Klägerin zusammen zur Einkommensteuer veranlagt werden will und deshalb einer Änderung des gegenüber ihm ergangenen -inzwischen bestandskräftig gewordenen- Einkommensteueränderungsbescheids vom 22. März 2010 zustimme (Hinweis auf § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe a AO). Diesen Antrag wiederholte B ausdrücklich in der mündlichen Verhandlung am 7. Juli 2011 (Hinweis auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung, Bl. 240 und 241 der FG-Akten).
18
Am 30. Juni 2011 hatte das FA gegenüber der Klägerin einen auf § 10d Abs. 1 Satz 3 EStG 2008 gestützten Einkommensteueränderungsbescheid zur Post gegeben, in dem ein Verlustrücktrag aus dem Jahr 2009 in Höhe von xx.xxx EUR berücksichtigt wurde. Die Einkünfte der Klägerin wurden (im wesentlichen) wie bisher angesetzt. Im Streitpunkt des vorliegenden Klageverfahrens ergab sich keine Änderung. Weiterhin wurde der Klägerin die Zusammenveranlagung mit E und die Anwendung des Splitting- Verfahrens verweigert. Der Bescheid wurde gemäß § 68 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zum Gegenstand des Klageverfahrens.
19
Mit Senatsbeschluss vom 7. Juli 2011 3 K 3752/10 (juris) wurde die Aussetzung des Klageverfahrens gemäß § 74 FGO angeordnet und dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) folgende Rechtsfrage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
20
Sind die Vorschriften des Abkommens EG-Schweiz insbesondere dessen Art. 1, 2, 11, 16 und 21 sowie Anhang I Art. 9, 13 und 15 dahin auszulegen, dass sie es nicht zulassen, in der Schweiz lebenden Eheleuten, die mit ihren gesamten steuerpflichtigen Einkünften der Besteuerung in der Bundesrepublik Deutschland unterliegen, die Zusammenveranlagung unter Berücksichtigung des Splitting-Verfahrens zu verweigern?
21
Mit Urteil vom 28. Februar 2013 C-425/11 (Deutsches Steuerrecht -DStR- 2013, 514) hat der EuGH für Recht erkannt:
22
Art. 1 Buchst. a des Abkommens EG-Schweiz, sowie die Art. 9 Abs. 2, 13 Abs. 1 und 15 Abs. 2 des Anhangs I dieses Abkommens sind dahin auszulegen, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, nach der Eheleuten, die Staatsangehörige dieses Staates sind und mit ihren gesamten steuerpflichtigen Einkünften der Besteuerung in diesem Staat unterliegen, die in dieser Regelung vorgesehene Zusammenveranlagung unter Berücksichtigung des Splitting-Verfahrens allein deshalb verweigert wird, weil ihr Wohnsitz im Hoheitsgebiet der Schweizerischen Eidgenossenschaft liegt.
23
Die Klägerin beantragt, den Einkommensteueränderungsbescheid vom 30. Juni 2011, den Einkommensteuerbescheid vom 20. März 2010 und die Einspruchsentscheidung vom 10. September 2010 aufzuheben und das FA zu verpflichten, eine Zusammenveranlagung mit E durchzuführen und das Splitting-Verfahren anzuwenden, hilfsweise die Revision zuzulassen.
24
Das FA beantragt (weiterhin), die Klage abzuweisen, hilfsweise die Revision zuzulassen.
25
Nach Bekanntgabe des EuGH-Urteils in DStR 2013, 514 teilte das FA im Schreiben vom 6. März 2013 mit, dass es dem Klagebegehren auf Weisung seiner vorgesetzten Behörden (Bundesministerium der Finanzen, Finanzministerium Baden-Württemberg und Oberfinanzdirektion Karlsruhe) nicht durch den Erlass eines Abhilfebescheids entsprechen werde, sondern ein Urteil wünsche, weil es sich „nur“ um ein Vorabentscheidungsersuchen gehandelt habe.
26
Wegen der Anträge der Beteiligten wird auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 7. Juli 2011 verwiesen (Bl. 240 und 241 der FG-Akten).
27
Die Beteiligten haben übereinstimmend auf mündliche Verhandlung verzichtet.
