III R 76/10 – Kindergeldanspruch eines in Deutschland selbständig tätigen Architekten, der vorübergehend noch in Griechenland rentenversichert war – Persönlicher Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71 – Zusammentreffen mehrerer Ansprüche – Sondersysteme für Beamte

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 5.7.2012, III R 76/10

Kindergeldanspruch eines in Deutschland selbständig tätigen Architekten, der vorübergehend noch in Griechenland rentenversichert war – Persönlicher Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71 – Zusammentreffen mehrerer Ansprüche – Sondersysteme für Beamte

Leitsätze

1. Soweit es nach den Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 darauf ankommt, in welchem Mitgliedstaat die abhängige Beschäftigung bzw. die selbständige Tätigkeit ausgeübt wird, bestimmt sich dies grundsätzlich nicht danach, in welchem Land die Versicherung besteht, sondern danach, in welchem Mitgliedstaat die Person abhängig beschäftigt ist bzw. eine selbständige Tätigkeit ausübt.

2. Art. 76 der VO Nr. 1408/71 und Art. 10 der VO Nr. 574/72 sind auch dann anzuwenden, wenn der in Deutschland tätige Elternteil nicht die Voraussetzungen des Anhangs I Teil I Buchst. D der VO Nr. 1408/71 erfüllt, jedoch der andere Elternteil parallele Ansprüche auf Familienleistungen für denselben Zeitraum hat und selbst in den persönlichen Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71 fällt, so dass über diesen die Kinder als Familienangehörige im Sinne der VO Nr. 1408/71 gelten.

Tatbestand

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I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) und seine Ehefrau sind die Eltern der im März 2006 geborenen Tochter (T), die seit 1. August 2007 zusammen mit ihren Eltern in der Bundes-republik Deutschland (Deutschland) lebt.
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Der Kläger ist Architekt. Als solcher war er zunächst in Griechenland selbständig tätig und dort in der Kasse für Ingenieure und Bauunternehmer für öffentliche Arbeiten (TSMEDE) rentenversichert. Jedenfalls seit 1. August 2007 erzielte der Kläger nur noch in Deutschland Einkünfte aus selbständiger Arbeit. Seit 1. April 2008 ist er Mitglied des Versorgungswerks einer Architektenkammer in Deutschland.
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Die Ehefrau des Klägers ist als vom griechischen Staat beamtete Lehrerin beschäftigt und arbeitet seit dem 31. Juli 2007 bei einem griechischen Generalkonsulat in Deutschland. Sie erhält für T 18 EUR Kindergeld vom griechischen Staat.
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Mit Bescheid vom 28. Februar 2008 lehnte die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) den Kindergeldantrag des Klägers ab. Der Kläger sei im Wohnland des Kindes nicht erwerbstätig im Sinne des Beschlusses Nr. 207 der Verwaltungskommission der Europäischen Union, weshalb der Anspruch der Ehefrau des Klägers im Ausland nach Art. 10 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (VO Nr. 574/72) vorrangig sei. Den hiergegen gerichteten Einspruch wies die Familienkasse mit Einspruchsentscheidung vom 9. Juni 2008 als unbegründet zurück.
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Das Finanzgericht (FG) gab der auf das Differenzkindergeld in Höhe von monatlich 136 EUR für die Monate August 2007 bis März 2008 gerichteten Klage statt.
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Zur Begründung ihrer hiergegen gerichteten Revision macht die Familienkasse im Wesentlichen geltend, dass die Entscheidung des FG auf einer unzutreffenden Auslegung des Art. 13 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (VO Nr. 1408/71), in ihrer durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 –VO Nr. 118/97– (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften 1997 Nr. L 28, S. 1) geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 647/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. April 2005 –VO Nr. 647/2005– (Amtsblatt der Europäischen Union –ABlEU– 2005 Nr. L 117, S. 1) beruhe und damit Bundesrecht verletze.
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Die Familienkasse beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
8 
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

