III R 16/07 – Kindergeld für ein arbeitsloses behindertes Kind – Mitursächlichkeit der Behinderung – Einzelfallentscheidung

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 28.5.2009, III R 16/07

Kindergeld für ein arbeitsloses behindertes Kind – Mitursächlichkeit der Behinderung – Einzelfallentscheidung

Tatbestand

 
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I. Die am 24. Februar 1974 geborene Tochter (T) des Klägers und Revisionsbeklagten (Kläger) war seit dem Sommersemester 1997 an der Universität X eingeschrieben für das Lehramt Primarstufe. Im Dezember 1999 teilte der Kläger der Beklagten und Revisionsklägerin (Familienkasse) mit, T sei in den Abendstudiengang Kommunikationswirtin einer Akademie für Kommunikation aufgenommen worden. Das Studium solle im November 1999 beginnen. Zugleich legte der Kläger einen Arbeitsvertrag zwischen T und der Agentur Y vor, der am 1. November 1999 beginnen und am 31. Oktober 2001 enden sollte. Mit Bescheid vom 2. April 2001 hob die Familienkasse die Festsetzung des Kindergeldes mit Wirkung vom 1. März 2001 auf, weil T mit Ablauf des 23. Februar 2001 das 27. Lebensjahr vollendet habe.
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Mit Schreiben vom 30. August 2001 legte der Kläger dagegen Einspruch ein und machte geltend, in einem anhängigen Klageverfahren sei demnächst mit der Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft von T zu rechnen. Auf den Hinweis der Familienkasse, dass der Bescheid rechtskräftig geworden sei, beantragte der Kläger vorsorglich die Gewährung von Kindergeld rückwirkend bis zum Wirksamkeitszeitpunkt der letzten Aufhebung. Unter dem 5. Juni 2002 teilte der Kläger mit, für T seien ausweislich des ab 21. Mai 1999 gültigen Schwerbehindertenausweises des Versorgungsamtes A ein Grad der Behinderung von 80 und das Merkzeichen "G" festgestellt worden. Außerdem gab der Kläger an, T habe bis zum 31. Oktober 2001 eine monatliche Ausbildungs-/Praktikumsvergütung in Höhe von 800 DM brutto bezogen. Seit Beendigung dieses Beschäftigungsverhältnisses, mithin seit dem 1. November 2001, beziehe T kein eigenes Einkommen mehr; sie lebe von der Unterstützung durch die Familie.
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Nach einem am 25. November 2002 bei der Familienkasse eingegangenen Schreiben der Reha/SB-Stelle vom 22. November 2002 war T in der Lage, eine arbeitslosenversicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden umfassende Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des in Betracht kommenden Arbeitsmarktes auszuüben. Mit Bescheid vom 28. November 2002 lehnte die Familienkasse daraufhin die Gewährung von Kindergeld für T ab. Dagegen legte der Kläger mit Schreiben vom 19. Dezember 2002 Einspruch ein. Unter dem 25. August 2003 teilte die Bundesanstalt für Arbeit mit, aufgrund eines weiteren ärztlichen Gutachtens vom 20. August 2003 bestehe derzeit weiterhin eine Vermittelbarkeit der T auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Der Einspruch hatte keinen Erfolg.
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Das Finanzgericht (FG) gab der Klage durch Urteil vom 8. Februar 2007  14 K 5102/05 Kg (Entscheidungen der Finanzgerichte 2007, 1339) statt. Die Behinderung der Tochter sei ursächlich dafür, dass sie sich nicht selbst unterhalten könne. Nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes in der für den streitigen Zeitraum geltenden Fassung (EStG) müsse die Behinderung nicht alleinige Ursache für die Unfähigkeit des Kindes sein, sich selbst zu unterhalten. Ausreichend sei eine Mitursächlichkeit der Behinderung.
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Die theoretische Möglichkeit einer Vermittelbarkeit des behinderten Kindes am allgemeinen Arbeitsmarkt sei nicht geeignet, die Ursächlichkeit der Behinderung für die im Ergebnis gleichwohl erfolglose Vermittlung zu beseitigen. Selbst wenn man zugunsten der Familienkasse unterstelle, dass sich T als "vollschichtig erwerbsfähig" auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erweisen sollte, bleibe die Behinderung aufgrund der Umstände dieses Einzelfalles ursächlich für ihre Unfähigkeit, sich selbst zu unterhalten. Nach der Aktenlage stehe fest, dass es den zuständigen Stellen unabhängig davon, ob T aus medizinischer Sicht erwerbsfähig sei oder nicht, nicht gelungen sei, T in eine Stelle am allgemeinen Arbeitsmarkt zu vermitteln.
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Mit ihrer Revision rügt die Familienkasse die Verletzung des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG. Das FG sehe die Behinderung der T als ursächlich dafür an, dass sie außerstande sei, sich selbst zu unterhalten. Diese Entscheidung obliege aber allein der zuständigen Reha/SB-Stelle. Diese habe vorliegend festgestellt, dass T in der Lage sei, eine arbeitslosenversicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden umfassende Beschäftigung auszuüben.
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Die Familienkasse beantragt sinngemäß, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

