Haftung für Säumniszuschläge; Herabsetzung der Haftungsschuld wegen Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit des Steuerschuldners – BFH-Urteil vom 14. Dezember 2021, VII R 14/19

ECLI:DE:BFH:2021:U.141221.VIIR14.19.0

BFH VII. Senat

AO § 34 , AO § 35 , AO § 69 , AO § 191 , AO § 227 , AO § 240 , FGO § 102 , GmbHG § 35 , InvZulG 2005 § 5 Abs 1 , InvZulG 2007 § 13 S 1

vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg , 15. November 2018, Az: 9 K 9052/18

Leitsätze

NV: Eine Herabsetzung der Haftungsschuld für Säumniszuschläge wegen Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit des Steuerschuldners kommt nur in Betracht, wenn der Haftungsschuldner spätestens im Einspruchsverfahren substantiiert dargelegt und nachgewiesen hat, dass der Steuerschuldner überschuldet und zahlungsunfähig gewesen ist.

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 15.11.2018 – 9 K 9052/18 insoweit aufgehoben, als der Klage stattgegeben worden ist.

Die Klage wird auch insoweit abgewiesen.

Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Kläger zu tragen.

Tatbestand

I.

  1. Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit eines gegen den Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) ergangenen Haftungsbescheids für Steuerschulden der … GmbH (GmbH), allerdings nur noch insoweit, als es um die Haftung für Säumniszuschläge geht.
  2. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt –FA–) hatte der GmbH, deren Geschäftsgegenstand ursprünglich die industrielle Fertigung … sowie der Handel mit Maschinen und Zubehör gewesen war, mit Bescheiden vom 25.06.2007 und vom 26.02.2010 für die Kalenderjahre 2006 und 2009 Investitionszulagen gewährt. Im Jahr 2010 änderte die GmbH ihren Geschäftsgegenstand … . Als Geschäftsführer wurden am 22.12.2010 Herr … (A) ins Handelsregister eingetragen und als weiterer Geschäftsführer am 31.01.2011 der Kläger.
  3. Mit notariell beurkundetem Vertrag vom 25.07.2011 veräußerte die GmbH ihr Geschäftsgrundstück nebst Werkshalle, Gebäude und Zubehör für 450.000 €.
  4. In ihrer Bilanz auf den 31.12.2012 wies die GmbH bei den Aktiva als einzigen Vermögensgegenstand noch Forderungen gegen ihre Gesellschafter in Höhe von 166.979,37 € aus. Dem stand auf der Passivseite nur Eigenkapital (Gezeichnetes Kapital und Gewinnrücklagen abzüglich Verlustvortrag und Jahresfehlbetrag) in gleicher Höhe gegenüber.
  5. Durch Beschluss der Gesellschafterversammlung vom 08.07.2013 wurde die GmbH aufgelöst; der Kläger und A wurden zu Liquidatoren bestellt. Der Bilanzverlust in Höhe von 166.979,37 € wurde auf Vorschlag der Geschäftsführung und in Übereinstimmung mit den Gesellschaftern mit dem noch vorhandenen Stammkapital und den Gewinnrücklagen verrechnet.
  6. Im Oktober 2013 teilte die GmbH dem FA auf dessen Anfrage hin mit, dass die Wirtschaftsgüter, für die die Investitionszulagen gewährt worden waren, im Rahmen des Vertrags vom 25.07.2011 mitveräußert worden seien. Das FA setzte daraufhin mit Bescheiden vom 11.04.2014 die Investitionszulagen für 2006 und 2009 herab und forderte die damit überzahlten Beträge zurück. Die dagegen gerichteten Einsprüche wies das FA mit Einspruchsentscheidung vom 02.11.2016 als unbegründet zurück. Eine Klage erhob die GmbH nicht.
  7. Mit Bescheid vom 26.01.2017 nahm das FA den Kläger nach §§ 34, 69 i.V.m. § 191 der Abgabenordnung (AO) wegen nicht zurückgezahlter Investitionszulagen für 2006 und 2009 in Höhe von 9.533,11 € zuzüglich Säumniszuschlägen in Höhe von 3.202,50 € in Haftung. Zur Begründung führte das FA (u.a.) aus, der Kläger hafte als Liquidator der GmbH, weil die mit Bescheiden vom 11.04.2014 zurückgeforderten Beträge nicht zurückgezahlt worden seien. Der Haftungszeitraum habe am 14.05.2014 begonnen. Angaben zum Vorhandensein von Zahlungsmitteln und deren Verwendung habe der Kläger trotz Aufforderung nicht gemacht. Daher habe das FA davon ausgehen dürfen, dass der Kläger im fraglichen Zeitraum über ausreichende Mittel zur Begleichung der rückständigen Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis verfügt habe. Zudem wäre der Kläger ohnehin verpflichtet gewesen, bereits vor Fälligkeit der Steuern die Mittel der Gesellschaft so zu verwalten, dass diese zur pünktlichen Tilgung der künftig fällig werdenden Steuern in der Lage gewesen wäre. Gegenüber A sei ebenfalls ein Haftungsbescheid ergangen.
  8. Den Einspruch des Klägers wies das FA mit Entscheidung vom 15.03.2018 als unbegründet zurück.
  9. Die dagegen gerichtete Klage war teilweise erfolgreich. Das Finanzgericht (FG) entschied, die Klage sei zwar hinsichtlich der Haftung für die zurückgeforderten Investitionszulagen in Höhe von 9.533,11 € unbegründet, hinsichtlich der Säumniszuschläge aber begründet; denn zum Zeitpunkt des Erlasses der geänderten Investitionszulagebescheide vom 11.04.2014 habe die GmbH über keine liquiden Mittel mehr verfügt, die zur Tilgung der zurückgeforderten Zulagen hätten verwendet werden können. Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2019, 1505 veröffentlicht.
  10. Dagegen wendet sich das FA mit seiner Revision.
  11. Das FA beantragt,
    das vorinstanzliche Urteil insoweit aufzuheben, als das FG der Klage in Bezug auf die Haftung für Säumniszuschläge stattgegeben hat.
  12. Der Kläger beantragt,
    die Revision zurückzuweisen.
  13. Zur Begründung verweist der Kläger auf das vorinstanzliche Urteil.

