III R 92/06 – Kindergeldanspruch für Pflegekinder – Aufnahme eines Kindes in den Haushalt zu Erwerbszwecken – Unterbringung des Kindes in einer Pflegefamilie als sonstiger betreuter Wohnform nach § 34 SGB VIII – Pflegegelder nach § 33 SGB VIII – Steuerrechtliche Tatbestandswirkung der sozialrechtlichen Einordnung

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 2.4.2009, III R 92/06

Kindergeldanspruch für Pflegekinder – Aufnahme eines Kindes in den Haushalt zu Erwerbszwecken – Unterbringung des Kindes in einer Pflegefamilie als sonstiger betreuter Wohnform nach § 34 SGB VIII – Pflegegelder nach § 33 SGB VIII – Steuerrechtliche Tatbestandswirkung der sozialrechtlichen Einordnung

Leitsätze

1. Leistet ein als Betreiber einer sonstigen betreuten Wohnform nach § 34 SGB VIII anerkannter Trägerverein einer Pflegeperson Zahlungen für die Erziehung und Unterbringung eines fremden Kindes, so scheidet die Annahme eines Pflegekindschaftsverhältnisses aus, weil das Kind zu Erwerbszwecken in den Haushalt der Pflegeperson aufgenommen worden ist (§ 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG).

2. Die sozialrechtliche Einordnung als sonstige betreute Wohnform hat steuerrechtliche Tatbestandswirkung. Es kommt daher nicht darauf an, ob die Unterbringung des Kindes sozialrechtlich als Vollzeitpflege nach § 33 SGB VIII hätte behandelt werden müssen.

Tatbestand

 
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I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) und seine Ehefrau nahmen im Juli 2002 die im Jahre 1993 geborene C in ihren Haushalt auf, in dem auch die vier leiblichen Kinder lebten. Seit Oktober 2005 war die Ehefrau des Klägers für den Verein "… e.V." tätig. Nach dem zwischen der Ehefrau des Klägers und dem Verein abgeschlossenen "Erziehungsstellenvertrag nach § 34 SGB VIII" vom 27. September 2005 sollte in der sog. Fachfamilie des Klägers und seiner Ehefrau eine Erziehungsstelle eingerichtet werden. Die Fachfamilie sollte C für die Dauer der Hilfe zur Erziehung nach § 1688 des Bürgerlichen Gesetzbuches vertreten. Der Verein hat ein Weisungsrecht in grundsätzlichen Fragen der Betreuung. Er bietet der Fachfamilie Beratung und Unterstützung an. Seine monatlichen Zahlungen an die Ehefrau des Klägers schlüsselte der Verein wie folgt auf:
2 
Beitrag zur Erziehung
1 200 EUR
Sachkosten
700 EUR
Altersversorgung
125 EUR
Versicherung Kfz (Vollkasko)
40 EUR
Beitrag zur Haushaltskraft
125 EUR
Summe
2 190 EUR
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Die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) gewährte dem Kläger Kindergeld, da sie der Ansicht war, C befinde sich in Vollzeitpflege (§ 33 des Achten Buchs Sozialgesetzbuch –SGB VIII–). Mit Bescheid vom 16. September 2005 hob sie die Festsetzung ab 1. Oktober 2005 auf. Die Familienkasse war nunmehr der Auffassung, bei der Aufnahme von C in den Haushalt des Klägers und seiner Ehefrau handele es sich um eine sonstige betreute Wohnform nach § 34 SGB VIII, die der Annahme eines Pflegekindschaftsverhältnisses i.S. von § 32 Abs. 1 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) entgegenstehe.
