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B. Die Revisionen der Familienkasse und der Klägerin sind begründet. Sie führen zur Aufhebung des FG-Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung –FGO–), soweit das Kindergeld für das Kind J betroffen ist. |
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I. Die Familienkasse Rheinland-Pfalz-Saarland der Bundesagentur für Arbeit ist aufgrund eines Organisationsaktes (Beschluss des Vorstands der Bundesagentur für Arbeit Nr. 21/2013 vom 18. April 2013 gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 des Finanzverwaltungsgesetzes, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Ausgabe Mai 2013, S. 6 ff., Nr. 2.2 der Anlage 2) im Wege des gesetzlichen Parteiwechsels in die Beteiligtenstellung der Agentur für Arbeit Coesfeld –Familienkasse– eingetreten (s. dazu Beschluss des Bundesfinanzhofs –BFH– vom 3. März 2011 V B 17/10, BFH/NV 2011, 1105, unter II.A.). |
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II. Zur Revision der Familienkasse |
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1. Über die Revision der Familienkasse ist sachlich zu entscheiden. Die Revision wurde zwar zurückgenommen, die Klägerin hat in die Rücknahme des Rechtsmittels aber nicht eingewilligt. Da die Beteiligten bereits auf die mündliche Verhandlung verzichtet hatten, bedurfte die Rücknahme der Revision aber einer solchen Einwilligung (§ 125 Abs. 1 Satz 2 FGO). |
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2. Das FG hat angenommen, dass ein etwaiger Anspruch der Klägerin auf (Differenz-)Kindergeld für J nicht an § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG scheitert. Diese rechtliche Folgerung ist nicht durch ausreichende tatsächliche Feststellungen getragen und daher fehlerhaft. Erst wenn die Feststellungen im zweiten Rechtsgang nachgeholt sind, wird die Prüfung möglich sein, ob § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG im vorliegenden Fall zur Anwendung gelangt oder durch gemeinschaftsrechtliche Vorschriften verdrängt wird. |
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Die Klägerin erfüllt, was zwischen den Beteiligten nicht streitig ist, für J die Anspruchsvoraussetzungen gemäß § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG. Das FG ist im rechtlichen Ausgangspunkt zutreffend davon ausgegangen, dass § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG, der die Anrechnung von im Ausland gewährten, dem Kindergeld vergleichbaren Leistungen regelt, durch Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der VO Nr. 1408/71 (VO Nr. 574/72) verdrängt werden kann. Dies setzt allerdings voraus, dass die Klägerin überhaupt in den persönlichen Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 fällt. |
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Nach der Rechtsprechung des Senats (Urteile vom 4. August 2011 III R 55/08, BFHE 234, 316; vom 19. April 2012 III R 87/09, BFHE 237, 150; vom 5. Juli 2012 III R 76/10, BFHE 238, 87) ist in einem ersten Schritt zu prüfen, ob der persönliche Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 eröffnet ist. Hierfür ist erforderlich, aber auch ausreichend, dass eine Person nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 in irgendeinem der von ihrem sachlichen Geltungsbereich erfassten Zweige der sozialen Sicherheit in irgendeinem Mitgliedstaat der EU versichert ist (zur Prüfung im Einzelnen s. BFH-Urteile in BFHE 234, 316; in BFHE 237, 150; in BFHE 238, 87). |
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Ist der persönliche Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 nicht eröffnet, dann richtet sich die Kindergeldberechtigung nach §§ 62 ff. EStG und die Anspruchskonkurrenz zwischen dem deutschen Kindergeldanspruch und der ausländischen Familienleistung ist nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG zu lösen. |
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Das FG hat lediglich die Feststellung getroffen, dass die Klägerin in den Niederlanden eine Erwerbstätigkeit aufgenommen hat. Dies genügt nicht für die Prüfung, ob der persönliche Geltungsbereich eröffnet wird, weil es hierfür maßgeblich auf den genauen Versichertenstatus ankommt. |
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3. Sollte sich im zweiten Rechtsgang herausstellen, dass die Klägerin dem persönlichen Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 unterfällt und sie, was anhand der Senatsrechtsprechung (BFH-Urteile in BFHE 234, 316; in BFHE 237, 150; in BFHE 238, 87) im Einzelnen zu prüfen wäre, außerdem wegen einer abhängigen Beschäftigung in den Niederlanden gemäß Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats unterliegt, dann wird das FG Folgendes zu beachten haben: |
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a) Obgleich Deutschland in diesem Fall im Hinblick auf die Gewährung der Familienleistungen an sich der unzuständige Staat wäre, würde der sich aus § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG ergebende Kindergeldanspruch nicht ausgeschlossen sein. Denn die Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 entfalten keine Sperrwirkung für die Anwendung des Rechts des nicht zuständigen Mitgliedstaats, so dass sich die Anspruchsberechtigung auch bei Personen und bei Leistungen, die dem persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71 unterliegen, allein nach den Bestimmungen des deutschen Rechts richtet. Zur weiteren Begründung verweist der Senat auf sein Urteil vom 16. Mai 2013 III R 8/11 (zur amtlichen Veröffentlichung bestimmt). |