Entscheidungsgründe

II.

  1. Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur teilweisen Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage in vollem Umfang (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung –FGO–).
  2. Das Urteil des FG verletzt Bundesrecht (§ 118 Abs. 1 Satz 1 FGO).
  3. 1. Gemäß § 69 Satz 1 AO haften die in den §§ 34 und 35 AO bezeichneten Personen, zu denen die Geschäftsführer und Liquidatoren einer GmbH gehören (§ 35 Abs. 1 des Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung –GmbHG– i.V.m. §§ 69, 70 GmbHG), soweit Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37 AO) infolge vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Pflichtverletzung nicht oder nicht rechtzeitig festgesetzt oder erfüllt oder soweit infolgedessen Steuervergütungen oder Steuererstattungen ohne rechtlichen Grund gezahlt werden. Gemäß § 69 Satz 2 AO umfasst die Haftung auch die infolge der Pflichtverletzung zu zahlenden Säumniszuschläge (§ 240 AO).
  4. a) Es gehört zu den Pflichten eines Liquidators, nach Auflösung der GmbH dafür zu sorgen, dass Mittel zur Bezahlung der Steuerschulden zurückbehalten und die Steuerschulden bezahlt werden (vgl. Senatsurteil vom 16.12.2003 – VII R 77/00, BFHE 204, 391, BStBl II 2005, 249, unter II.B.3.a; Senatsbeschluss vom 25.04.2013 – VII B 245/12, BFH/NV 2013, 1063, Rz 17, m.w.N.). Die Nichtzahlung festgesetzter, fälliger Steuern und Abgaben führt zu einem Steuerschaden in dieser Höhe und indiziert das Verschulden des Verantwortlichen i.S. von § 69 Satz 1 AO (ständige Rechtsprechung, s. Senatsurteil vom 17.09.2019 – VII R 5/18, BFHE 266, 104, BFH/NV 2020, 287, Rz 14; Beschluss des Bundesfinanzhofs –BFH– vom 18.09.2018 – XI R 54/17, BFH/NV 2019, 100, Rz 31; jeweils m.w.N.).
  5. Zwar ist die Investitionszulage keine Steuer i.S. von § 3 Abs. 1 AO, doch sind die für Steuervergütungen geltenden Regelungen der AO, mit Ausnahme des § 163 AO, gemäß § 5 Abs. 1 Sätze 1 und 2 des Investitionszulagengesetzes 2005 (InvZulG 2005) sowie gemäß § 13 Satz 1 des Investitionszulagengesetzes 2007 (InvZulG 2007) entsprechend anzuwenden (s.a. Boeker in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 37 AO Rz 14). Das schließt eine entsprechende Anwendung von § 69 AO (BFH-Urteil vom 19.12.2013 – III R 25/10, BFHE 244, 217, BStBl II 2015, 119, Rz 14 und 18) und ebenso von § 240 AO (s.a. Loose in Tipke/Kruse, § 240 AO Rz 13) mit ein.
  6. b) Gemäß § 191 Abs. 1 Satz 1 AO kann, wer kraft Gesetzes für eine Steuer haftet (Haftungsschuldner), durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden. Danach liegt es im Ermessen der Finanzbehörde, ob sie von der ihr durch § 191 AO eingeräumten Möglichkeit Gebrauch macht.
  7. Welches die maßgebliche Handlung bzw. Unterlassung ist, die dem Haftungsschuldner zur Last gelegt wird, ist dem Haftungsbescheid zu entnehmen, um dessen Wirksamkeit die Beteiligten streiten (Senatsurteil vom 19.01.2021 – VII R 38/19, BFH/NV 2021, 1057, Rz 28).
  8. Wird ein Haftungsschuldner für Säumniszuschläge in Anspruch genommen, so sind bei der Inanspruchnahme gemäß § 191 Abs. 1 AO die Billigkeitsgesichtspunkte zu berücksichtigen, die bei der Erhebung der Säumniszuschläge gegenüber dem Steuerschuldner nach § 227 AO, also in einem besonderen Verfahren, zu einem Billigkeitserlass hätten führen können und unter Umständen auch hätten führen müssen (s. Senatsurteile vom 16.11.2004 – VII R 8/04, BFH/NV 2005, 495, und vom 19.12.2000 – VII R 63/99, BFHE 193, 524, BStBl II 2001, 217). Sachlich unbillig ist die Erhebung von Säumniszuschlägen vor allem dann, wenn dem Steuerpflichtigen die rechtzeitige Zahlung der Steuer wegen Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit unmöglich ist und deshalb die Ausübung von Druck zur Zahlung ihren Sinn verliert (ständige Rechtsprechung, vgl. BFH-Urteile vom 30.03.2006 – V R 2/04, BFHE 212, 23, BStBl II 2006, 612, unter II.2.b, und vom 09.07.2003 – V R 57/02, BFHE 203, 8, BStBl II 2003, 901, unter II.1.a; Senatsurteil in BFHE 193, 524, BStBl II 2001, 217; jeweils m.w.N.).