 
9 
II. Die Revision ist unbegründet und daher gemäß § 126 Abs. 2 FGO zurückzuweisen. Das FG hat den Anspruch des Klägers auf Differenzkindergeld für die Monate August 2007 bis März 2008 zu Recht bejaht.
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1. Der im Streitzeitraum in Deutschland wohnhafte Kläger erfüllte unstreitig die Anspruchsvoraussetzungen der §§ 62 ff. des Einkommensteuergesetzes (EStG) für seine ebenfalls in Deutschland wohnhafte Tochter T. Zu Recht ist das FG auch davon ausgegangen, dass die Anwendbarkeit dieser deutschen Rechtsvorschriften nicht durch Gemeinschaftsrecht ausgeschlossen wird.
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2. Der Kläger fällt in den persönlichen Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71.
12 
a) Nach der Rechtsprechung des Senats (Urteil vom 4. August 2011 III R 55/08, BFHE 234, 316, BFH/NV 2012, 85 Rz 19) ist für die im ersten Schritt zu prüfende Eröffnung des persönlichen Geltungsbereichs der VO Nr. 1408/71 erforderlich, aber auch ausreichend, dass eine Person nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 in irgendeinem der von ihrem sachlichen Geltungsbereich erfassten Zweige der sozialen Sicherheit in irgendeinem Mitgliedstaat der Europäischen Union versichert ist. Dass eine Person die Voraussetzungen des Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 in Bezug auf ihre in Deutschland ausgeübte Tätigkeit nicht erfüllt, bedeutet daher noch nicht, dass sie dem persönlichen Geltungsbereich dieser Verordnung nicht unterfällt; denn dieser kann aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu dem System der sozialen Sicherheit eines anderen Mitgliedstaats eröffnet sein.
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b) Nach den Feststellungen des FG war der Kläger im Streitzeitraum in Griechenland in der TSMEDE rentenversichert. Hierbei handelt es sich nach den weiteren Feststellungen des FG um ein System der sozialen Sicherheit für Selbständige i.S. des Art. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71. Dieses ist auch nicht nach Art. 1 Buchst. j i.V.m. dem Anhang II der VO Nr. 1408/71 aus dem Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71 ausgenommen. Somit war der Kläger im Streitzeitraum i.S. des Art. 2 Abs. 1 der VO Nr. 1408/71 ein Selbständiger, für den die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats Griechenland gelten. Der persönliche Geltungsbereich ist daher eröffnet.
14 
3. Zu Recht ist das FG auch davon ausgegangen, dass sich aus den im zweiten Prüfungsschritt anzuwendenden Kollisionsregeln der Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 eine Anwendbarkeit der deutschen Rechtsvorschriften ergibt.
15 
a) Soweit es nach den Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 darauf ankommt, in welchem Mitgliedstaat die abhängige Beschäftigung bzw. die selbständige Tätigkeit ausgeübt wird (so z.B. in Art. 13 Abs. 2 Buchst. a und b der VO Nr. 1408/71), bestimmt sich dies nach der Rechtsprechung des Senats (Urteil in BFHE 234, 316, BFH/NV 2012, 85 Rz 28 f.) entgegen der Auffassung der Familienkasse grundsätzlich nicht danach, in welchem Land die Versicherung besteht, sondern –entsprechend dem insoweit eindeutigen Wortlaut der jeweiligen Bestimmung– danach, in welchem Mitgliedstaat die Person abhängig beschäftigt ist bzw. eine selbständige Tätigkeit ausübt. Dabei ist grundsätzlich von dem bescheinigten Versichertenstatus des Versicherten auszugehen. Anzuknüpfen ist allerdings nur an diejenige(n) Tätigkeit(en), hinsichtlich derer die betreffende Person als Arbeitnehmer bzw. Selbständiger i.S. des Art. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 gilt.
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b) Da der Kläger nach den Feststellungen des FG im Streitzeitraum in Deutschland die selbständige Architektentätigkeit ausgeübt hat, hinsichtlich derer er in Griechenland als Selbständiger i.S. des Art. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 galt, kann sich daraus auch nach Art. 13 Abs. 2 Buchst. b der VO Nr. 1408/71 die Anwendung der deutschen Rechtsvorschriften ergeben. Nach Art. 13 Abs. 2 Buchst. b der VO Nr. 1408/71 unterliegt eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats eine selbständige Tätigkeit ausübt –soweit nicht die Art. 14 bis 17 der VO Nr. 1408/71 etwas anderes bestimmen–, den Rechtsvorschriften dieses Staats, und zwar auch dann, wenn sie im Gebiet eines anderen Staats wohnt. Anhaltspunkte für das Vorliegen einer der Ausnahmebestimmungen der Art. 14 bis 17 der VO Nr. 1408/71 –insbesondere für eine nur vorübergehende selbständige Tätigkeit in Deutschland gemäß Art. 14a Nr. 1 der VO Nr. 1408/71 oder eine Tätigkeit in zwei oder mehr Mitgliedstaaten nach Art. 14a Nr. 2 der VO Nr. 1408/71– hat das FG nicht festgestellt. Es hat daher zu Recht die Grundregel des Art. 13 Abs. 2 Buchst. b der VO Nr. 1408/71 angewandt, wonach aufgrund der selbständigen Tätigkeit in Deutschland das Recht des Tätigkeitsstaats Anwendung findet.
17 
