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II. Die Familienkasse … der Bundesagentur für Arbeit ist aufgrund eines Organisationsaktes (Beschluss des Vorstands der Bundesagentur für Arbeit Nr. 21/2013 vom 18. April 2013 gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 des Finanzverwaltungsgesetzes, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Ausgabe Mai 2013, S. 6 ff., Nr. 2.2 der Anlage 2) im Wege des gesetzlichen Parteiwechsels in die Beteiligtenstellung der Agentur für Arbeit … –Familienkasse– eingetreten (s. dazu Beschluss des Bundesfinanzhofs vom 3. März 2011 V B 17/10, BFH/NV 2011, 1105, unter II.A.). |
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Die Revision ist begründet. Sie führt gemäß § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO insoweit zur Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils und zur Zurückverweisung der nicht spruchreifen Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung, als das FG über den Anspruch auf Kindergeld für das Kind S für den Zeitraum Oktober 2004 bis einschließlich August 2006 und für das Kind T für den Zeitraum Oktober 2004 bis einschließlich März 2008 entschieden hat. |
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1. a) Das FG ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Anwendung der §§ 62 ff. EStG ausgeschlossen ist, wenn nach Art. 13 ff. VO Nr. 1408/71 die Rechtsvorschriften Polens für anwendbar erklärt werden. |
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Wie der Senat mit Urteil vom 16. Mai 2013 III R 8/11 (BFH/NV 2013, 1698) unter Bezugnahme auf die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vom 12. Juni 2012 C-611, 612/10 in der Rechtssache Hudzinski und Wawrzyniak (Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst 2012, 999) entschieden hat, entfalten die Art. 13 ff. VO Nr. 1408/71 keine Sperrwirkung gegenüber den §§ 62 ff. EStG, wenn nicht die deutschen Vorschriften, sondern die Vorschriften eines anderen Mitgliedstaats für anwendbar erklärt werden. Dies gilt bei eröffnetem persönlichen Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 auch dann, wenn der Anspruchsberechtigte nicht Arbeitnehmer, sondern Selbständiger ist (Senatsurteil vom 13. Juni 2013 III R 63/11, BFH/NV 2013, 1872). Auch bedarf es in einem solchen Fall keines zusätzlichen nationalen Anwendungsbefehls, um die §§ 62 ff. EStG anwenden zu können (Senatsurteil in BFH/NV 2013, 1698). |
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b) Rechtsfehlerhaft ist das FG ferner (hilfsweise) davon ausgegangen, dass jedenfalls für die Zeiträume, in denen der Kläger bzw. seine Ehefrau Anspruch auf Kindergeld in Polen hatten bzw. solches bezogen haben, § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG einem inländischen Kindergeldanspruch entgegenstünde. Insoweit reichen die vom FG getroffenen tatsächlichen Feststellungen nicht aus, um beurteilen zu können, ob eine Konkurrenz zwischen einem Anspruch auf deutsches Kindergeld und einem Anspruch auf vergleichbare Leistungen in Polen überhaupt nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG aufzulösen wäre (s. hierzu die Ausführungen unter III.2.d und e). |
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2. Für die im zweiten Rechtsgang vorzunehmende Prüfung weist der Senat auf Folgendes hin: |
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a) Ausgangspunkt für die Prüfung eines Kindergeldanspruchs des Klägers ist die Frage, ob die Anspruchsvoraussetzungen nach §§ 62 ff. EStG erfüllt sind. |
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Gemäß § 62 Abs. 1 EStG hat für Kinder i.S. des § 63 EStG Anspruch auf Kindergeld nach dem EStG u.a., wer im Inland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (§ 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG) oder ohne Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wird (§ 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG). |
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Das FG hat hierzu bislang nur festgestellt, dass der Kläger mit Hauptwohnsitz in Deutschland gemeldet ist und vom Finanzamt (FA) als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig "behandelt wurde". |
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Hinsichtlich der Frage, wo jemand einen Wohnsitz i.S. des § 8 der Abgabenordnung (AO) hat, sind indessen melderechtliche Angaben unerheblich (Senatsurteil vom 20. November 2008 III R 53/05, BFH/NV 2009, 564). Überdies hängt eine –auch vom Kläger im Schriftsatz vom 23. Oktober 2013 problematisierte– Kindergeldberechtigung nach § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG i.V.m. § 1 Abs. 3 EStG davon ab, dass der Anspruchsteller aufgrund eines entsprechenden Antrags vom zuständigen FA nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wird (Senatsurteil vom 24. Mai 2012 III R 14/10, BFHE 237, 239, BStBl II 2012, 897). Die Tatsache allein, dass in einem Einkommensteuerbescheid von einer unbeschränkten Einkommensteuerpflicht ausgegangen wurde, besagt nicht notwendigerweise, dass es sich um eine Behandlung nach § 1 Abs. 3 EStG gehandelt hat. Vielmehr kann einem solchen Bescheid z.B. auch eine –für die Familienkasse und das FG nicht bindende– zutreffende oder unzutreffende Bejahung der Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 EStG zugrunde liegen. Soweit sich daher eine