Keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei unzureichender Darlegung zur Fristen- und Postausgangskontrolle eines Bevollmächtigten – Beschluss vom 14. Dezember 2021, VIII R 6/21

ECLI:DE:BFH:2021:B.141221.VIIIR6.21.0

BFH VIII. Senat

FGO § 56 Abs 2 S 1 , FGO § 56 Abs 2 S 2 , FGO § 10 Abs 3

vorgehend FG Köln, 16. Dezember 2020, Az: 4 K 1039/20

Leitsätze

NV: Wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand mit der Behauptung begehrt, dass ein vom Prozessbevollmächtigten zur Post aufgegebener fristgebundener Schriftsatz (hier: die Revisionsbegründung) verloren gegangen sei, ist innerhalb der Antragsfrist des § 56 Abs. 2 Satz 1 FGO darzulegen, wie der Postausgang und die Fristenkontrolle organisiert sind und durch welche organisatorischen Maßnahmen die ordnungsgemäße Überwachung der konkreten Frist unter normalen Umständen gewährleistet ist (Anschluss an Rechtsprechung, vgl. BFH-Beschluss vom 08.12.2010 – IX R 12/10, BFH/NV 2011, 445).

Tenor

Die Revision der Kläger gegen das Urteil des Finanzgerichts Köln vom 16.12.2020 – 4 K 1039/20 wird als unzulässig verworfen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens haben die Kläger zu tragen.

Tatbestand

I.

  1. Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind verheiratet und werden im Streitjahr (2011) zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Der Kläger erzielte neben anderen Einkünften auch Einkünfte aus Kapitalvermögen nach § 20 Abs. 1 und Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes in der im Streitjahr geltenden Fassung (EStG).
  2. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt –FA–) setzte die Einkommensteuer für das Streitjahr mit Bescheid vom 10.06.2013 fest. Gegen den Bescheid legten die Kläger unter Hinweis auf ein beim Finanzgericht (FG) Köln zu diesem Zeitpunkt anhängiges Verfahren zur Verfassungsmäßigkeit der Beschränkung des Verlustausgleichs bei privaten Veräußerungsgeschäften in § 23 Abs. 3 Satz 7 des Einkommensteuergesetzes in der bis zum 31.12.2008 geltenden Fassung (EStG a.F.) Einspruch ein. Nach einer Mitteilung der Rechtsbehelfsstelle des FA vom 08.07.2015, dass das Verfahren zwischenzeitlich rechtskräftig abgeschlossen wurde, nahmen die Kläger mit Schreiben vom 19.08.2015 ihren Einspruch zurück.
  3. Im Rahmen der Veranlagung zur Einkommensteuer für das Jahr 2013 beantragten die Kläger, im Streitjahr erzielte positive Einkünfte aus Kapitalvermögen nach § 20 Abs. 2 EStG des Klägers mit Altverlusten aus privaten Veräußerungsgeschäften i.S. des § 23 Abs. 1 Nr. 2 EStG a.F. zu verrechnen.
  4. Das FA war der Auffassung, die begehrte Verlustverrechnung komme nicht in Betracht, weil der Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr bereits bestandskräftig geworden sei. Den Einspruch der Kläger verwarf das FA mit Einspruchsentscheidung vom 23.04.2020 als unzulässig. Die dagegen erhobene Klage wies das FG mit in Entscheidungen der Finanzgerichte 2021, 911 veröffentlichtem Urteil vom 16.12.2020 als unbegründet ab.
  5. Gegen das am 07.01.2021 zugestellte FG-Urteil legten die Kläger mit am 02.02.2021 bei der Geschäftsstelle eingegangenem Schriftsatz ihres Prozessbevollmächtigten vom 25.01.2021 Revision ein.
  6. Die Geschäftsstelle des Senats wies den Prozessbevollmächtigten der Kläger mit Schreiben vom 15.03.2021 darauf hin, dass die Revisionsbegründungsfrist nach § 120 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) am 08.03.2021 abgelaufen sei.
  7. Mit Schreiben vom 21.03.2021 legte der Prozessbevollmächtigte eine auf den 08.02.2021 datierende Revisionsbegründung vor und beantragte die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 56 FGO. Er trug vor, die Revisionsbegründungsschrift sei am 08.02.2021 „per Postbrief eingereicht“ worden. Die Angabe des Aktenzeichens des Revisionsverfahrens sei zu diesem Zeitpunkt noch nicht möglich gewesen, weil ihm dieses erst mit Schreiben der Geschäftsstelle vom 11.02.2021 mitgeteilt worden sei. In diesem Schreiben sei zudem der Name des Klägers unzutreffend mit „XY“ angegeben worden. Es bestehe damit die Möglichkeit, dass der Schriftsatz im Bundesfinanzhof (BFH) eingegangen sei, dort aber nicht habe zugeordnet werden können.
  8. Die Geschäftsstelle des Senats teilte dem Kläger in einem Schreiben vom 30.03.2021 mit, der Schriftsatz liege nicht vor. Auf die Aufforderung der Geschäftsstelle, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bezüglich der versäumten Revisionsbegründungsfrist innerhalb der Frist des § 56 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 FGO substantiiert glaubhaft zu machen, legte der Prozessbevollmächtigte der Kläger am 06.04.2021 eine von ihm unterzeichnete eidesstattliche Versicherung vor, in der er angab, die Revisionsbegründung am 08.02.2021 selbst verfasst und anschließend in einen Briefkasten als „normalen“ Brief persönlich eingeworfen zu haben. Mit Schriftsatz vom 07.12.2021 trug der Prozessbevollmächtigte weiter vor, in seinem Fristenbuch sei die Revisionsbegründungsfrist für den 07.03.2021 eingetragen und „abgehakt“ worden. Auch dies spreche für die rechtzeitige Einlegung der Revisionsbegründung. Am 14.12.2021 reichte der Prozessbevollmächtigte einen Auszug aus seinem Fristenbuch zur Akte.
  9. Die Kläger beantragen,
    das Urteil des FG Köln vom 16.12.2020 – 4 K 1039/20 und die Einspruchsentscheidung vom 23.04.2020 aufzuheben.
  10. Das FA beantragt,
    die Revision als unzulässig, hilfsweise als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