28
Dem erkennenden Senat lagen folgende Akten vor:
1 Band Einkommensteuerakten St.Nr.: xxxx/xxxxx;
1 Band Einkommensteuerakten Band I St.Nr.: xxxx/xxxxx;
1 Band Einkommensteuerakten Band I St.Nr.: xxxxx/xxxxx;
1 Band Feststellungsakte Band I St.Nr.: xxxxx/xxxxx;
1 Band Rechtsbehelfsakten Band I St.Nr.: xxxxx/xxxxx;
1 Band Umsatzsteuerakte Band I St.Nr.: xxxxx/xxxxx;
1 Band Dauerunterlagen St.Nr.: xxxxx/xxxxx;
1 Band Umsatzsteuerakte St.Nr.: xxxxx/xxxxx;
1 Band Gewerbesteuerakte Band I ab 2008 St.Nr.: xxxxx/xxxxx.

Entscheidungsgründe

29
Die Klage ist begründet. Zu Unrecht hat das FA im angegriffenen Einkommensteueränderungsbescheid die Zusammenveranlagung der Klägerin mit E unter Anwendung des Splitting-Verfahrens abgelehnt, weil die Klägerin und ihr Ehemann (E) im Streitjahr ihren Wohnsitz (§ 8 AO) und gewöhnlichen Aufenthalt (§ 9 AO) im Hoheitsgebiet der Schweizerischen Eidgenossenschaft und damit nicht im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union (EU) oder eines Staates hatten, auf den das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) Anwendung fand.
30
I.1. Nach §§ 26 Abs. 1 Halbsatz 1 Alternative 3 EStG, 1 Abs. 3, 1a Abs. 1 Satz 1, 1a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sätze 1, 1a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 2 EStG 2008 können für das Streitjahr nicht dauernd getrennt lebende Ehegatten auf einen gemeinsam gestellten Antrag zusammen zur Einkommensteuer veranlagt werden (Stapperfend in: Herrmann/Heuer/Raupach, Einkommensteuergesetz-Körperschaftsteuergesetz, Kommentar, § 1a EStG Anm. 30 mit weiteren Nachweisen) unter Anwendung des Splitting-Verfahrens, wenn ein Ehegatte Staatsangehöriger eines Mitgliedstaates der EU oder eines Staates ist, auf den das Abkommen über den EWR anwendbar ist, dieser auf Antrag nach § 1 Abs. 3 EStG 2008 als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig zu behandeln ist, der andere Ehegatte seinen Wohnsitz (§ 8 AO) oder gewöhnlichen Aufenthalt (§ 9 AO) in einem EU- oder EWR-Staat hat und beide Ehegatten die Voraussetzungen der sog. fiktiven unbeschränkten Einkommensteuerpflicht des § 1 Abs. 3 Sätze 1-4 EStG 2008 erfüllen (Urteil des Bundesfinanzhofs -BFH- vom 8. September 2010 I R 28/10, BStBl II 2011, 269; Schneider in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, Kommentar zum EStG, § 26 Rdnr. B 68b) oder die nicht der deutschen Einkommensteuer unterliegenden Einkünfte den doppelten Grundfreibetrag nach § 32a Abs. 1 Satz 2 Nr. EStG 2008 nicht übersteigen (vgl. § 1 Abs. 3 Satz 2 EStG 2008; Gosch in: Kirchhof, EStG, Kommentar, 12. Aufl., § 1a Rn. 4; Heger in: PraxisReport Steuerrecht [juris] -im Folgenden: jurisPR-Steuerrecht- 8/2011 Anm. 2 zu Änderungen durch das JStG 2008).
