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II. Die Revision ist begründet. |
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Das angefochtene Urteil, der Aufhebungsbescheid und die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung sind aufzuheben, soweit die Kindergeldfestsetzung für die Monate Mai 2009 und Dezember 2009 aufgehoben wurde (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung –FGO–). Der Klägerin steht für die genannten Monate ein Kindergeldanspruch gemäß § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Sätze 1 und 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung (EStG) zu. |
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1. Die Familienkasse … der Bundesagentur für Arbeit ist aufgrund eines Organisationsaktes (Beschluss des Vorstands der Bundesagentur für Arbeit Nr. 21/2013 vom 18. April 2013 gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 des Finanzverwaltungsgesetzes, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Ausgabe Mai 2013, S. 6 ff.) im Wege des gesetzlichen Parteiwechsels in die Beteiligtenstellung der Agentur für Arbeit … –Familienkasse– eingetreten (s. dazu BFH-Beschluss vom 3. März 2011 V B 17/10, BFH/NV 2011, 1105, unter II.A.). |
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2. Gemäß § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Sätze 1 und 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG besteht für ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, ein Anspruch auf Kindergeld, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten; Voraussetzung ist, dass die Behinderung vor Vollendung des 25. Lebens-jahres eingetreten ist. |
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a) Ein behindertes Kind ist dann außerstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann. Ist das Kind hingegen trotz seiner Behinderung (z.B. aufgrund hoher Einkünfte oder Bezüge) in der Lage, selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen, kommt der Behinderung keine Bedeutung zu (BFH-Urteil vom 24. August 2004 VIII R 83/02, BFHE 207, 244, BStBl II 2007, 248, m.w.N.). Ob dies der Fall ist, ist anhand eines Vergleichs zweier Bezugsgrößen zu prüfen, nämlich des gesamten Lebensbedarfs des Kindes einerseits und seiner finanziellen Mittel andererseits (BFH-Urteil in BFHE 207, 244, BStBl II 2007, 248, m.w.N.). Zu den finanziellen Mitteln des behinderten volljährigen Kindes gehören seine Einkünfte und Bezüge. Einkünfte sind solche i.S. von § 2 Abs. 2 EStG, zu den Bezügen gehören alle Einnahmen in Geld oder Naturalleistungen, die nicht im Rahmen der einkommensteuerrechtlichen Einkünfteermittlung erfasst werden (z.B. Senatsurteil vom 4. August 2011 III R 22/10, BFHE 234, 329, BStBl II 2012, 337, m.w.N.). |
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b) Bei Prüfung der Frage, ob ein volljähriges Kind wegen seiner Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, ist keine jahresbezogene Betrachtung vorzunehmen, sondern auf den Kalendermonat abzustellen (z.B. BFH-Urteile vom 4. November 2003 VIII R 43/02, BFHE 204, 120, BStBl II 2010, 1046; in BFHE 207, 244, BStBl II 2007, 248; a.A. Greite, Finanz-Rundschau 2004, 424; Pust in Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, Kommentar, § 32 EStG Rz 491). Die Einkünfte und Bezüge sind, soweit für Gewinneinkünfte nicht das Realisationsprinzip gilt (s. dazu Senatsurteil vom 22. Dezember 2011 III R 69/09, BFHE 236, 298), nach dem Zuflussprinzip des § 11 EStG zu erfassen (BFH-Urteil vom 16. April 2002 VIII R 76/01, BFHE 199, 116, BStBl II 2002, 525). |