  1. Die Revision ist unzulässig und durch Beschluss zu verwerfen (§ 124 Abs. 1, § 126 Abs. 1 FGO).
  2. 1. Die Kläger haben die Frist für die Begründung der Revision versäumt. Nach § 120 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 FGO ist die Revision innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Diese Frist lief im Streitfall am Montag, dem 08.03.2021, ab. Die Revisionsbegründung der Kläger ist jedoch erst am 21.03.2021 beim BFH eingegangen.
  3. 2. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 56 Abs. 1 FGO kann den Klägern nicht gewährt werden.
  4. a) Wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten, so ist ihm gemäß § 56 Abs. 1 FGO auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. In formeller Hinsicht setzt die Gewährung der Wiedereinsetzung voraus, dass innerhalb einer Frist von einem Monat (§ 56 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 FGO) nach Wegfall des Hindernisses die versäumte Rechtshandlung nachgeholt und diejenigen Tatsachen vorgetragen und im Verfahren über den Antrag glaubhaft gemacht werden, aus denen sich die schuldlose Verhinderung ergeben soll. Die Tatsachen, die eine Wiedereinsetzung rechtfertigen können, sind innerhalb dieser Frist vollständig, substantiiert und in sich schlüssig darzulegen (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Beschlüsse vom 24.06.2008 – X R 38/07, BFH/NV 2008, 1517, und vom 11.05.2010 – XI R 24/08, BFH/NV 2010, 1834, m.w.N.). Die erforderliche Glaubhaftmachung der Tatsachen kann auch noch im weiteren Verfahren über den Antrag geschehen (BFH-Urteil vom 13.12.2007 – VI R 75/04, BFHE 220, 18, BStBl II 2009, 577).
  5. b) Wird die Gewährung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen des Nichteingangs eines angeblich rechtzeitig abgesandten, fristgebundenen Schriftsatzes begehrt, ist genau darzulegen, welche Person zu welcher Zeit (Tag, Uhrzeit) und in welcher Weise (Einwurf in einen bestimmten Briefkasten oder Abgabe bei einer bestimmten Postfiliale) den Brief, in dem sich das fristgebundene Schreiben befunden haben soll, zur Post gegeben hat (BFH-Urteil vom 31.01.2017 – IX R 19/16, BFH/NV 2017, 885; BFH-Beschluss vom 15.05.2019 – XI R 14/17, BFH/NV 2019, 924). Bei Bevollmächtigten, die die Rechtsberatung berufsmäßig ausüben, ist außerdem die Schilderung der Fristenkontrolle sowie der Postausgangskontrolle nach Art und Umfang erforderlich und durch Vorlage des Fristenkontrollbuchs und des Postausgangsbuchs glaubhaft zu machen. Denn zu den in Betracht kommenden, objektiv präsenten Beweismitteln gehört bei Angehörigen der rechtsberatenden Berufe insbesondere die Eintragung der Frist in ein Fristenkontrollbuch, das Festhalten der Absendung fristwahrender Schriftstücke in einem Postausgangsbuch und das Löschen einer Frist auf der Grundlage der Ausgangseintragung im Postausgangsbuch. Allein eine eidesstattliche Versicherung des Bevollmächtigten genügt für die Glaubhaftmachung nicht, wenn der Bevollmächtigte vorträgt, das fristwahrende Schriftstück selbst eingeworfen zu haben (ständige Rechtsprechung, vgl. BFH-Beschlüsse vom 04.05.2021 – VIII B 121/20, BFH/NV 2021, 1329, Rz 5; vom 08.12.2010 – IX R 12/10, BFH/NV 2011, 445, und vom 15.01.2002 – X B 143/01, BFH/NV 2002, 669; BFH-Urteil vom 07.12.1988 – X R 80/87, BFHE 155, 275, BStBl II 1989, 266; vgl. auch Gräber/Stapperfend, Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 56 Rz 112, m.w.N.).