31
2. Diese Voraussetzungen für eine Zusammenveranlagung der Klägerin mit B nach deutschem Recht liegen im Streitfall nur teilweise vor (Hinweis auf den Senatsbeschluss 3 K 3752/10, juris, Entscheidungsgründe zu II.B.2.):
32
Die Klägerin und ihr Ehemann hatten im Streitjahr weder ihren Wohnsitz (§ 8 AO) noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt (§ 9 AO) in der Bundesrepublik Deutschland und beide sind damit nicht nach § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG 2008 im Inland unbeschränkt einkommensteuerpflichtig;
Die Eheleute sind jedoch nach § 1 Abs. 3 EStG 2008 im Inland als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig aufgrund ihres entsprechenden -übereinstimmend beim FA gestellten- Antrags zu behandeln: ihre gesamten im Streitjahr erzielten Einkünfte (aus Gewerbetrieb und aus selbständiger Arbeit) unterliegen der deutschen Einkommensteuer (vgl. § 1 Abs. 3 Satz 2 EStG 2008; s. insoweit den gegenstandslos gewordenen Einkommensteuerbescheid über die Zusammenveranlagung der Eheleute vom 11. November 2009); ihre Einkünfte aus Kapitalvermögen sind nach Berücksichtigung des Werbungskosten-Pauschbetrags (§ 9a Satz 1 Nr. 2 EStG 2008) und des Sparer-Freibetrags (§ 20 Abs. 9 EStG 2008) schon deshalb im Inland als einkommensteuerfrei zu beurteilen und nicht zu berücksichtigen (vgl. § 1 Abs. 3 Satz 4 EStG 2008);
Der Umstand, dass die Eheleute im Streitjahr keine nicht der deutschen Besteuerung unterliegenden Einkünfte erzielt haben, wurde durch Bescheinigungen der Steuerverwaltung ihres Ansässigkeitsstaates, der Schweizerischen Eidgenossenschaft (der ESTV) nachgewiesen (§ 1 Abs. 3 Satz 5 EStG 2008; s. die Bescheinigungen außerhalb EU/EWR vom 16. März 2010 bzw. die Veranlagungsverfügungen des Kantons Y/Gemeindesteueramt X/CH vom 3. Februar 2010);
Die Eheleute haben einen Antrag auf Zusammenveranlagung für das Streitjahr gestellt (§ 1a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 EStG 2008 i.V.m. § 26 Abs. 1 Satz 1 EStG 2008), wobei die Voraussetzungen des § 26 Abs. 1 EStG 2008 für eine Zusammenveranlagung zwischen der Klägerin und E -insoweit zu Recht zwischen den Beteiligten unstreitig- vorliegen (Stapperfend in: Herrmann/Heuer/Raupach, a.a.O., § 1a EStG Rn. 30 i.V.m. Pflüger in: Herrmann/Heuer/Raupach, a.a.O., § 26 EStG, Anm.22 ff.).
33
3.a) Eine Zusammenveranlagung (unter Anwendung des Splitting-Verfahrens) der Klägerin mit dem B ist aus der Sicht der Klägerin nach der zuvor dargelegten deutschen, einkommensteuerrechtlichen Gesetzeslage jedoch deshalb nicht zulässig, weil B im Streitjahr weder einen Wohnsitz (§ 8 AO) noch einen gewöhnlichen Aufenthalt (§ 9 AO) in einem EU- oder EWR-Staat, sondern auf dem Hoheitsgebiet der Schweizerischen Eidgenossenschaft hatte (§ 1a Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 i.V.m. § 1a Abs. 1 Nr. 2 Nr. 1 Satz 2 EStG 2008; Stapperfend in: Herrmann/Heuer/Raupach, a.a.O., § 1a EStG Anm. 30; Gosch in: Kirchhof, a.a.O., § 1a Rn. 3; Erste Beschlussempfehlung und erster Bericht des Finanzausschusses [7. Ausschuss] vom 31. Mai 1995, Einzelbegründung, zu Nummer 21a [§ 26 Abs. EStG], Bundestagsdrucksache 13/1558, Seite 155). Aus der Sicht des E ist eine Zusammenveranlagung mit der Klägerin nicht zulässig, weil die Klägerin im Streitjahr ihren (ausschließlichen) Wohnsitz (§ 8 AO) auf dem Hoheitsgebiet der Schweizerischen Eidgenossenschaft hatte.
