Außergewöhnliche Belastungen bei Unterbringung in einer Wohngemeinschaft – BFH-Urteil vom 10. August 2023, VI R 40/20

ECLI:DE:BFH:2023:U.100823.VIR40.20.0

BFH VI. Senat

EStG § 33, WTG NW § 15, WTG NW § 18, WTG NW § 24, WTG NW § 25, WTG NW § 30 Abs 2, WTG NW § 35, EStG VZ 2016

vorgehend FG Köln, 30. September 2020, Az: 3 K 1858/18

Leitsätze

Aufwendungen für die krankheits-, pflege- und behinderungsbedingte Unterbringung in einer dem jeweiligen Landesrecht unterliegenden Wohngemeinschaft sind als außergewöhnliche Belastung zu berücksichtigen.

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Finanzgerichts Köln vom 30.09.2020 – 3 K 1858/18 wird als unbegründet zurückgewiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der Beklagte zu tragen.

Tatbestand

  1. I. Streitig ist, ob Aufwendungen der Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) für die Unterbringung des Klägers in einer selbstverantworteten Wohngemeinschaft im Sinne von § 24 Abs. 2 des Wohn- und Teilhabegesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen (WTG NW) vom 02.10.2014 (Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Nordrhein-Westfalen 2014, 625) im Streitjahr (2016) als außergewöhnliche Belastung im Sinne des § 33 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) zu berücksichtigen sind.
  2. Die Kläger sind Eheleute, die im Streitjahr zur Einkommensteuer zusammen veranlagt wurden. Der Kläger ist seit Januar 2007 schwerbehindert. Sein Schwerbehindertenausweis weist als Grad der Behinderung 100 und die Merkzeichen G (erheblich gehbehindert), B (Begleitung bei Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel nötig) und H (hilflos) aus. Zum 01.01.2017 wurde er von der Pflegekasse in Pflegegrad 4 (schwerste Beeinträchtigung der Selbständigkeit) übergeleitet. Seit November 2015 wohnt er gemeinsam mit anderen pflegebedürftigen Menschen in einer selbstverantworteten Wohngemeinschaft mit Betreuungsleistungen im Sinne von § 24 Abs. 2 WTG NW, in der er rund um die Uhr von einem ambulanten Pflegedienst und Ergänzungskräften betreut, gepflegt und hauswirtschaftlich versorgt wird.
  3. Für sein teilmöbliertes Zimmer entrichtete der Kläger eine monatliche Miete in Höhe von 250 €. Darüber hinaus zahlte er im Streitjahr einen (Fest-)Betrag in Höhe von 13.920 € (6 x 1.150 € + 6 x 1.170 €) an die Vermieter für Kost und andere Lebenshaltungskosten sowie hauswirtschaftliche Hilfs- und Betreuungsleistungen.
  4. Seit Dezember 2015 bezog der Kläger einen (Wohngruppen-)Zuschlag nach § 38a des Elften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XI), der von der Pflegekasse unmittelbar an den, den Kläger betreuenden, ambulanten Pflegedienst geleistet wurde.
  5. In ihrer Einkommensteuererklärung für das Streitjahr machten die Kläger die Aufwendungen für die Unterbringung in der Wohngemeinschaft gemäß § 33 EStG sowie den erhöhten Behinderten-Pauschbetrag nach § 33b EStG geltend.
  6. Im Rahmen der Einkommensteuerfestsetzung für das Streitjahr und im anschließenden Einspruchsverfahren gewährte der Beklagte und Revisionskläger (Finanzamt ‑‑FA‑‑) den Behinderten-Pauschbetrag nach § 33b Abs. 3 Satz 3 EStG, erkannte jedoch die Aufwendungen für die Unterbringung in der Wohngruppe nicht als außergewöhnliche Belastung an. Die Unterbringungskosten des Klägers seien nicht zu berücksichtigen, da der Kläger nicht in einem Heim im Sinne des § 1 des Heimgesetzes (HeimG) beziehungsweise in einer ‑‑mit der Föderalismusreform 2006 in Nordrhein-Westfalen inhaltsgleich an dessen Stelle getretenen‑‑ sogenannten Einrichtung mit umfassendem Leistungsangebot nach § 18 Abs. 1 WTG NW, sondern in einer selbstverantworteten Wohngemeinschaft untergebracht sei. Eine solche unterfalle gemäß § 25 WTG NW nicht den Anforderungen des Wohn- und Teilhabegesetzes, das im Bereich der ordnungsrechtlichen Vorschriften für den Betrieb einer Senioreneinrichtung an die Stelle des Heimgesetzes getreten sei.
  7. Der hiergegen erhobenen Klage gab das Finanzgericht (FG) mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte 2021, 764 veröffentlichten Gründen teilweise statt. Es berücksichtigte Unterbringungskosten in Höhe von 16.920 € (12 x 250 € + 6 x 1.150 € + 6 x 1.170 €) gekürzt um die Haushaltsersparnis als außergewöhnliche Belastung. Den Behinderten-Pauschbetrag gemäß § 33b Abs. 3 Satz 3 EStG berücksichtigte es im Einverständnis mit den Klägern nicht.
  8. Mit der Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts.
  9. Es beantragt,
    das Urteil des FG vom 30.09.2020 – 3 K 1858/18 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
  10. Die Kläger beantragen,
    die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