  6. c) Diesen Anforderungen entspricht der Wiedereinsetzungsantrag des Prozessbevollmächtigten der Kläger nicht. Der Prozessbevollmächtigte hat innerhalb der Darlegungsfrist des § 56 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 FGO lediglich vorgetragen, dass er die Revisionsbegründung am 08.02.2021 gefertigt und am selben Tag durch Einwurf in einen Briefkasten persönlich zur Post aufgegeben habe, wobei ihm die Angabe des Aktenzeichens des Revisionsverfahrens zu diesem Zeitpunkt noch nicht möglich gewesen sei. Er hat jedoch keine Angaben dazu gemacht, dass und in welcher Weise die Überwachung und Einhaltung der Revisionsbegründungsfrist durch strukturelle organisatorische Maßnahmen in Gestalt eines Fristenkontrollbuchs und einer Postausgangskontrolle im Grundsatz gewährleistet war. Ein solcher Vortrag ergibt sich auch nicht aus dem Schriftsatz vom 07.12.2021, der im Übrigen allenfalls zur Substantiierung des bereits Vorgetragenen herangezogen werden könnte (vgl. BFH-Beschluss in BFH/NV 2011, 445). Denn in diesem Schriftsatz trägt der Prozessbevollmächtigte lediglich vor, dass in dem Fristenkontrollbuch die Revisionsbegründungsfrist für den 07.03.2021 eingetragen und „abgehakt“ worden sei. Diesem Vorbringen kann nur entnommen werden, dass die Revisionsbegründungsfrist zur Kenntnis genommen wurde, nicht aber, dass das Austragen der Frist mit der Dokumentation verbunden wurde, dass eine Absendung der Revisionsbegründungsschrift auch tatsächlich erfolgt war. Nach ständiger Rechtsprechung müssen die Fristen- und die Postausgangskontrolle in der Weise erfolgen, dass die notierte Frist frühestens erst dann gelöscht werden darf, wenn das zur Fristwahrung bestimmte Schriftstück abgesandt oder zumindest postfertig gemacht worden ist (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 05.11.1998 – I R 90/97, BFH/NV 1999, 512; vom 08.11.2006 – VII R 20/06, BFH/NV 2007, 469; in BFH/NV 2011, 445, und vom 15.12.2011 – II R 16/11, BFH/NV 2012, 593). Dass diese Kriterien in der Kanzlei des Prozessbevollmächtigten beachtet wurden, ist nicht dargelegt. Damit ist die Begründung des Wiedereinsetzungsantrags nicht geeignet, ein Organisationsverschulden als Ursache der Fristversäumung mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit auszuschließen. Die Kläger müssen sich ein solches Organisationsverschulden wie ein eigenes Verschulden zurechnen lassen (§ 155 FGO i.V.m. § 85 Abs. 2 der Zivilprozessordnung).
  7. 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.
  8. 4. Die Entscheidung über die Unzulässigkeit der Revision ergeht in der Besetzung von fünf Richtern. Abweichend von der Regelung des § 10 Abs. 3 FGO kann die Revision in der Normalbesetzung verworfen werden, wenn sich erst bei der Beratung über die Revision die Unzulässigkeit des Rechtsmittels ergibt (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 24.01.1978 – VII R 118/74, BFHE 1978, 153, BStBl II 1978, 228, und vom 14.06.1994 – VIII R 79/93, BFH/NV 1995, 225; vgl. auch Gräber/Teller, a.a.O., § 10 Rz 2, m.w.N.).