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b) Der Zahlung von (Differenz-)Kindergeld für J stünde in diesem Fall auch § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG nicht entgegen. Denn die Konkurrenz zwischen dem niederländischen und dem deutschen Anspruch würde nicht durch diese Vorschrift, sondern durch Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der VO Nr. 574/72 aufgelöst. |
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Diese Norm ist in einer solchen Konstellation schon nach ihrem Wortlaut anwendbar. Nach Auffassung des Senats sind die gemeinschaftsrechtlichen Antikumulierungsvorschriften (Art. 76 der VO Nr. 1408/71 und Art. 10 Abs. 1 der VO Nr. 574/72) gegenüber § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG grundsätzlich vorrangig. Die Auflösung der Konkurrenz zwischen den Kindergeldansprüchen richtet sich nur dann nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG, wenn entweder der persönliche Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 nicht eröffnet ist (s. oben unter Ziffer B.II.2. der Gründe dieses Urteils) oder –bei Eröffnung des persönlichen Anwendungsbereichs– Deutschland der nicht zuständige Staat ist und zudem die gemeinschaftsrechtlichen Antikumulierungsvorschriften nicht einschlägig sind, weil der Beschäftigungsmitgliedstaat, der nach Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 als zuständiger Staat bestimmt ist, und der Wohnmitgliedstaat der Kinder identisch sind (vgl. EuGH-Urteil vom 12. Juni 2012 C-611/10, Hudzinski, Zeitschrift für europäisches Sozial- und Arbeitsrecht –ZESAR– 2012, 475, unter Rdnrn. 73 ff.; vgl. die Überschrift zu Art. 76 der VO Nr. 1408/71). Sollte im Streitfall der persönliche Geltungsbereich eröffnet und die Niederlande gemäß Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 der zuständige Staat sein, dann würden der Beschäftigungsmitgliedstaat, dessen Rechtsvorschriften als anwendbar bestimmt wurden (Niederlande), und der Wohnmitgliedstaat des Kindes (Deutschland) auseinanderfallen. |
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c) Mit dem von Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der VO Nr. 574/72 angeordneten anteiligen Ruhen des deutschen Kindergeldanspruchs wäre die Anspruchskumulation beseitigt. Die Norm erlaubt es hingegen nicht, einen weiter gehenden deutschen Kindergeldanspruch auszuschließen (vgl. EuGH-Urteil vom 4. Juli 1985 C-104/84, Kromhout, Slg. 1985, 2205), so dass der Klägerin dem Grunde nach deutsches Differenzkindergeld zustünde. |
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III. Zur Revision der Klägerin |
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Ob die Klägerin für diejenigen Monate des Streitzeitraumes, in denen sie mangels Antragstellung keine niederländischen Familienleistungen bezogen hat, einen Anspruch auf das volle deutsche Kindergeld hat, kann aufgrund fehlender tatsächlicher Feststellungen des FG zum persönlichen Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 nicht abschließend beurteilt werden. |
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1. Sollte der persönliche Geltungsbereich eröffnet und das niederländische Recht als anwendbar bestimmt sein, dann würde nach den unter Ziffer B.II.3. der Gründe dieses Urteils gemachten Ausführungen zur Auflösung der Anspruchskonkurrenz zwischen dem niederländischen und dem deutschen Anspruch Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der VO Nr. 574/72 heranzuziehen sein. Zu dieser Vorschrift hat der EuGH entschieden, dass der im Wohnmitgliedstaat der Kinder bestehende Anspruch nicht teilweise ausgesetzt werden darf, wenn zwar ein Anspruch auf Familienleistungen im Beschäftigungsmitgliedstaat besteht, die Familienleistungen dort faktisch aber nicht bezogen werden, weil kein entsprechender Antrag gestellt wurde (EuGH-Urteil vom 14. Oktober 2010 C-16/09, Schwemmer, ZESAR 2011, 86, Rdnr. 55). Dass in dem dort entschiedenen Fall der andere Elternteil im Beschäftigungsmitgliedstaat den Antrag nicht gestellt hatte, im Streitfall die Klägerin aber selbst die Antragstellung versäumt haben dürfte, wäre nach Auffassung des Senats nicht rechtserheblich. Denn der EuGH hat in der Rechtssache Schwemmer in abstrakter Weise ausgeführt, dass das Ruhen des deutschen Kindergeldanspruchs nur in Betracht kommt, wenn alle im Beschäftigungsmitgliedstaat aufgestellten Voraussetzungen für den tatsächlichen Leistungsbezug, einschließlich einer vorherigen Antragstellung, erfüllt sind. |
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2. Sollte der persönliche Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 nicht eröffnet sein, wäre die Anspruchskumulation nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG aufzulösen. Schon das bloße Bestehen eines Anspruchs auf niederländische Familienleistungen würde dann zum Ausschluss des deutschen Kindergeldes führen. Die Folgen einer unterbliebenen Antragstellung hätte die Klägerin zu tragen. |
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