  9. c) Maßgeblicher Zeitpunkt für die gerichtliche Überprüfung der Ermessensentscheidung der Verwaltung gemäß § 102 FGO ist die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Urteile vom 23.11.2000 – III R 52/98, BFH/NV 2001, 882, unter 1., und vom 12.08.2009 – XI R 4/08, BFH/NV 2010, 393, unter II.2.b; s.a. Drüen in Tipke/Kruse, § 5 AO Rz 77 und § 102 FGO Rz 7).
  10. d) Ausgehend von diesen Rechtsgrundsätzen hat der Kläger die ihm als Liquidator obliegenden Pflichten dadurch schuldhaft verletzt, dass er die mit Bescheiden vom 11.04.2014 zurückgeforderten Investitionszulagen nicht zurückgezahlt hat.
  11. Im Streitfall ist die Nichtzahlung die nach dem Haftungsbescheid und ebenso nach der Einspruchsentscheidung maßgebliche Pflichtverletzung; sie führt zu einem Steuerschaden des FA in entsprechender Höhe und indiziert das Verschulden des Klägers.
  12. Der Vortrag des Klägers im Klageverfahren, die GmbH habe kein Vermögen mehr gehabt, entschuldigt ihn nicht. Der Kläger hat selbst darauf hingewiesen, dass der letzte nennenswerte Vermögensgegenstand der GmbH das im Juli 2011 veräußerte Firmengrundstück nebst Gebäuden und Zubehör gewesen sei und dass die Liquidatoren, damals noch als Geschäftsführer der GmbH, den Kauferlös zur Tilgung von Verbindlichkeiten und zur anteiligen Rückzahlung des Stammkapitals verwendet hätten. Es wäre jedoch Aufgabe des Klägers als damaliger Geschäftsführer gewesen, zu klären, ob noch Steuerschulden gegenüber dem FA bestanden haben bzw. ob Rückforderungen zu erwarten waren, und entsprechende Mittel vorzuhalten. Dass er dies nicht getan hat, hat der Kläger selbst eingeräumt. Auf das Fehlen von Zahlungsmitteln zum Zeitpunkt der Rückforderung der Investitionszulagen kann sich der Kläger daher nicht berufen.
  13. Die Inanspruchnahme des Klägers als Haftungsschuldner stand demzufolge nach § 191 Abs. 1 AO im Ermessen des FA. Dieses hat von seinem Ermessen in der Weise Gebrauch gemacht, dass es den Kläger auch hinsichtlich der Säumniszuschläge in Anspruch genommen hat, die, nachdem der Rückzahlungsanspruch wegen der geänderten Investitionszulage für 2006 und 2009 fällig geworden war, bis zum Ergehen des Haftungsbescheids verwirkt worden sind. Diese Entscheidung ist rechtlich nicht zu beanstanden. Der Kläger hat im Haftungs- und Einspruchsverfahren trotz Aufforderung des FA keine Angaben zum Vorhandensein von Zahlungsmitteln der GmbH und deren Verwendung gemacht. Dass der GmbH die rechtzeitige Rückzahlung der Investitionszulagen wegen Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit unmöglich gewesen wäre, ist folglich bis zu dem hier maßgeblichen Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung, also bis zum Ergehen der Einspruchsentscheidung, weder vorgetragen noch belegt worden.
  14. Ungeachtet dessen ist aus den dem FA vorliegenden Jahresabschlüssen auch nicht ersichtlich, dass die GmbH zu irgendeinem Zeitpunkt überschuldet gewesen wäre.
  15. 2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.