Behandlung nach § 1 Abs. 3 EStG nicht unmittelbar aus dem Wortlaut des Steuerbescheids selbst ergibt, ist zu prüfen, ob der Anspruchsteller sein Antragswahlrecht gegenüber dem FA entsprechend ausgeübt hat. Da für die Auslegung von Verwaltungsakten der "objektive Verständnis- bzw. Empfängerhorizont” maßgebend ist, ist ein entsprechender Einkommensteuerbescheid so auszulegen, wie der Empfänger ihn verstehen konnte und musste (Müller-Franken in Hübschmann/Hepp/Spitaler –HHSp–, § 124 AO Rz 183). Für die mit der Wirksamkeit des Einkommensteuerbescheids verbundenen Rechtsfolgen kommt es damit nicht auf das von der Behörde Gewollte an, sondern darauf, wie der Empfänger nach den ihm im Laufe des Veranlagungsverfahrens bekannt gewordenen Umständen den materiellen Gehalt (objektiven Inhalt) der Erklärung unter Berücksichtigung von Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte verstehen konnte. Das Erklärte gilt damit auch dann, wenn der Steuerbescheid nach dem Willen der Finanzbehörde einen anderen Inhalt haben sollte (Müller-Franken in HHSp, § 124 AO Rz 183 f.). Es ist daher gegebenenfalls unter Rückgriff auf die Veranlagungsakten zu klären, wie der Anspruchsteller den Einkommensteuerbescheid verstehen konnte. |
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b) Für die Frage, welcher Mitgliedstaat für die Gewährung von Familienleistungen zuständig ist, muss zunächst geprüft werden, ob der persönliche Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 eröffnet ist. |
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Insoweit hat das FG zwar bereits festgestellt, dass der Kläger bei der polnischen X sozialversicherungspflichtig war. Festzustellen wäre jedoch noch, ob es sich insoweit um eine den persönlichen Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 eröffnende Versicherung, insbesondere als Arbeitnehmer oder als Selbständiger handelte (Art. 2 Abs. 1 VO Nr. 1408/71). Bei Anwendung der Zuständigkeitsbestimmungen der Art. 13 ff. VO Nr. 1408/71 wäre insoweit dann nur an diejenige(n) Tätigkeit(en) anzuknüpfen, hinsichtlich derer der Kläger als Arbeitnehmer bzw. Selbständiger i.S. des Art. 1 Buchst. a VO Nr. 1408/71 gilt (Senatsurteil vom 4. August 2011 III R 55/08, BFHE 234, 316, BStBl II 2013, 619). |
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c) Soweit es nach den Art. 13 ff. VO Nr. 1408/71 darauf ankommt, in welchem Mitgliedstaat die selbständige Tätigkeit ausgeübt wird (so z.B. in Art. 13 Abs. 2 Buchst. b und Art. 14a der VO Nr. 1408/71), bestimmt sich dies entgegen der Auffassung der Familienkasse grundsätzlich nicht danach, in welchem Land die Versicherung besteht, sondern –entsprechend dem insoweit eindeutigen Wortlaut der jeweiligen Bestimmung– danach, in welchem Mitgliedstaat die Person eine selbständige Tätigkeit ausübt. Dabei ist grundsätzlich von dem bescheinigten Versichertenstatus des Versicherten auszugehen (Senatsurteil in BFHE 234, 316, BStBl II 2013, 619). |
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d) Ist Deutschland der zuständige Mitgliedstaat, kommt hinsichtlich konkurrierender Ansprüche der Kindsmutter in Polen grundsätzlich die Antikumulierungsvorschrift des Art. 10 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der VO Nr. 1408/71 (VO Nr. 574/72) in ihrer durch die VO Nr. 118/97 geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die VO Nr. 647/2005 zur Anwendung. Zwar kann deren Anwendbarkeit aufgrund der für Deutschland geltenden Einschränkungen des Anhangs I Teil I VO Nr. 1408/71 in der jeweils gültigen Fassung ausgeschlossen sein (s. hierzu Senatsurteil in BFHE 234, 316, BStBl II 2013, 619, unter II.3.b). Jedoch hat der Senat unter Bezugnahme auf das EuGH-Urteil in der Rechtssache Schwemmer vom 14. Oktober 2010 C-16/09 (Slg 2010, I-9717 Rdnr. 38) bereits darauf hingewiesen, dass auch in einem Fall, in dem der nach deutschem Recht Kindergeldberechtigte die Voraussetzungen des Anhangs I Teil I Buchst. D VO Nr. 1408/71 nicht erfüllt, die europarechtlichen Antikumulierungsvorschriften wie der Art. 76 VO Nr. 1408/71 und der Art. 10 VO Nr. 574/72 gleichwohl zur Anwendung kommen können (Senatsurteil vom 5. Juli 2012 III R 76/10, BFHE 238, 87, unter II.4.a). Dies kann sich vor allem daraus ergeben, dass die Kinder des Anspruchstellers als Familienangehörige des anderen Elternteils (hier der Ehefrau des Klägers) in den persönlichen Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71 fallen und parallele Ansprüche auf Familienleistungen für denselben Zeitraum bestehen (vgl. hierzu Senatsurteil in BFH/NV 2013, 1698). |
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e) Ist Deutschland nach den Bestimmungen der Art. 13 ff. VO Nr. 1408/71 der nicht zuständige Mitgliedstaat und auch nicht der Wohnmitgliedstaat der Kinder, dann ist die Konkurrenz zu Ansprüchen im anderen Mitgliedstaat Polen nach nationalem Recht, d.h. nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG, zu lösen (vgl. hierzu Senatsurteil in BFH/NV 2013, 1698). Zur Frage, welche Grundsätze bei der Prüfung des ausländischen Anspruches zu beachten sind und ob die Gewährung ausländischer Leistungen zum Wegfall oder zur Kürzung des Anspruchs auf Kindergeld führt, verweist der Senat auf seine Urteile vom 13. Juni 2013 III R 10/11 (BFH/NV 2013, 1868) und in BFH/NV 2013, 1872. |
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