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Nach Auffassung des Senats ist bei Anwendung des Zuflussprinzips auch der in der Vorschrift des § 11 Abs. 1 Satz 2 EStG zum Ausdruck kommende Rechtsgedanke zu berücksichtigen. Nach dieser Vorschrift gelten regelmäßig wiederkehrende Einnahmen, die dem Steuerpflichtigen kurze Zeit vor Beginn oder kurze Zeit nach Beendigung des Kalenderjahres, zu dem sie wirtschaftlich gehören, zugeflossen sind, als in dem Jahr der wirtschaftlichen Zugehörigkeit bezogen. Der Gesetzeszweck dieser Vorschrift, Zufälligkeiten bei der zeitlichen Erfassung wiederkehrender Leistungen zu vermeiden (z.B. BFH-Urteil vom 24. Juli 1986 IV R 309/84, BFHE 147, 419, BStBl II 1987, 16), rechtfertigt auch deren Heranziehung bei monatlich wiederkehrenden –im Rahmen der Vergleichsrechnung anzusetzenden– Einkünften und Bezügen. Dies bedeutet, dass solche monatlich wiederkehrenden Leistungen, die dem behinderten Kind kurze Zeit vor Beginn oder kurze Zeit nach Beendigung des Kalendermonats, für den sie bestimmt sind, zufließen, in dem bestimmungsgemäßen Monat zu erfassen sind. In Anlehnung an die Rechtsprechung zu § 11 Abs. 1 Satz 2 EStG ist als "kurze Zeit" ein Zeitraum von bis zu zehn Tagen anzusehen (s. dazu BFH-Beschluss vom 6. November 2002 X B 30/02, BFH/NV 2003, 169). Allerdings misst der Senat hierbei dem Erfordernis, dass die Leistung auch während dieser kurzen Zeit –wie sonst bei § 11 Abs. 1 Satz 2 EStG vorausgesetzt (BFH-Urteil in BFHE 147, 419, BStBl II 1987, 16)– fällig sein muss, keine Bedeutung bei, und zwar deshalb, weil für die Beurteilung der Frage, ob einem behinderten Kind ausreichende finanzielle Mittel zur Verfügung gestanden haben, nicht auf die Fälligkeit einer Zahlung, sondern vielmehr darauf abzustellen ist, ob tatsächlich entsprechende finanzielle Mittel zeitnah vorhanden waren. Im Übrigen kommt eine Verteilung solcher, in Anlehnung an § 11 Abs. 1 Satz 2 EStG abweichend vom Zuflussmonat zu erfassender monatlich wiederkehrender Leistungen auf einen längeren Zeitraum nicht in Betracht (anders bei jährlich anfallenden Einnahmen; s. dazu BFH-Urteil in BFHE 207, 244, BStBl II 2007, 248, unter II.1.e). |
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Ob für monatlich wiederkehrenden Arbeitslohn ggf. Abweichendes gilt (s. dazu § 11 Abs. 1 Satz 4 EStG), bedarf im Streitfall keiner Klärung. |
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c) Schließlich wirkt sich eine im Laufe eines Monats zugeflossene Nachzahlung, die zum Wegfall der Unfähigkeit zum Selbstunterhalt führt, erst in dem auf den Zuflussmonat folgenden Zeitraum kindergeldschädlich aus (BFH-Urteil in BFHE 204, 120, BStBl II 2010, 1046, unter II.2.). Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass das Kindergeld gemäß § 66 Abs. 2 EStG bis zum Ende des Monats gezahlt wird, in dem die Anspruchsvoraussetzungen vorliegen (BFH-Urteil in BFHE 204, 120, BStBl II 2010, 1046). Danach ist Kindergeld für den Zuflussmonat der Nachzahlung zu gewähren, wenn die finanziellen Mittel in diesem Monat ohne Berücksichtigung der Nachzahlung nicht ausgereicht hätten, um den gesamten Bedarf des behinderten Kindes zu decken. |
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3. Gemessen an diesen Grundsätzen war S in den streitigen Monaten nicht in der Lage, sich selbst zu unterhalten. |
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a) In der Vorentscheidung wurden für Mai 2009 Einkünfte (./. 43,77 EUR) und Bezüge (Summe der zugeflossenen Alg II-Zahlungen abzüglich anteiliger Kostenpauschale für Bezüge: 2.393,11 EUR) in Höhe von insgesamt 2.349,34 EUR angesetzt. |
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Selbst wenn man mit dem FG, was im Ergebnis zutreffend sein dürfte, davon ausgeht, dass die an S gezahlten –gemäß § 3 Nr. 2b EStG steuerfreien– Alg II-Zahlungen nach §§ 19 ff. SGB II als Bezüge zu qualifizieren sind (s. dazu BFH-Urteil vom 26. November 2003 VIII R 32/02, BFHE 204, 454, BStBl II 2004, 588, zu Zahlungen nach § 11 BSHG; s. auch Abschn. 31.2.4.2 Abs. 1 Nr. 5 der Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes –DA-FamEStG–, BStBl I 2012, 739), hätte das am 29. Mai 2009 für den Monat Juni 2009 zugeflossene Alg II (804,37 EUR) erst im Juni 2009, das am 6. Mai 2009 für April 2009 zugeflossene Alg II (804,37 EUR) hingegen bereits im April 2009 erfasst werden müssen. Danach reduzierten sich die finanziellen Mittel des S um insgesamt 1.608,74 EUR auf 740,60 EUR; sein im Mai 2009 unstreitig gegebener Bedarf in Höhe von 1.196 EUR wäre nicht überschritten. |
