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II. Die Familienkasse … der Bundesagentur für Arbeit ist aufgrund eines Organisationsaktes (Beschluss des Vorstands der Bundesagentur für Arbeit Nr. 21/2013 vom 18. April 2013 gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 des Finanzverwaltungsgesetzes, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Ausgabe Mai 2013, S. 6 ff., Nr. 2.2 der Anlage 2) im Wege des gesetzlichen Parteiwechsels in die Beteiligtenstellung der Agentur für Arbeit … – Familienkasse eingetreten (s. dazu BFH-Beschluss vom 3. März 2011 V B 17/10, BFH/NV 2011, 1105, unter II.A.). |
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Die Revision der Familienkasse ist begründet. Sie führt zur Teilaufhebung des FG-Urteils und zur vollständigen Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung –FGO–). Dagegen ist die Revision der Klägerin unbegründet und somit zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO). Die im Monat Januar 2009 zugeflossene ALG II-Nachzahlung ist als Bezug des Kindes zu erfassen und auf die Folgemonate zu verteilen. S war danach im gesamten Jahr 2009 imstande, sich selbst zu unterhalten. |
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1. Gemäß § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Sätze 1 und 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG besteht für ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, ein Anspruch auf Kindergeld, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. |
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a) Nach ständiger Rechtsprechung des BFH ist ein behindertes Kind dann imstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es über eine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit verfügt, die zur Bestreitung seines gesamten existenziellen Lebensbedarfs ausreicht (vgl. z.B. BFH-Urteile in BFHE 204, 120, BStBl II 2010, 1046, unter II.1.c; vom 23. Februar 2012 V R 39/11, BFH/NV 2012, 1584). Der gesamte existenzielle Lebensbedarf des behinderten Kindes setzt sich typischerweise aus dem allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf) und dem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf zusammen (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 15. Oktober 1999 VI R 183/97, BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72, unter 1.c). Die Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt ist anhand eines Vergleichs zweier Bezugsgrößen, nämlich des gesamten existenziellen Lebensbedarfs des Kindes einerseits und seiner finanziellen Mittel andererseits, zu prüfen. Erst wenn sich daraus eine ausreichende Leistungsfähigkeit des Kindes ergibt, kann davon ausgegangen werden, dass den Eltern kein zusätzlicher Aufwand erwächst, der ihre steuerliche Leistungsfähigkeit mindert (vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Mai 1990 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86, BVerfGE 82, 60, 87, BStBl II 1990, 653, 658; BFH-Urteil vom 15. Oktober 1999 VI R 40/98, BFHE 189, 449, BStBl II 2000, 75). Dann ist es auch gerechtfertigt, für behinderte Kinder kein Kindergeld oder keinen Kinderfreibetrag zu gewähren (vgl. BFH-Urteil in BFHE 204, 120, BStBl II 2010, 1046, unter II.1.c). |
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b) Bei der Prüfung, ob ein volljähriges Kind wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, ist auf den Kalendermonat abzustellen (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Entscheidungen in BFHE 204, 120, BStBl II 2010, 1046; vom 28. März 2011 III B 144/09, BFH/NV 2011, 1144). |
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c) Das ALG II nach § 19 Abs. 1 Satz 1 SGB II gehört zu den Bezügen i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG in der im Streitjahr geltenden Fassung (vgl. BFH-Urteil vom 19. November 2008 III R 105/07, BFHE 223, 365, BStBl II 2010, 1057). Denn Bezüge in diesem Sinne sind alle Zuflüsse in Geld oder Naturalleistungen, die nicht im Rahmen der einkommensteuerrechtlichen Einkünfteermittlung erfasst werden (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 28. Mai 2009 III R 8/06, BFHE 225, 141, BStBl II 2010, 346, unter II.1.b). Das ALG II kann kindergeldrechtlich nicht anders behandelt werden wie die Grundsicherung nach den §§ 41 ff. des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII), die grundsätzlich als Bezug des Kindes zu erfassen ist (BFH-Urteil vom 20. März 2013 XI R 51/10, BFH/NV 2013, 1088, m.w.N.). Der Unterschied zwischen beiden Sozialleistungsformen besteht darin, dass das ALG II an erwerbsfähige Hilfsbedürftige gezahlt wird (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II und § 19 Abs. 2 Satz 1 SGB XII). Dieser Unterschied ist für die Frage, ob das behinderte Kind sich mit eigenen Finanzmitteln selbst unterhalten kann, irrelevant. |