34
b) Auf das Vorabentscheidungsersuchen des erkennenden Senats vom 7. Juli 2011 3 K 3752/10 (juris) zur Frage, ob die Versagung der Zusammenveranlagung (unter Anwendung des Splitting-Verfahrens) der Klägerin mit dem B wegen deren (ausschließlichen) Wohnsitzes in der Schweiz auf der Grundlage des Unionsrechts rechtmäßig sei, entschied der EuGH im Urteil in DStR 2013, 514, -Ettwein-:
35
Art. 1 Buchst. a des Abkommens EG-Schweiz, sowie die Art. 9 Abs. 2, 13 Abs. 1 und 15 Abs. 2 des Anhangs I dieses Abkommens sind dahin auszulegen, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, nach der Eheleuten, die Staatsangehörige dieses Staates sind und mit ihren gesamten steuerpflichtigen Einkünften der Besteuerung in diesem Staat unterliegen, die in dieser Regelung vorgesehene Zusammenveranlagung unter Berücksichtigung des Splitting-Verfahrens allein deshalb verweigert wird, weil ihr Wohnsitz im Hoheitsgebiet der Schweizerischen Eidgenossenschaft liegt.
36
Diesen Ausführungen ist im Streitfall nichts hinzuzufügen (BFH-Urteil vom 25. November 2004 V R 8/01, BStBl II 2005, 896, a.E.). Die Klägerin ist nach den zuvor genannten Bestimmungen des Abkommens EG-Schweiz für das Streitjahr mit B zusammen zur Einkommensteuer (unter Anwendung des Splitting-Verfahrens) zu veranlagen. Die dem entgegenstehende, gemeinschaftswidrige Norm des § 1a Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG 2008 (i.V.m. § 1a Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 EStG 2008 und §§ 1a Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 und § 26 Abs. 1 Satz 1 EStG 2008) ist nach dem Grundsatz gemeinschaftsfreundlichen Verhaltens konform dem FZA steuererhaltend in dem darlegten Sinne auszulegen.
37
c) Das EuGH-Urteil in DStR 2013, 514 -Ettwein- im Vorabentscheidungsverfahren C-425/11 -Ettwein- wurde mit dem Tag seiner Verkündung am 28. Februar 2013 rechtskräftig, weil gegen das Urteil kein Rechtsbehelf statthaft ist (Art. 65 der Verfahrensordnung EuGH; Wägenbauer, EuGH VerfO, Satzung und Verfahrensordnungen EuGH/EuG, Kommentar, VerfO EuGH Art. 65). Das Urteil ist damit für den zur Entscheidung im Klageverfahren berufenen und erkennenden Senat unmittelbar verbindlich (sog. „inter-partes“-Wirkung: s. BFH-Urteil vom 11.Februar 2003 VII R 1/01, BFH/NV 2003, 1100; Schwarze, EU-Kommentar, 3. Aufl., Artikel 267 AEUV Rn. 268 mit Nachweisen zur EuGH-Rechtsprechung zur Verbindlichkeit für Instanzgerichte: s. Insbesondere: EuGH-Urteil vom 24. Junin 1969 Rs. 29/68, Milch-, Fett- und Eierkontor gegen Hauptzollamt Saarbrücken, Vorabentscheidungsersuchen des Finanzgerichts des Saarlandes, Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofs -Slg- 1969, 165, Rn. 1 und 3). Das FG ist (auch als unterinstanzliches Gericht) nicht befugt, von der Antwort des EuGH zu der entschiedenen Rechtsfrage abzuweichen (Ehmcke in: Streinz, EUV/AEUV -Vertrag über die Europäische Union und vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union-, 2.Aufl., AEUV Art. 267 Rn. 72 mit weiteren Nachweisen). Der Tenor (s. zuvor zu b) ist im „Lichte der Entscheidungsgründe“ auszulegen (Ehmcke in: Streinz, a.a.O., Art. 267 AEUV, Rn. 68 mit Nachweisen zur EuGH-Rechtsprechung und zum Schrifttum). Dem ist der erkennende Senat gefolgt. Insoweit wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die zuvor dargelegten Erwägungen verwiesen.