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Der Einspruch des Klägers hatte keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt und hob den Bescheid vom 16. September 2005 auf (Urteil vom 19. Oktober 2006  14 K 4922/05 Kg, Entscheidungen der Finanzgerichte 2007, 368). Es führte im Wesentlichen aus, zwischen C sowie dem Kläger und dessen Ehefrau bestehe ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band. C sei auch nicht zu Erwerbszwecken in den Haushalt aufgenommen worden. Dies sei nicht etwa deshalb anzunehmen, weil nach dem System der Pflegekonzepte der Jugendhilfe eine Hilfe zur Erziehung nach § 34 SGB VIII gewährt worden sei. Die Höhe des für die Unterbringung von C gezahlten Entgelts rechtfertige nicht den Schluss auf eine Entlohnung nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten. Der Trägerverein zahle nach Abzug der Sachkosten einen Tagessatz von ca. 44 EUR. Dieser entspreche nicht den Marktpreisen für eine vollzeitige Tagesbetreuung, die sich auf mindestens 100 EUR je Tag beliefen.
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Zur Begründung der Revision trägt die Familienkasse im Wesentlichen vor, C sei zu marktüblichen Preisen untergebracht worden. Auch wenn ein Trägerverein zwischengeschaltet worden sei, handele es sich dennoch um eine sonstige Unterbringung i.S. von § 34 SGB VIII. Die zwischen dem Jugendamt und dem Verein festgelegte Entlohnung von täglich 110 EUR zur Deckung des Unterhalts- und Betreuungsaufwandes sei marktüblich und beruhe auf wirtschaftlichen Gesichtspunkten.
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Die Familienkasse beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
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Er führt aus, der vom FG festgestellte Tagessatz von ca. 44 EUR, der auf die Betreuungsleistung der Pflegeeltern entfalle, könne nicht als marktgerechte Entlohnung für eine Vollzeitbetreuung betrachtet werden. Es dürfe nicht danach unterschieden werden, ob Pflegegelder nach § 33 SGB VIII oder nach § 34 SGB VIII geleistet würden. Beide Betreuungsformen müssten kindergeldrechtlich gleich behandelt werden. Die psychische Störung von C sei so gravierend, dass eine Unterbringung in einer normalen Pflegefamilie nach § 33 Satz 1 SGB VIII nicht möglich sei. Der Trägerverein habe zu Unrecht die Betriebserlaubnis für eine sonstige betreute Wohnform nach § 34 SGB VIII erhalten, vielmehr sei die Betreuung von C von Anfang an als Vollzeitpflege für besonders entwicklungsbeeinträchtigte Kinder und Jugendliche nach § 33 Satz 2 SGB VIII zu beurteilen gewesen.