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Der Hinweis der Klägerin auf unterschiedlich hohe Unterkunftskosten, die einzelnen Beziehern von ALG II erstattet werden (vgl. § 22 Abs. 1 SGB II), rechtfertigt keine abweichende Beurteilung. Denn das Steuerrecht orientiert sich im Bereich der Unterkunftskosten nicht am Sozialrecht. Während dort die tatsächlichen Kosten für eine angemessene Unterkunft erstattet werden, werden im Steuerrecht Unterkunftskosten –ungeachtet aller regionalen Unterschiede– nur pauschal mit einem bundeseinheitlichen Betrag im Rahmen des steuerrechtlichen Existenzminimums berücksichtigt (vgl. BFH-Urteil vom 18. November 2009 X R 34/07, BFHE 227, 99, BStBl II 2010, 414, unter B.III.2.f der Gründe). Mit dieser Typisierung wird ein legitimer Vereinfachungszweck verfolgt (vgl. BFH-Urteil in BFHE 227, 99, BStBl II 2010, 414, m.w.N.), der im Einzelfall allerdings dazu führen könnte, dass solche Steuerpflichtige über den Kinderfreibetrag oder das Kindergeld eine Entlastung erfahren, deren behinderte Kinder sich angesichts regional niedriger Unterkunftskosten mit eigenen Einkünften und Bezügen eigentlich selbst unterhalten könnten. |
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d) Wird eine für einen vergangenen Zeitraum geleistete Nachzahlung, die zum Wegfall der Bedürftigkeit führt, erst im Laufe des Monats ausbezahlt, wirkt sie sich erst ab dem auf den Zuflussmonat folgenden Monat kindergeldschädlich aus (vgl. BFH-Entscheidungen in BFHE 204, 120, BStBl II 2010, 1046, unter II.2.; in BFH/NV 2012, 1584; in BFH/NV 2013, 1088; vom 11. April 2013 III R 35/11, BFHE 241, 499, BStBl II 2013, 1037). Sie ist auf den Zuflussmonat und die restlichen Monate des Zuflussjahres zu verteilen (vgl. BFH-Urteil in BFHE 204, 120, BStBl II 2010, 1046; zu regelmäßig wiederkehrenden Zahlungen i.S. des § 11 Abs. 1 Satz 2 EStG, vgl. Senatsurteil in BFHE 241, 499, BStBl II 2013, 1037). Der Senat folgt damit der Auffassung der Familienkasse, dass zwischen der Nachzahlung einer Waisenrente, die dem BFH-Urteil in BFHE 204, 120, BStBl II 2010, 1046 zugrunde lag, und der Nachzahlung von ALG II im Hinblick auf die kindergeldrechtliche Berücksichtigung keine Unterschiede bestehen. Eine Verteilung auf die –zurückliegenden– Monate, für die die ALG II-Nachzahlung gewährt wird, kommt im Kindergeldrecht wegen des dort grundsätzlich geltenden Zuflussprinzips nicht in Betracht (a.A. Pust in Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, § 32 Rz 490). Auch eine Berücksichtigung der –gesamten– Nachzahlung ausschließlich im Zuflussmonat scheidet aus. Dies hat der XI. Senat des BFH bereits entschieden (BFH-Urteil in BFH/NV 2013, 1088). Der erkennende Senat schließt sich dieser Beurteilung an. |
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2. In Anwendung der vorstehenden Grundsätze war S in allen Monaten des Jahres 2009 zum Selbstunterhalt imstande, weil er über ausreichende Mittel verfügte, um seinen gesamten existenziellen Lebensbedarf zu decken. |
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a) Nach den vom FG in Bezug genommenen und damit festgestellten (vgl. § 118 Abs. 2 FGO) Berechnungen der Familienkasse lt. Einspruchsentscheidung vom 19. Mai 2010, gegen die die Klägerin auch keine Einwände erhoben hat, belief sich der gesamte Lebensbedarf des S (Grundbedarf von 7.680 EUR zzgl. behinderungsbedingter Mehrbedarf von 310 EUR) im Jahr 2009 nach entsprechender Umrechnung auf monatlich 665,83 EUR. |
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b) Dem standen in den einzelnen Monaten eigene Mittel des S gegenüber, die jeweils höher waren als der Bedarf. Neben den laufenden ALG II-Zahlungen ist auch die im Januar 2009 zugeflossene ALG II-Nachzahlung in Höhe von 3.502 EUR zu berücksichtigen. Diese ist auf den Zuflussmonat und die Monate Februar bis Dezember 2009 gleichmäßig zu verteilen (anteiliger Monatsbetrag 291,83 EUR). Abzusetzen sind monatlich jeweils 15 EUR als anteilige Kostenpauschale. Die eigenen (Monats-)Einnahmen des S sind um den anteiligen Arbeitnehmerpauschbetrag gemäß § 9a Satz 1 Nr. 1 Buchst. a EStG (920 EUR) zu kürzen (monatlicher Kürzungsbetrag damit 76,66 EUR). Wegen der geltenden monatlichen Betrachtungsweise kann ein in "einkunftslosen" Monaten nicht ausgeschöpfter anteiliger Pauschbetrag nicht auf andere Monate übertragen werden. Danach ergibt sich für die streitigen Monate folgendes Bild: |
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Bezüge (laufender ALG II-Bezug in Höhe von 553,60 EUR abzgl. 15 EUR) |
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Einkünfte (253 EUR Einnahmen abzgl. 76,66 EUR) |
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Das Kind ist nicht bedürftig. Der auf den Zuflussmonat entfallende Teil der ALG II-Nachzahlung in Höhe von 291,83 EUR wirkt sich nicht aus. |
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Bezüge (laufender ALG II Bezug abzgl. 15 EUR) |
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und anteilige ALG II Nachzahlung aus dem Januar |
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Einkünfte (340,57 EUR Einnahmen abzgl. 76,66 EUR) |
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Bezüge (laufender ALG II Bezug abzgl. 15 EUR) jeweils |
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anteilige ALG II Nachzahlung aus dem Januar jeweils |
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Auf die eigenen Einkünfte des S kommt es hiernach nicht mehr an. |
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Juli 2009 bis Dezember 2009 |
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Bezüge (laufender ALG II Bezug abzgl. 15 EUR) jeweils |
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anteilige ALG II Nachzahlung aus dem Januar jeweils |
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Auf die eigenen Einkünfte und weitere Bezüge kommt es hiernach nicht mehr an. |
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