 
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II. Die Revision ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung –FGO–).
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1. Das FG hat zutreffend entschieden, dass T aufgrund ihrer Behinderung außerstande war, sich selbst zu unterhalten.
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Gemäß den §§ 62 Abs. 1, 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG besteht für ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, Anspruch auf Kindergeld, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten und die Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist.
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a) Ein behindertes Kind kann sowohl wegen der Behinderung als auch wegen der allgemeinen ungünstigen Situation auf dem Arbeitsmarkt oder wegen anderer Umstände (z.B. mangelnder Mitwirkung bei der Arbeitsvermittlung, Ablehnung von Stellenangeboten) arbeitslos und damit außerstande sein, sich selbst zu unterhalten. Entsprechend dem eindeutigen Wortlaut des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG führt eine Behinderung aber nur dann zu einer Berücksichtigung beim Kindergeld, wenn das Kind nach den Gesamtumständen des Einzelfalles wegen der Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten (Ursächlichkeit); dem Kind muss es daher objektiv unmöglich sein, seinen (gesamten) Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit zu bestreiten (Senatsurteil vom 19. November 2008 III R 105/07, BFHE 223, 365, BFH/NV 2009, 638).
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b) Entgegen der Auffassung der Familienkasse ist insoweit keine abstrakte Betrachtungsweise zulässig; vielmehr fordert der Gesetzgeber eine konkrete Bewertung der jeweiligen Situation des behinderten Kindes nach den Gesamtumständen des Einzelfalles (Beschluss des Bundesfinanzhofs –BFH– vom 14. Dezember 2001 VI B 178/01, BFHE 197, 472, BStBl II 2002, 486).
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Ein Indiz für die Fähigkeit des behinderten Kindes zum Selbstunterhalt kann zwar die Feststellung in ärztlichen Gutachten –z.B. von der Reha/SB-Stelle der Agentur für Arbeit oder eines vom Gericht beauftragten ärztlichen Sachverständigen– sein, das Kind sei nach Art und Umfang seiner Behinderung in der Lage, eine arbeitslosenversicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des für ihn in Betracht kommenden Arbeitsmarktes auszuüben (s. Dienstanweisung zur Durchführung des steuerlichen Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes 63.3.6.3.1 Abs. 4, BStBl I 2004, 743). Selbst wenn nach den Gutachten eine "vollschichtige Tätigkeit" für möglich gehalten wird, ist die theoretische Möglichkeit, das behinderte Kind am allgemeinen Arbeitsmarkt zu vermitteln, aber allein nicht geeignet, die (Mit-)Ursächlichkeit der Behinderung auszuschließen. Entscheidend kann nur die konkrete Bewertung der jeweiligen Situation des behinderten Kindes sein (s. im Einzelnen Senatsurteil in BFHE 223, 365, BFH/NV 2009, 638).
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c) Nach zutreffender Auffassung des FG muss die Behinderung nicht die alleinige Ursache für die Unfähigkeit des Kindes sein, sich selbst zu unterhalten. Andererseits reicht eine einfache Mitursächlichkeit nicht aus; vielmehr folgt aus dem Tatbestandsmerkmal des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG "… wegen … Behinderung außerstande ist", dass die Mitursächlichkeit der Behinderung erheblich sein muss (s. im Einzelnen Senatsurteil in BFHE 223, 365, BFH/NV 2009, 638).
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2. Wie der Senat in seinem Grundsatzurteil in BFHE 223, 365, BFH/NV 2009, 638 ausgeführt hat, hat das FG die Frage, ob eine Behinderung für die mangelnde Fähigkeit des behinderten Kindes zum Selbstunterhalt in erheblichem Umfang mitursächlich ist, unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles zu entscheiden. Der BFH kann die Entscheidung des FG nur eingeschränkt überprüfen. Ist die tatsächliche Würdigung des FG verfahrensrechtlich einwandfrei zustande gekommen und verstößt sie auch nicht gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze, ist sie für den BFH als Revisionsgericht nach § 118 Abs. 2 FGO bindend, selbst wenn die Wertung des FG nicht zwingend, sondern lediglich möglich ist.
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Der Senat hat in seinem vorgenannten Grundsatzurteil auch ausführlich zu den Indizien Stellung genommen, die für oder gegen die Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt sprechen können; hierauf nimmt der Senat Bezug.
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3. Das FG ist von diesen Grundsätzen ausgegangen. Es hat ausgeführt, die Behinderung der T sei aufgrund der Umstände des Einzelfalles ursächlich dafür, dass sie sich nicht selbst unterhalten könne. Diesen Ausführungen ist zu entnehmen, dass das FG im Ergebnis eine erhebliche Mitursächlichkeit der Behinderung im Streitfall als gegeben angesehen hat. T habe sich um Fortbildungsmaßnahmen bemüht, habe der Arbeitsvermittlung zur Verfügung gestanden und sich auch regelmäßig selbst beworben, aber dennoch nicht vermittelt werden können. Auch ergibt sich aus den beiden ärztlichen Gutachten, dass T unter häufigen Bewegungsstörungen leidet, dass ihr Schreiben sehr schwerfällt, sie an Einbußen im Kurzzeitgedächtnis leidet und ihre Sprache bei allgemeiner Ermüdung unverständlich wird. Die Wertung des FG, eine Erwerbstätigkeit der Tochter erscheine wegen des Ausmaßes der körperlichen Behinderung mit der einhergehenden seelischen Beeinträchtigung und der gravierenden Auswirkungen der Erkrankung auf die Handlungs- und Leistungsfähigkeit des Kindes unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes ausgeschlossen, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

Quelle: bundesfinanzhof.de


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