  1. II. Die Revision des FA ist unbegründet und zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Das FG hat die streitigen Aufwendungen für die Unterbringung des Klägers in der selbstverantworteten Wohngemeinschaft gekürzt um die Haushaltsersparnis zu Recht als außergewöhnliche Belastung anerkannt.
  2. 1. Nach § 33 Abs. 1 EStG wird die Einkommensteuer auf Antrag ermäßigt, wenn einem Steuerpflichtigen zwangsläufig größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse und gleichen Familienstands erwachsen (außergewöhnliche Belastung). Aufwendungen erwachsen dem Steuerpflichtigen zwangsläufig, wenn er sich ihnen aus rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann und soweit die Aufwendungen den Umständen nach notwendig sind und einen angemessenen Betrag nicht übersteigen (§ 33 Abs. 2 Satz 1 EStG). Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) sind Aufwendungen außergewöhnlich, wenn sie nicht nur ihrer Höhe, sondern auch ihrer Art und dem Grunde nach außerhalb des Üblichen liegen. Die üblichen Aufwendungen der Lebensführung, die in Höhe des Existenzminimums durch den Grundfreibetrag abgegolten sind, sind aus dem Anwendungsbereich des § 33 EStG ausgeschlossen (z.B. BFH-Urteil vom 10.05.2007 – III R 39/05, BFHE 218, 136, BStBl II 2007, 764 sowie Senatsurteile vom 14.11.2013 – VI R 20/12, BFHE 244, 285, BStBl II 2014, 456, Rz 11 und vom 04.10.2017 – VI R 22/16, BFHE 259, 352, BStBl II 2018, 179, Rz 10, m.w.N.).
  3. 2. In ständiger Rechtsprechung geht der BFH davon aus, dass Krankheitskosten dem Steuerpflichtigen aus tatsächlichen Gründen zwangsläufig erwachsen. Dies gilt auch für Aufwendungen für die krankheits- oder pflegebedingte Unterbringung des Steuerpflichtigen in einer dafür vorgesehenen Einrichtung (z.B. Senatsurteil vom 04.10.2017 – VI R 22/16, BFHE 259, 352, BStBl II 2018, 179, Rz 11, m.w.N.). Dahingehende Aufwendungen erwachsen dem Steuerpflichtigen aus tatsächlichen Gründen zwangsläufig und sind daher dem Grunde nach als außergewöhnliche Belastung im Sinne des § 33 EStG zu berücksichtigen. Es gelten die allgemeinen Grundsätze über die Abziehbarkeit von Krankheitskosten (z.B. Senatsurteil vom 14.11.2013 – VI R 20/12, BFHE 244, 285, BStBl II 2014, 456, Rz 12, m.w.N.). Erforderlich ist danach lediglich, dass die Aufwendungen mit der Krankheit und der zu ihrer Heilung oder Linderung notwendigen Behandlung in einem adäquaten Zusammenhang stehen und nicht außerhalb des Üblichen liegen (z.B. Senatsurteil vom 14.11.2013 – VI R 20/12, BFHE 244, 285, BStBl II 2014, 456, Rz 13, m.w.N.). Entsprechendes gilt, wenn der Steuerpflichtige behinderungsbedingt in einer dafür vorgesehenen Einrichtung untergebracht ist.
  4. 3. Derartige Kosten sind allerdings nur insoweit als außergewöhnliche Belastung zu berücksichtigen, als dem Steuerpflichtigen zusätzliche Aufwendungen erwachsen. Dementsprechend sind Aufwendungen für die krankheitsbedingte Unterbringung um eine Haushaltsersparnis, die der Höhe nach den ersparten Verpflegungs- und Unterbringungskosten entspricht, zu kürzen, es sei denn, der Pflegebedürftige behält seinen Haushalt bei. Die Haushaltsersparnis des Steuerpflichtigen schätzt die Rechtsprechung entsprechend dem in § 33a Abs. 1 EStG vorgesehenen Höchstbetrag für den Unterhalt unterhaltsbedürftiger Personen (Senatsurteil vom 04.10.2017 – VI R 22/16, BFHE 259, 352, BStBl II 2018, 179, Rz 13 f., m.w.N.).