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b) Für den Monat Dezember 2009 ist das FG von Einkünften (./. 264,07 EUR) und Bezügen (Summe der zugeflossenen Alg II-Zahlungen und Einstiegsgelder abzüglich anteiliger Kostenpauschale für Bezüge: 1.869,21 EUR) in Höhe von insgesamt 1.605,14 EUR ausgegangen. |
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Beurteilte man in Übereinstimmung mit dem FG auch das Einstiegsgeld nach § 16b SGB II, was im Ergebnis ebenfalls zutreffend sein dürfte, als einen Bezug (s. auch Abschn. 31.2.4.2 Abs. 1 Nr. 5 DA-FamEStG, BStBl I 2012, 739), hätte von dem am 3. Dezember 2009 für fünf Monate ausbezahlten Einstiegsgeld der auf November 2009 entfallende Anteil in Höhe von 179,50 EUR bereits im November 2009 erfasst werden müssen. Danach verblieben dem S im Dezember 2009 finanzielle Mittel in Höhe von 1.425,64 EUR, die eine Nachzahlung in Höhe von 718 EUR (Einstiegsgeld für vier Monate) enthielten. Sein unstreitig gegebener Bedarf in Höhe von 1.212 EUR wäre daher erst durch die Einbeziehung der genannten –im Laufe des Monats Dezember 2009 zugeflossenen– Nachzahlung überschritten worden. Diese Nachzahlung hätte sich daher erst ab dem Folgemonat (Januar 2010) kindergeldschädlich auswirken können. |
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Etwas anderes ergäbe sich auch nicht daraus, dass die dem S am 30. November 2009 für Dezember 2009 gewährte Alg II-Zahlung in Höhe von 844,50 EUR (bzw. 812,21 EUR nach Abzug des hierfür gezahlten Rentenbeitrags) –wie sich aus der von dem FG ausdrücklich in Bezug genommenen Anlage K 18 der Klägerin er-gibt– im Dezember 2009 hätte erfasst werden müssen. Denn im Gegenzug hätte auch die am 31. Dezember 2009 zugeflossene Alg II-Zahlung für Januar 2010 (812,21 EUR) erst im Januar 2010 berücksichtigt werden dürfen. |
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4. Die Sache ist spruchreif. Das FG hat in der Vorentscheidung angenommen, dass die Behinderung des S nach den Gesamtumständen des Einzelfalls in erheblichem Umfang mitursächlich für die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt ist (s. dazu ausführlich Senatsurteil vom 15. März 2012 III R 29/09, BFHE 237, 68, BStBl II 2012, 892). Die Kausalität stehe –so das FG– nach der fachärztlichen Stellungnahme vom 14. Mai 2010 außer Streit. |
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Diese vom FG vorgenommene und nicht mit einer zulässigen und begründeten Verfahrensrüge angegriffene Tatsachenwürdigung ist für den Senat nach § 118 Abs. 2 FGO bindend, weil sie zumindest möglich ist und nicht gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt (s. dazu BFH-Urteil vom 9. Dezember 2009 II R 52/07, BFH/NV 2010, 824). Auch wenn im Streitfall verschiedene Umstände für eine Fähigkeit des S zum Selbstunterhalt sprechen mögen, wie z.B. das abgeschlossene Musikstudium und der Bezug von Alg II (s. dazu Senatsurteil vom 19. November 2008 III R 105/07, BFHE 223, 365, BStBl II 2010, 1057, unter II.2.b), ist die vom FG vorgenommene Würdigung von den Ausführungen in der fachärztlichen Stellungnahme gedeckt, wonach S infolge der geburtsbedingten Behinderung in seiner Leistungsfähigkeit erheblich eingeschränkt und ihm eine tägliche Erwerbstätigkeit von mehr als drei Stunden nicht möglich sei. Abgesehen davon ist der hohe GdB des S ein gewichtiges Indiz für eine gegebene Unfähigkeit zum Selbstunterhalt (Senatsurteil in BFHE 223, 365, BStBl II 2010, 1057, unter II.2.c). Dass die Behinderung des S vor Vollendung dessen 25. Lebensjahres eingetreten ist, steht außer Frage. |
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5. Nach alledem war die Familienkasse wegen eines bestehenden Kindergeldanspruchs nicht befugt, die Festsetzungen für die Monate Mai 2009 und Dezember 2009 aufzuheben. |
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