Kein Vertrauenstatbestand aufgrund der Verwaltungsanweisung im koordinierten Ländererlass vom 17.12.1965 (BStBl II 1966, 34)

Urteil vom 12. März 2020, VI R 35/17

ECLI:DE:BFH:2020:U.120320.VIR35.17.0

BFH VI. Senat

AO § 163 , AO § 227 , EStG § 14 , EStG § 16 , GG Art 20

vorgehend FG Münster, 22. November 2016, Az: 12 K 1519/14E

Leitsätze

1. NV: Bei der Verwaltungsanweisung im koordinierten Ländererlass vom 17.12.1965 (BStBl II 1966, 34) handelt es sich nicht um eine Billigkeitsregelung, sondern um eine norminterpretierende, mit der Gesetzeslage nicht in Einklang stehende Richtlinie, die keinen Vertrauenstatbestand begründen kann.

2. NV: Eine Übergangsregelung der Finanzverwaltung kann nicht in Form einer typisierenden Billigkeitsregelung getroffen werden.

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Münster vom 22.11.2016 – 12 K 1519/14 E aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des gesamten Verfahrens haben die Klägerinnen zu tragen.

Tatbestand

I.

  1. Die Klägerinnen und Revisionsbeklagten (Klägerinnen) sind je zur Hälfte Erbinnen ihrer 2005 verstorbenen Mutter (M). M hatte ihrerseits von ihrem vorverstorbenen Ehemann (E) im Jahr 1987 einen ruhenden landwirtschaftlichen Betrieb übernommen. Eine Aufgabeerklärung wurde nicht abgegeben. Weder E noch M wurden in dieser Zeit steuerlich geführt.
  2. Im Rahmen einer Außenprüfung stellte die Prüferin fest, dass E zuletzt in seinem Eigentum befindliche Flächen von … ha zzgl. Hofstelle (… ha) zumindest bis zum Wirtschaftsjahr 1976/1977 bewirtschaftet hatte. Ab Oktober 1979 waren –abgesehen von den Wirtschaftsgebäuden– Flächen an X verpachtet. Ab dem 01.01.1986 waren weitere … ha an Y verpachtet.
  3. Mit notariell beurkundetem Vertrag vom …1998 veräußerte M ein Grundstück von ca. … qm an die Stadt Z gegen ratenweise Kaufpreiszahlung.
  4. Die Prüferin war der Ansicht, die Kaufpreisraten seien jeweils im Zeitpunkt des Zuflusses als Veräußerungserlös zu erfassen. Die Buchwerte berücksichtigte sie im Zeitpunkt des Übergangs von Nutzungen und Lasten im Wirtschaftsjahr 2000/2001. Aufgrund der entsprechenden Steuerbescheide ergaben sich Nachzahlungen an Einkommensteuer, Solidaritätszuschlag sowie Zinsen. Die Einkommensteuerbescheide wurden nach Rücknahme der diesbezüglich erhobenen Klage bestandskräftig.
  5. Mitte Dezember 2012 beantragten die Klägerinnen den Erlass sowie die Erstattung der mit den Bescheiden für die Jahre 1999 bis 2001 festgesetzten Einkommen- und Zuschlagsteuern sowie der Zinsen. Die Steuern seien gemäß der Billigkeitsregelung der Oberfinanzdirektion (OFD) Münster vom 07.01.1991 – S 2239-70-St 12-21 (Der Betrieb –DB– 1991, 523) nicht zu erheben.
  6. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt –FA–) lehnte den Erlassantrag ab. Die dagegen gerichteten Einsprüche blieben erfolglos.
  7. Das Finanzgericht (FG) gab der im Anschluss erhobenen Klage aus den in Betriebs-Berater (BB) 2018, 167 veröffentlichten Gründen weitgehend statt. Es war der Ansicht, die Klägerinnen hätten allein aufgrund des sogenannten Verpachtungserlasses vom 17.12.1965 (BStBl II 1966, 34) nach § 163 der Abgabenordnung (AO) Anspruch auf eine aus Billigkeitsgründen niedrigere Einkommensteuerfestsetzung bzw. auf Erlass der Beträge für die Streitjahre.
  8. Mit der Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts.
  9. Es beantragt,
    das FG-Urteil aufzuheben und die Klage insgesamt abzuweisen.
  10. Die Klägerinnen beantragen,
    die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