  5. 4. Nach Maßgabe dieser Rechtsgrundsätze ist das FG im Streitfall zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, dass die streitigen Aufwendungen für die Unterbringung des Klägers in der Wohngemeinschaft vermindert um eine Haushaltsersparnis als außergewöhnliche Belastung nach § 33 EStG zu berücksichtigen sind.
  6. a) Der Kläger ist nach den tatsächlichen und den Senat gemäß § 118 Abs. 2 FGO bindenden Feststellungen des FG aufgrund seiner schweren Behinderung und der damit einhergehenden Pflegebedürftigkeit in einer Wohngemeinschaft mit Betreuungsleistungen nach § 24 WTG NW untergebracht. Hierbei handelt es sich um ein Wohn- und Betreuungsangebot, in dem mehrere ältere oder pflegebedürftige Menschen oder Menschen mit Behinderung in einer Wohnung mit einem gemeinsamen Hausstand leben und ihnen von einem oder ‑‑wie im Streitfall‑‑ mehreren Leistungsanbietern Betreuungsleistungen angeboten werden (§ 24 Abs. 1 Satz 1 WTG NW). Demgemäß haben Pflegebedürftige, die ‑‑wie der Kläger‑‑ mit mindestens zwei und höchstens elf weiteren Personen in einer (solchen selbstverantworteten) ambulant betreuten Wohngruppe in einer gemeinsamen Wohnung zum Zweck der gemeinschaftlich organisierten pflegerischen Versorgung leben und davon mindestens zwei weitere Personen pflegebedürftig im Sinne der §§ 14, 15 SGB XI sind, unter weiteren Voraussetzungen, einen Anspruch auf einen pauschalen (Wohngruppen-)Zuschlag gegenüber der Pflegekasse (§ 38a Abs. 1 Nr. 1 SGB XI). Die Unterbringung des Klägers, der einen solchen (Wohngruppen-)Zuschlag erhält, in der selbstverantworteten Wohngemeinschaft ist danach seiner Pflegebedürftigkeit geschuldet. Die Kosten der Unterbringung sind den Klägern damit aus tatsächlichen Gründen zwangsläufig erwachsen. Der nach § 33 Abs. 2 Satz 1 EStG gebotenen Prüfung der Zwangsläufigkeit dem Grunde und der Höhe nach bedarf es vorliegend nicht. Erforderlich ist lediglich, dass die Aufwendungen ‑‑hier die Kosten der Unterbringung‑‑ mit der durch die Behinderung eingetretenen Pflegebedürftigkeit in einem adäquaten Zusammenhang stehen und nicht außerhalb des Üblichen liegen. Dass dies vorliegend der Fall ist, steht zwischen den Beteiligten zu Recht nicht im Streit. Der Senat sieht deshalb von weiteren Ausführungen ab.
  7. b) Der Umstand, dass der Kläger nicht in einem Heim im Sinne des § 1 HeimG beziehungsweise in einer ‑‑mit der Föderalismusreform 2006 in Nordrhein-Westfalen inhaltsgleich an dessen Stelle getretenen‑‑ Einrichtung mit umfassendem Leistungsangebot nach § 18 Abs. 1 WTG NW untergebracht ist, steht ‑‑wie das FG zutreffend entschieden hat‑‑ der Anerkennung der Unterbringungskosten als außergewöhnliche Belastung nach § 33 EStG nicht entgegen. Dahingehendes ist weder im Tatbestand des § 33 EStG angelegt, noch hat der BFH die Unterbringung des Steuerpflichtigen in einem Heim im Sinne des § 1 HeimG beziehungsweise ‑‑wie vorliegend‑‑ in einer Einrichtung mit umfassendem Leistungsangebot nach § 18 Abs. 1 WTG NW zur Abzugsvoraussetzung für die Anerkennung als außergewöhnliche Belastung erhoben. Der „Heimbezug“ der bisherigen Rechtsprechung (z.B. Senatsurteil vom 14.11.2013 – VI R 20/12, BFHE 244, 285, BStBl II 2014, 456) ist nicht rechtlichen Erwägungen sondern dem Tatsächlichen geschuldet. Denn der BFH hat bislang nur über Sachverhalte entschieden, in denen die Unterbringung in einem „Heim“ in Rede stand.