Entscheidungsgründe

 
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II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung –FGO–). Das FG hat dem Kläger zu Unrecht einen Anspruch auf Kindergeld zuerkannt.
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1. Nach § 63 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG wird Kindergeld auch für Pflegekinder gewährt. Pflegekinder sind nach § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG i.d.F. des Steueränderungsgesetzes 2003 vom 15. Dezember 2003 (BGBl I 2003, 2645) Personen, mit denen der Steuerpflichtige durch ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band verbunden ist, sofern er sie nicht zu Erwerbszwecken in seinen Haushalt aufgenommen hat und das Obhuts- und Pflegeverhältnis zu den Eltern nicht mehr besteht. Die jetzige Gesetzesfassung löste die Vorgängerregelung ab, der zufolge ein Pflegekindschaftsverhältnis u.a. davon abhing, dass der Steuerpflichtige das Kind mindestens zu einem nicht unwesentlichen Teil auf seine Kosten unterhielt. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) war dies der Fall, wenn die Pflegeeltern nach Abzug der Erstattung ihrer Aufwendungen mindestens 20 % der tatsächlich entstandenen, angemessenen Unterhaltskosten (einschließlich der Kosten für Betreuung, Ausbildung und Erziehung) trugen (Urteil vom 29. Januar 2003 VIII R 71/00, BFHE 201, 292, BStBl II 2003, 469). Da nach Ansicht des Gesetzgebers diese Rechtsprechung zu praktischen Schwierigkeiten und zu erheblichem Verwaltungsaufwand führte (vgl. BTDrucks 15/1945, S. 9), wurden die Tatbestandsvoraussetzungen für die Annahme eines Pflegekindschaftsverhältnisses geändert. Entscheidend ist nach neuer Rechtslage, ob das Kind zu Erwerbszwecken in den Haushalt aufgenommen worden ist. Betreiber einer Einrichtung nach § 34 SGB VIII (Heimerziehung und sonstige betreute Wohnform) haben keinen Anspruch auf Kindergeld für Pflegekinder (vgl. BFH-Urteil vom 23. September 1998 XI R 11/98, BFHE 187, 39, BStBl II 1999, 133).
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2. Pflegegelder, die bei Aufnahme eines Kindes in eine Familie zur Vollzeitpflege nach § 33 SGB VIII geleistet werden, stellen den gesamten Unterhalt einschließlich der Kosten für die Erziehung sicher (§ 39 Abs. 1 SGB VIII). Die monatlichen Pauschalbeträge bemessen sich nach den tatsächlichen Kosten, soweit diese einen angemessenen Umfang nicht übersteigen (§ 39 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII). Bei der Unterbringung in einer Pflegefamilie ist im Pflegesatz kein pauschalierter Ersatz für Personal- und Sachkosten der Pflegeeinrichtung enthalten (BFH-Urteil vom 23. September 1999 VI R 106/98, BFH/NV 2000, 448). Auch wenn Pflegegelder nach § 33 SGB VIII einen Anreiz zur Aufnahme fremder Kinder schaffen sollen, sind sie nach ihrem Zweck und ihrer Bemessungsgrundlage kein nach marktwirtschaftlichen Grundsätzen berechnetes Entgelt für Unterbringung und Betreuung, sondern lediglich Kostenersatz. Nur wenn Pflegeeltern ein erheblich über den Pflegesätzen des zuständigen Jugendamtes liegendes Pflegegeld gezahlt wird, kann angenommen werden, dass sie nach marktwirtschaftlichen Grundsätzen für die Unterbringung und Betreuung entlohnt werden (Senatsurteil vom 30. Juni 2005 III R 80/03, BFH/NV 2006, 262).
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3. Im Streitfall bezog die Ehefrau des Klägers nicht die pauschalen Pflegebeträge, die bei der Unterbringung eines Kindes in einer Pflegefamilie nach § 33 Satz 1 SGB VIII vorgesehen sind. Vielmehr erhielt sie Leistungen von dem Trägerverein, der mit dem Träger der Jugendhilfe ein Entgelt für die Unterbringung in einer sonstigen betreuten Wohnform nach § 34 SGB VIII vereinbart hatte. Dieses Entgelt unterscheidet sich schon wegen der darin enthaltenen Erstattung von Personal- und Sachkosten von den Pauschalbeträgen, die bei einer Vollzeitpflege nach § 33 Satz 1 i.V.m. § 39 Abs. 4 Satz 3 Halbsatz 1 SGB VIII geleistet werden. Bei der Aufnahme eines Kindes in ein Heim oder in eine sonstige betreute Wohnform nach § 34 SGB VIII sind deshalb Erwerbszwecke i.S. von § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG zu bejahen.
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4. Der Einwand des Klägers, der Trägerverein habe zu Unrecht die Betriebserlaubnis nach § 45 SGB VIII für eine sonstige betreute Wohnform erhalten, vielmehr habe von Anfang an eine Vollzeitpflege für besonders entwicklungsbeeinträchtigte Kinder und Jugendliche nach § 33 Satz 2 SGB VIII vorgelegen, führt zu keiner anderen Betrachtung. Die Unterbringung von C in der Familie des Klägers und seiner Ehefrau ist im streitigen Zeitraum nach § 34 SGB VIII behandelt worden. Diese sozialrechtliche Tatbestandswirkung ist steuerrechtlich zu beachten. Ob der Kläger bei einer anderen sozialrechtlichen Einordnung kindergeldberechtigt gewesen wäre, braucht der Senat nicht zu entscheiden.

Quelle: bundesfinanzhof.de


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