Auslegung eines Einspruchs. BFH-Beschluss vom 02. Juli 2021, V B 14/20

ECLI:DE:BFH:2021:B.020721.VB14.20.0

BFH V. Senat

FGO § 116 Abs 6 , GG Art 19 Abs 4 , FGO § 115 Abs 2 Nr 3

vorgehend Hessisches Finanzgericht , 07. Februar 2020, Az: 8 K 1893/14

Leitsätze

NV: Die Auslegung eines Einspruchs als für eine nicht mehr existente KG eingelegt, entspricht bei einem erkennbar gewollten Handeln für den Rechtsnachfolger nicht den Anforderungen, die sich aus der Gewährleistung des effektiven Rechtsschutzes ergeben.

Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Hessischen Finanzgerichts vom 07.02.2020 – 8 K 1893/14 aufgehoben.

Die Sache wird an das Hessische Finanzgericht zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.

Gründe

Die Beschwerde ist begründet.

Das Finanzgericht (FG) hat die Klage der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) zu Unrecht als unzulässig angesehen und durch Prozessurteil abgewiesen. Aufgrund dieses Verfahrensfehlers gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) hebt der Senat die Vorentscheidung auf und verweist den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurück (§ 116 Abs. 6 FGO).

1. Der von der Klägerin geltend gemachte Verfahrensmangel liegt vor. Das FG hat die Klage gegen die Umsatzsteuer- und die Gewerbesteuermessbescheide zu Unrecht als unzulässig abgewiesen.

a) Zwar ist das FG nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) an einer Sachprüfung gehindert und muss die Klage durch Prozessurteil abweisen, wenn der angegriffene Steuerbescheid formell bestandskräftig geworden ist, weil er nicht innerhalb der Einspruchsfrist angefochten worden ist (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 05.11.2007 – IV B 166/06, BFH/NV 2008, 248). Im Streitfall hat die Klägerin die Umsatzsteuer- und Gewerbesteuermessbescheide jedoch entgegen der Auffassung des FG wirksam angefochten.

b) Die Klägerin hat gegen die Umsatzsteuer- und Gewerbesteuermessbescheide fristgerecht Einspruch eingelegt.

aa) Zwar muss derjenige, der in einem Verwaltungsverfahren für einen anderen wirksam eine Verfahrenshandlung vornehmen will, klar zum Ausdruck bringen, für wen er handelt. Allerdings sind auch Verfahrenshandlungen nach den für Willenserklärungen allgemein geltenden Grundsätzen auslegungsfähig. Sie sind so auszulegen, dass das Ergebnis der Auslegung dem Willen und der Zielsetzung des Erklärenden bei verständiger Würdigung gerecht wird (BFH-Beschluss in BFH/NV 2008, 248). Die Gewährleistung des effektiven Rechtsschutzes durch Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) gebietet eine Auslegung und Anwendung der die Einlegung von Rechtsbehelfen regelnden Vorschriften, die die Beschreitung des eröffneten Rechtswegs nicht in unzumutbarer Weise erschweren (BFH-Beschluss in BFH/NV 2008, 248).

bb) Die Vorentscheidung wird diesen Auslegungsgrundsätzen nicht gerecht.

(1) Das FG hat sein Urteil damit begründet, dass die Umsatzsteuer- und Gewerbesteuermessbescheide gegen eine GmbH, die Klägerin, als Rechtsnachfolgerin einer KG ergangen sind, der steuerrechtliche Vertreter der Klägerin den Einspruch indes nur für die KG eingelegt habe. Zwar hat auch das FG seinem Urteil den Grundsatz der rechtsschutzgewährenden Auslegung von Verfahrenserklärungen zugrunde gelegt, ist dabei aber für den Streitfall davon ausgegangen, dass es an einer der Auslegung zugänglichen und mehrdeutigen Erklärung des Einspruchsführers im Hinblick auf die ausdrückliche Benennung der ursprünglichen KG als einem Rechtssubjekt in einer ganz anderen Rechtsform als die klägerische GmbH fehle. Gegen eine Auslegungsfähigkeit der Erklärung spreche zudem, dass der Prozessbevollmächtigte zuvor bei den gegenüber der KG erlassenen Erstbescheiden auf deren Erlöschen hingewiesen habe. Es sei daher berechtigterweise zu erwarten gewesen, dass er die Rechtsnachfolgerin als Einspruchsführerin benenne.

(2) Zwar ist das FG damit zutreffend davon ausgegangen, dass bei der Auslegung eines Einspruchs auch auf Umstände zurückgegriffen werden kann, die außerhalb der auszulegenden Erklärung liegen, aber Rückschlüsse auf den erklärten Willen erlauben (BFH-Beschluss in BFH/NV 2008, 248).

Es hat jedoch verkannt, die Einspruchsschrift in der Weise auszulegen, die dem Willen und der Zielsetzung des Erklärenden bei verständiger Würdigung gerecht wird (BFH-Beschluss in BFH/NV 2008, 248). Die Auslegung eines Einspruchs als für eine nicht mehr existente KG eingelegt, entspricht den bereits dargestellten Auslegungsgrundsätzen nicht. Die Gewährleistung des effektiven Rechtsschutzes erfordert nach den Verhältnissen des Streitfalles vielmehr eine Auslegung der Rechtsbehelfserklärung in der Weise, dass sie als für den Rechtsnachfolger abgegeben anzusehen ist, wovon im Übrigen auch der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt) bei seiner Einspruchsentscheidung ausgegangen ist.

(3) Der Senat darf das Einspruchsschreiben selbst auslegen, da die vom FG vorgenommene Auslegung rechtsfehlerhaft ist, das FG aber alle für die Auslegung maßgebenden Umstände festgestellt hat (BFH-Beschluss vom 05.07.2016 – VIII B 148/14, BFH/NV 2016, 1484).

2. Das FG hat demnach die Klage zu Unrecht durch Prozessurteil abgewiesen. Wegen dieses Verfahrensfehlers erscheint es dem Senat sachgerecht, die Vorentscheidung gemäß § 116 Abs. 6 FGO aufzuheben und den Rechtsstreit an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

3. Die Übertragung der Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.