  8. aa) Voraussetzung für den Abzug von krankheits-, pflege- und behinderungsbedingten Unterbringungskosten als außergewöhnliche Belastung nach § 33 EStG ist daher nicht, dass dem Steuerpflichtigen von dem Betreiber der Einrichtung wie bei einem Heim beziehungsweise einer Einrichtung mit umfassendem Leistungsangebot neben Wohnraum auch Betreuungsleistungen zur Verfügung gestellt werden und damit eine umfassende Gesamtversorgung „aus einer Hand“ erbracht wird. Ausreichend ist, dass der Steuerpflichtige ‑‑wie im Streitfall‑‑ als (Mit-)Bewohner einer Wohngemeinschaft jenseits der Wohnraumüberlassung von einem oder mehreren (externen) Leistungsanbietern (gemeinschaftlich organisiert) Betreuungs-, Pflege- und Versorgungsleistungen bezieht.
  9. bb) Ebenfalls ohne Bedeutung für die Anerkennung von krankheits-, pflege- und behinderungsbedingten Unterbringungskosten als außergewöhnliche Belastung ist, ob die Wohngemeinschaft der Heimaufsicht (§ 15 HeimG), der behördlichen Qualitätssicherung (z.B. nach § 14 WTG NW) oder einer anderen Form der Überwachung (z.B. gemäß § 18 des Gesetzes für unterstützende Wohnformen, Teilhabe und Pflege des Landes Baden-Württemberg vom 20.05.2014, Gesetzblatt für Baden-Württemberg 2014, 241) unterliegt.
  10. Aufgrund dessen bedarf es für den Abzug der Unterbringungskosten in einer Wohngemeinschaft mit (ambulanten) Betreuungsleistungen nach § 33 EStG auch nicht der Unterscheidung, ob es sich hierbei um eine anbieterverantwortete Wohngemeinschaft (§ 24 Abs. 3 WTG NW), die der behördlichen Qualitätssicherung gemäß § 30 Abs. 2 WTG NW unterliegt, oder um eine selbstverantwortete Wohngemeinschaft (§ 24 Abs. 2 WTG NW), bei der die behördliche Qualitätssicherung gemäß § 25 Abs. 2 i.V.m. § 35 WTG NW auf die Angebote der dort tätigen ambulanten (Pflege-)Dienste beschränkt ist, handelt. Denn beide Wohngemeinschaften dienen nicht anders als ein „Heim“ oder eine Einrichtung mit umfassendem Leistungsangebot zuvörderst dem Zweck, ältere oder pflegebedürftige Menschen oder Menschen mit Behinderung aufzunehmen und ihnen Wohnraum zu überlassen, in dem die notwendigen Betreuungs-, Pflege- und Versorgungsleistungen erbracht werden.
  11. 5. Die Höhe der als außergewöhnliche Belastung zu berücksichtigenden Unterbringungskosten steht zwischen den Beteiligten nicht im Streit. Diese Kosten sind jedoch nur insoweit nach § 33 Abs. 1 EStG abziehbar, als sie die Haushaltsersparnis ‑‑im Streitjahr in Höhe von 8.652 €‑‑ übersteigen. Denn nur insoweit sind dem Kläger gegenüber der normalen Lebensführung zusätzliche und damit berücksichtigungsfähige Mehraufwendungen entstanden (Senatsurteil vom 04.10.2017 – VI R 22/16, BFHE 259, 352, BStBl II 2018, 179, Rz 12, m.w.N.). Dies ist zwischen den Beteiligten ebenso wenig streitig, wie der Umstand, dass neben den Aufwendungen für die behinderungsbedingte Unterbringung der Behinderten-Pauschbetrag nach § 33b Abs. 3 Satz 3 EStG nicht zu berücksichtigen war (s. BFH-Urteil vom 04.11.2004 – III R 38/02, BFHE 208, 155, BStBl II 2005, 271). Der Senat sieht deshalb diesbezüglich von einer weiteren Begründung ab.
  12. 6. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 2 FGO.