c) Da Deutschland danach gemäß den gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften der zuständige Mitgliedstaat war, kommt es auf die von der neueren Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union –EuGH– (Urteil vom 12. Juni 2012 C-611/10, C-612/10, Hudzinski, juris) geprüfte Frage, ob die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften einen Kindergeldanspruch nach §§ 62 ff. EStG ausschließen, wenn Deutschland nach den Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 der unzuständige Mitgliedstaat ist, nicht an.
18 
4. Zu Recht hat das FG auch die sich aus der zeitgleichen Anspruchsberechtigung der Ehefrau des Klägers ergebende Anspruchskumulierung nach Art. 10 der VO Nr. 574/72 in ihrer durch die VO Nr. 118/97 geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die VO Nr. 647/2005, aufgelöst.
19 
a) Ist der Kindergeldanspruch im Wohnland des Kindes –wie hier im Falle des Wohnlands Deutschland– nicht von der Ausübung einer Erwerbstätigkeit abhängig, ist nicht Art. 76 der VO Nr. 1408/71, sondern Art. 10 der VO Nr. 574/72 anzuwenden. Insoweit kann der Senat dahingestellt lassen, ob die Einschränkungen des Anhangs I Teil I Buchst. D (entspricht Teil C in der bis April 2005 gültigen Fassung) der VO Nr. 1408/71 (vgl. hierzu Senatsurteil in BFHE 234, 316, BFH/NV 2012, 85 Rz 30) –wie das FG meint– nur dann zu berücksichtigen sind, wenn die Familienleistungen von einem deutschen Träger für im Ausland lebende Kinder gezahlt werden sollen. Denn hier ergibt sich eine Anwendbarkeit des Art. 10 der VO Nr. 574/72 jedenfalls daraus, dass parallele Ansprüche auf Familienleistungen für denselben Zeitraum bestehen und die Ehefrau des Klägers in den persönlichen Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71 fällt, so dass über diese die Kinder als Familienangehörige im Sinne der VO Nr. 1408/71 einzustufen sind.
20 
aa) Nach der Rechtsprechung des EuGH zur Reichweite der Bestimmungen des Anhangs I der VO Nr. 1408/71 (Urteil vom 14. Oktober 2010 C-16/09, Schwemmer, Slg. 2010, I-9717 Rdnr. 38) kann die Antikumulierungsvorschrift des Art. 10 der VO Nr. 574/72 auch dann zur Anwendung kommen, wenn der nach deutschem Recht Kindergeldberechtigte die Voraussetzungen des Anhangs I Teil I Buchst. D der VO Nr. 1408/71 nicht erfüllt. Dies begründete der EuGH zum einen damit, dass es trotz der fehlenden Anwendbarkeitsvoraussetzungen zur Entstehung paralleler Ansprüche auf Familienleistungen für denselben Zeitraum kommen könne. Zum anderen verwies er unter Bezugnahme auf die Entscheidung in der Rechtssache Kromhout (EuGH-Urteil vom 4. Juli 1985 C-104/84, Slg. 1985, I-2205 Rdnr. 15) darauf, dass die Kinder als Familienangehörige des Elternteils, der Arbeitnehmer (in der Schweiz) ist, in den persönlichen Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71 fallen.
21 
bb) Im Streitfall fällt die Ehefrau des Klägers in den persönlichen Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71. Nach Art. 2 Abs. 1 der VO Nr. 1408/71 gilt die Verordnung u.a. für Arbeitnehmer, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, soweit sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaats sind.
22 
Die Ehefrau des Klägers ist als Griechin Staatsangehörige eines Mitgliedstaats und als Beamtin dieses Mitgliedstaats Arbeitnehmerin, da unter den Arbeitnehmerbegriff auch Personen fallen, die in einem Sondersystem für Beamte erfasst werden (Art. 1 Buchst. a Ziff. i der VO Nr. 1408/71).
23 
Unter den Begriff der Rechtsvorschriften fallen über Art. 1 Buchst. j Ziff. a der VO Nr. 1408/71 auch die Sondersysteme für Beamte (vgl. ausführlich Urteil des Bundesfinanzhofs vom 13. August 2002 VIII R 97/01, BFHE 200, 211, BStBl II 2002, 869 Rz 10). Da somit die Kinder des Klägers als Familienangehörige (Art. 1 Buchst. f Ziff. i der VO Nr. 1408/71) der Ehefrau des Klägers in den persönlichen Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71 fallen (Art. 2 Abs. 1 der VO Nr. 1408/71) und zudem auch parallele Ansprüche auf Familienleistungen für denselben Zeitraum bestehen, greift Art. 10 der VO Nr. 574/72 nach beiden vom EuGH genannten Voraussetzungen ein.
24 
b) Zu Recht ist das FG auch davon ausgegangen, dass der Anspruch des Klägers auf deutsches Kindergeld nicht nach Art. 10 der VO Nr. 574/72 ausgeschlossen wird. Der Kläger hat nach den Feststellungen des FG eine Berufstätigkeit im Wohnland des Kindes (Deutschland) ausgeübt. Entgegen der Auffassung der Familienkasse ergibt sich nichts anderes auch aus dem Beschluss Nr. 207 der Verwaltungskommission der Europäischen Union für die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer vom 7. April 2006 zur Auslegung des Art. 76 und des Art. 79 Abs. 3 der VO Nr. 1408/71 sowie des Art. 10 Abs. 1 der VO Nr. 574/72 bezüglich des Zusammentreffens von Familienleistungen oder -beihilfen (ABlEU 2006 Nr. L 175, S. 83). Denn danach ist die Formulierung in Art. 10 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i der VO Nr. 574/72 "Wird … eine Berufstätigkeit ausgeübt" als tatsächliche Ausübung einer Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbständiger zu verstehen. Aufgrund dieser selbständigen Tätigkeit des Klägers im Wohnland des Kindes ist nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i der VO Nr. 574/72 vorrangig Deutschland zur Gewährung von Familienleistungen verpflichtet.

Quelle: bundesfinanzhof.de


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