  1. Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung –FGO–).
  2. 1. Zwischen den Beteiligten steht zu Recht nicht (mehr) im Streit, dass allein durch den Beginn der parzellenweisen Verpachtung des zumindest bis zum Wirtschaftsjahr 1976/1977 von E eigenbewirtschafteten landwirtschaftlichen Betriebs nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) keine (zwangsweise) Betriebsaufgabe erfolgt ist (vgl. zuletzt Senatsurteil vom 17.05.2018 – VI R 73/15, Rz 26 f., m.w.N.). Es ist weiter unstreitig, dass es mangels Abgabe einer Aufgabeerklärung durch E oder M auch danach nicht zu einer Aufgabe des Betriebs gekommen ist und demzufolge die Veräußerung des Grundstücks von M an die Stadt zu steuerpflichtigen Veräußerungsgewinnen geführt hat. Die entsprechenden Steuerfestsetzungen sind bestandskräftig geworden, der erkennende Senat sieht deshalb von weiteren Ausführungen ab.
  3. 2. Das FG ist zu Unrecht davon ausgegangen, die Klägerinnen hätten aufgrund des sogenannten Verpachtungserlasses in BStBl II 1966, 34 Anspruch auf eine Billigkeitsmaßnahme. Das FA hat die begehrte Billigkeitsmaßnahme vielmehr im Ergebnis zu Recht abgelehnt.
  4. Die Entscheidung des FG geht schon deshalb fehl, weil es sich bei der Verwaltungsanweisung im koordinierten Ländererlass in BStBl II 1966, 34 –entgegen der Auffassung des FG– nicht um eine Billigkeitsregelung, sondern vielmehr um eine norminterpretierende Richtlinie zur Auslegung des Anwendungsbereichs der §§ 14, 16 des Einkommensteuergesetzes (EStG) handelt (s. BFH-Beschluss vom 13.03.2009 – IV B 17/08; FG Hamburg, Urteil vom 27.01.2012 – 2 K 4/12; Niedersächsisches FG, Urteil vom 27.11.2014 – 1 K 161/12). Dies sehen mittlerweile auch die Klägerinnen so.
  5. Zudem vermochten allein die mit der Gesetzeslage nicht in Einklang stehenden Erlasse der Finanzverwaltung (koordinierter Erlass der Finanzminister der Länder vom 28.12.1964, BStBl II 1965, 5; koordinierter Ländererlass in BStBl II 1966, 34) einen Vertrauenstatbestand nicht zu begründen (BFH-Urteil vom 08.03.2007 – IV R 57/04, BFH/NV 2007, 1640, unter II.5.).
  6. 3. Auch aus der Verfügung der OFD Münster in DB 1991, 523 zur Anwendung des BFH-Urteils vom 15.10.1987 – IV R 66/86 (BFHE 152, 62, BStBl II 1988, 260) können die Klägerinnen keinen Billigkeitsanspruch herleiten.
  7. a) Gemäß dieser Verfügung soll das BFH-Urteil in BFHE 152, 62, BStBl II 1988, 260 nach einem Beschluss der Einkommensteuerreferenten des Bundes und der Länder nicht dazu führen, dass Betriebe, die nach der alten Verwaltungsauffassung mangels Abgabe einer Fortführungserklärung bei der parzellenweisen Verpachtung als aufgegeben zu behandeln waren, nachträglich wieder zu bestehenden Betrieben werden, wenn die parzellenweise Verpachtung des Betriebs vor Veröffentlichung des BFH-Urteils im BStBl am 15.04.1988 erfolgt ist (Altfälle). In Fällen, in denen in der Vergangenheit keine Fortführungserklärung abgegeben wurde, sollte es daher grundsätzlich bei der Betriebsaufgabe verbleiben. In Altfällen, in denen die bis dahin unterbliebene Versteuerung des Aufgabegewinns verfahrensrechtlich noch hätte nachgeholt werden können, sollte die Betriebsaufgabe durch die nachträgliche Abgabe einer Fortführungserklärung vermieden werden.
  8. b) Zwar kann die Finanzverwaltung gehalten sein, allgemeine Übergangsregelungen bzw. Anpassungsregelungen zu erlassen oder entsprechende Einzelmaßnahmen zu treffen, um den Steuerpflichtigen im Hinblick auf seine im Vertrauen auf die bisherige Rechtslage getroffenen Dispositionen nicht zu enttäuschen, wenn sich die bisherige Rechtsprechung verschärft oder eine höchstrichterliche Entscheidung von einer bisher allgemein geübten Verwaltungsauffassung abweicht (BFH-Urteil vom 23.08.2017 – I R 52/14, BFHE 259, 20, BStBl II 2018, 232, Rz 19, m.w.N.). Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass solche Übergangsregelungen nicht im Belieben der Finanzverwaltung stehen, sondern vielmehr jeweils durch § 163 und § 227 AO als Rechtsgrundlage gedeckt sein müssen. Denn anderenfalls würde das aus Art. 20 des Grundgesetzes abzuleitende verfassungsmäßige Recht der Rechtsprechung auf Kontrolle der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung beeinträchtigt (s. BFH-Urteil vom 07.11.1996 – IV R 69/95, BFHE 182, 56, BStBl II 1997, 245, unter 2.b, m.w.N.). Der Verwaltung ist es insbesondere verwehrt, Steuerbefreiungen nach eigenen Vorstellungen zu bewirken (Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 28.06.1993 – 1 BvR 390/89, BB 1993, 2068).