38
d) Im Übrigen erstreckt sich die Bindungswirkung des EuGH-Urteils in DStR 2013, 514 -Ettwein- mit der Vorabentscheidung zur Frage der Zusammenveranlagung der Klägerin mit B (unter Anwendung des Splitting-Verfahrens) auch auf das (im vorliegenden Klageverfahren) beteiligte Verwaltungsorgan (das FA; Ehmcke in: Streinz, a.a.O., Art. 267 AEUV Rn. 73 mit weiteren Nachweisen). Ob und ggf. inwieweit der deutsche Gesetzgeber aufgrund des EuGH-Urteils in DStR 2013, 514 -Ettwein- Maßnahmen für eine unionsrechtskonforme Auslegung des (deutschen) Einkommensteuerrechts ergreifen muss, ist im vorliegenden Klageverfahren nicht streitgegenständlich.
39
4. Im Streitfall steht der Durchführung einer Zusammenveranlagung der Klägerin mit B aufgrund deren übereinstimmender Wahl nicht entgegen, dass die Einzelveranlagung gegenüber dem B bereits unanfechtbar geworden ist (ständige Rechtsprechung des BFH: s. BFH-Urteil vom 18. November 1977 VI R 71/75, BStBl II 1978, 215; Gräber/von Groll, FGO, Kommentar, 7. Aufl., § 40 Rn. 37).
40
5. Nach der Rechtsprechung des BFH ist die vorliegende Klage eine Verpflichtungsklage i.S.v. § 40 Abs. 1 Alternative 2 FGO. Daher darf die Zusammenveranlagung der Klägerin mit dem B nicht durch das vorliegende Urteil durchgeführt werden (BFH-Urteil vom 9. März 1973 VI R 396/70, BStBl II 1973, 487). Da die Sache spruchreif ist, entscheidet der erkennende Senat in der Sache selbst. Die gegenüber Klägerin ergangenen Einzelveranlagungsbescheide (s. Tenor zu 1.) werden aufgehoben (BFH-Urteil vom 28. Juli 2005 III R 48/03, BStBl II 2005, 865). Das FA wird verpflichtet, die Veranlagung nach Maßgabe der § 26 Abs. 1 EStG (unter Anwendung des Splitting-Verfahrens) und unter Beachtung der zuvor dargelegten Rechtsauffassung des erkennenden Senats durchzuführen(§ 101 FGO i.V.m. § 100 Abs. 2 Sätze 2 und 3 FGO).
41
II. Einer allenfalls im Streitfall gemäß § 60 Abs. 1 FGO in Betracht kommenden einfachen Beiladung des B zum vorliegenden Klageverfahren bedurfte es nicht, weil die Zusammenveranlagung dem beiderseitigen Interesse der Eheleute entspricht, das sie im Laufe des Vorverfahrens und des Klageverfahrens mehrfach zweifelsfrei bekundet haben (vgl. in diesem Zusammenhang: BFH-Beschlüsse vom 7. Februar 2008 VI R 41/05, BFH/NV 2008, 1136; vom 7. Februar 2005 III B 101/04, BFH/NV 2005, 1083).
42
III. Das FA hat die Kosten des Verfahrens zu tragen (§ 135 Abs. 1 FGO; zu den Kosten des Verfahrens vor dem EuGH: Gräber/Ratschow, a.a.O., Vor § 135 Rn. 35 Streitwert-ABC Stichwort: Europäischer Gerichtshof mit weiteren Nachweisen); die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit im Kostenpunkt beruht auf den §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 709 und 711 der Zivilprozessordnung.
43
IV. Die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren war gemäß § 139 Abs. 3 Satz 3 FGO für notwendig zu erklären. Die Klägerin konnte die Hilfe eines sachkundigen Bevollmächtigten zu ihrer Vertretung für unentbehrlich halten (BFH-Beschluss vom 21. September 1967 VI B 2/67, BStBl II 1968, 181).
44
V. Die Revision war nicht zuzulassen. Insbesondere kommt der Sache keine grundsätzliche Bedeutung i.S.v. § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO (mehr) zu, nachdem der EuGH die unionsrechtlichen Fragen zur Zulässigkeit einer Zusammenveranlagung der Klägerin mit dem E unter Anwendung des Splitting-Verfahrens im Urteil in DStR 2013, 514 -Ettwein- geklärt hat.