  9. Insoweit hat der Große Senat des BFH in seinem Beschluss vom 28.11.2016 – GrS 1/15 (BFHE 255, 482, BStBl II 2017, 393, Rz 112 ff.) klargestellt, dass eine sachliche Billigkeitsmaßnahme immer auf den Einzelfall abstellen muss und atypischen Ausnahmefällen vorbehalten ist. Das bedeutet zwar nicht, dass sie allein für singulär auftretende Fälle vorgesehen ist; sie kann vielmehr auch in durch besondere Ausnahmevoraussetzungen gekennzeichneten Fallgruppen gewährt werden. Die Voraussetzungen einer Billigkeitsmaßnahme sind aber im Fall einer solchen Gruppenregelung dieselben wie bei einer Einzelfallentscheidung der Finanzbehörde: Die Erhebung oder Einziehung muss gemäß § 163 Satz 1 und § 227 AO „nach Lage des einzelnen Falls“ unbillig sein. Eine Gruppe gleichgelagerter Einzelfälle kann daher mit dem Ziel einer einheitlichen Behandlung zusammenfassend beurteilt werden, doch müssen hinsichtlich all dieser Einzelfälle die Voraussetzungen der sachlichen Unbilligkeit vorliegen. Typisierende Billigkeitsregelungen in Gestalt subsumierbarer Tatbestände kommen deshalb nicht in Betracht; sie können allein Bestandteil einer gesetzlichen Regelung sein.
  10. c) Die Verfügung der OFD Münster in DB 1991, 523 kann aus der für die Auslegung von Verwaltungsanweisungen maßgeblichen Sicht der Finanzverwaltung daher nicht dahin verstanden werden, dass die parzellenweise Verpachtung in Altfällen (vor Veröffentlichung des BFH-Urteils in BFHE 152, 62, BStBl II 1988, 260 im BStBl) unabhängig vom Einzelfall aus Billigkeitsgründen stets als Betriebsaufgabe gewertet werden soll, aus der jedoch keine steuerlichen Folgerungen zu ziehen seien. Darum kann die Besteuerung einer erst später tatsächlich gegebenen Gewinnrealisierung nicht mit dem Hinweis abgewehrt werden, aufgrund der Verfügung der OFD Münster in DB 1991, 523 müsse angenommen werden, dass es bereits in vergangener, rechtsverjährter Zeit zu einer solchen gekommen sei. Die Verfügung der OFD Münster in DB 1991, 523 kann vielmehr nur in jenen Fällen Wirkung entfalten, in denen die Finanzverwaltung bei Beginn einer parzellenweisen Verpachtung nachteilige steuerliche Folgen aus einer vermeintlichen Zwangsbetriebsaufgabe gezogen hatte (vgl. auch BFH-Urteile in BFHE 182, 56, BStBl II 1997, 245, und vom 15.05.1997 – IV R 46/96, BFH/NV 1997, 850, jeweils zu Billigkeitsmaßnahmen aufgrund des Schreibens des Bundesministers der Finanzen vom 15.03.1979 – IV B 2 -S 2135- 2/79, BStBl I 1979, 162).
  11. 4. Schließlich ergibt sich auch aus einer unmittelbaren Anwendung von § 163 AO oder § 227 AO kein entsprechender Billigkeitsanspruch der Klägerinnen.
  12. a) Die Verdrängung gesetzten Rechts durch den Grundsatz von Treu und Glauben kann nur in besonderen Fällen in Betracht kommen, in denen das Vertrauen des Steuerpflichtigen in ein bestimmtes Verhalten der Verwaltung nach allgemeinem Rechtsgefühl in einem so hohen Maß schutzwürdig ist, dass demgegenüber die Grundsätze der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung zurücktreten müssen. In diesem Zusammenhang verlangt der Grundsatz von Treu und Glauben einen Vertrauenstatbestand, aufgrund dessen der Steuerpflichtige disponiert hat (z.B. BFH-Urteil vom 17.04.2013 – X R 6/11, Rz 22, m.w.N.).
  13. b) Insoweit weist das FA zu Recht darauf hin, dass es in der Zeit nach Einstellung der Eigenbewirtschaftung durch E frühestens ab dem Wirtschaftsjahr 1977/1978 und dem Beginn der parzellenweisen Verpachtung nicht zu einem Vertrauenstatbestand in Gestalt einer zwangsweise angenommenen Betriebsaufgabe gekommen ist. Weder E noch M wurden steuerlich geführt, Einkommensteuererklärungen wurden nicht abgegeben. Die Einstellung der Eigenbewirtschaftung und der Übergang zur (parzellenweisen) Verpachtung wurde dem FA nicht offengelegt. Entsprechend konnte es hierüber nicht entscheiden und damit auch nicht in Vertrauensschutz begründender Weise zum Vorliegen einer zwangsweisen Betriebsaufgabe gelangen. Anders als die Klägerinnen offenbar meinen, gibt es weder ein Vertrauen in eine Steuerfreiheit von stillen Reserven bei einer tatsächlich nicht erfolgten (zwangsweisen) Betriebsaufgabe noch ein Vertrauen darauf, dass eine überkommene fehlerhafte Rechtsansicht der Verwaltung dem Steuerpflichtigen gegenüber immerwährend Bestand hat. Dass sie entsprechend disponiert hätten, machen die Klägerinnen im Übrigen selbst nicht geltend.
  14. 5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.