BFH-Urteil vom 8.11.1989 (I R 20/86) BStBl. 1990 II S. 396

BFH-Urteil vom 8.11.1989 (I R 20/86) BStBl. 1990 II S. 396

1. § 9 Abs. 3 KStG 1968 enthält keinen allgemeinen Rechtssatz dahingehend, daß sich steuerliche Begünstigungen und Befreiungen der Tochtergesellschaft auf die Nachsteuer der Muttergesellschaft erstrecken.

2. Die Nachsteuer entfällt bei einer Muttergesellschaft nicht deshalb, weil die Tochtergesellschaft den der Ausschüttung zugrunde liegenden Gewinn steuerfrei erzielt. Dies gilt unabhängig davon, aus welchem Rechtsgrund sich die Steuerfreiheit des Gewinns der Tochtergesellschaft ergibt.

KStG 1968 § 9 Abs. 3, § 19, § 19a Abs. 2 Nr. 1.

Vorinstanz: Hessisches FG

Sachverhalt

I.

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), eine AG, war im Streitjahr 1971 zu 50 v.H. an der inländischen T-GmbH beteiligt. Die T-GmbH schüttete im Jahr 1971 für das Geschäftsjahr 1970 Dividenden von 10 Mio DM, davon 5 Mio DM an die Klägerin aus. Das steuerpflichtige Einkommen 1970 der T-GmbH betrug 6.925.210 DM.

Die T-GmbH war ihrerseits an der inländischen Enkelgesellschaft – E 1 – GmbH – und an der inländischen Enkelgesellschaft – E 2-GmbH – wesentlich beteiligt. Die beiden Enkelgesellschaften schütteten in 1970 an die T-GmbH Dividenden in Höhe von 1,88 Mio DM aus. Für diese Dividenden nahm die T-GmbH das Schachtelprivileg gemäß § 9 Abs. 1 des Körperschaftsteuergesetzes (KStG) 1968 in Anspruch. Die Erhebung einer Nachsteuer entfiel auf der Ebene der T-GmbH aus Gründen der Weiterausschüttung.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt – FA -) setzte durch Körperschaftsteuerbescheid 1971 vom 15. Februar 1979 gegenüber der Klägerin eine Nachsteuer auf die anteilig „durchgeschütteten“ Schachteldividenden in Höhe von 36 v.H. von 940.000 DM = 338.400 DM fest. Er bezog sich dabei auf das Schreiben des Bundesministers der Finanzen (BMF) vom 6. April 1976 IV B 7 – S 2776 – 3/76 (BStBl I 1976, 326).

Der Einspruch und die Klage blieben ohne Erfolg.

Mit ihrer vom Finanzgericht (FG) zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung des § 9 Abs. 3 KStG 1968.

Sie beantragt, das Urteil des Hessischen FG aufzuheben und bei der Körperschaftsteuerfestsetzung 1971 lt. Bescheid vom 15. Februar 1979 die Nachsteuer in Höhe von 338.400 DM außer Ansatz zu lassen.

Das FA hat keinen Antrag gestellt.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist unbegründet. Sie war deshalb zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung – FGO -).

1. Nach § 9 Abs. 3 Satz 1 KStG 1968 unterliegen die nach § 9 Abs. 1 KStG 1968 außer Ansatz bleibenden Gewinnanteile, die bei der ausschüttenden Kapitalgesellschaft berücksichtigungsfähige Ausschüttungen i.S. des § 19 Abs. 3 Satz 1 KStG 1968 waren, einer besonderen Körperschaftsteuer, die nach der Höhe der Gewinnanteile bemessen wird. Nach § 9 Abs. 3 Satz 2 KStG 1968 sind diese Gewinnanteile um den Betrag zu kürzen, in dessen Höhe die berücksichtigungsfähigen Ausschüttungen der Kapitalgesellschaft nicht zu einer Ermäßigung der Körperschaftsteuer nach § 19 Abs. 1 Nrn. 1 oder 2, Abs. 2 Nrn. 1 oder 2, § 19a Abs. 2 Nr. 1 KStG 1968 führten. Zu diesen Tatbestandsvoraussetzungen hat das FG in tatsächlicher Hinsicht und in einer den erkennenden Senat bindenden Weise festgestellt (§ 118 Abs. 2 FGO), daß die Klägerin seit Beginn ihres Wirtschaftsjahres 1971 ununterbrochen zu 50 v.H. an dem Stammkapital der T-GmbH beteiligt war. Die T-GmbH schüttete auf Grund eines den gesellschaftsrechtlichen Vorschriften entsprechenden Gewinnverteilungsbeschlusses für das Geschäftsjahr 1970 eine Dividende von insgesamt 10 Mio DM bei einem steuerpflichtigen Einkommen 1970 von 6.925.210 DM aus. Davon entfiel auf die Klägerin eine Dividende von 5 Mio DM. Diese Dividende war bei der Besteuerung der Klägerin aus Gründen des § 9 Abs. 1 KStG 1968 außer Ansatz zu lassen. Bezogen auf den Betrag von 940.000 DM waren die Voraussetzungen für eine Kürzung der Bemessungsgrundlage der Nachsteuer gemäß § 9 Abs. 3 Satz 2 KStG 1968 in der Person der Klägerin nicht erfüllt. Deshalb belief sich die nach dem Gesetzeswortlaut festzusetzende Nachsteuer auf 36 v.H. von 940.000 DM = 338.400 DM.

2. Der Betrag von 940.000 DM entspricht 50 v.H. von 1,88 Mio DM. In Höhe dieses Betrages hatte die T-GmbH in 1970 gemäß § 9 Abs. 1 KStG 1968 steuerfreie Dividenden von ihren beiden Enkelgesellschaften E 1-GmbH und E 2-GmbH erzielt. Die Dividenden stammen aus i.S. des § 19 Abs. 3 Satz 1 KStG 1968 berücksichtigungsfähigen Ausschüttungen der Enkelgesellschaften. Auf die Dividenden wurde gegenüber der T-GmbH keine Nachsteuer gemäß § 9 Abs. 3 Satz 1 KStG 1968 erhoben, weil die T-GmbH für 1970 entsprechend hohe berücksichtigungsfähige Ausschüttungen vornahm. Diese tatsächlichen Feststellungen des FG sind jedoch für die Erhebung einer Nachsteuer gegenüber der Klägerin ohne Bedeutung.

3. Zwar hat der erkennende Senat in seinen Urteilen vom 3. Februar 1971 I R 22/68 (BFHE 101, 364, BStBl II 1971, 406), und vom 4. Dezember 1974 I R 101/73 (BFHE 114, 367, BStBl II 1975, 250) entschieden, daß der besonderen Körperschaftsteuer nach § 9 Abs. 3 KStG 1968 berücksichtigungsfähige Ausschüttungen nicht unterliegen, soweit sie bei der ausschüttenden Gesellschaft zu keiner Ermäßigung des Steuersatzes geführt haben. Auch bedeuten diese Entscheidungen eine Auslegung des § 9 Abs. 3 KStG 1968 abweichend von dessen Wortsinn gemäß eines angenommenen Telos des Gesetzes. Eine solche teleologische Reduktion ist aber nur dann zulässig, wenn eine „verdeckte Gesetzeslücke“ anzunehmen ist. In einem solchen Fall ist das nach seinem Wortsinn zu weit gefaßte Gesetz auf seinen ihm nach dem Regelungszweck oder dem Sinnzusammenhang zukommenden Anwendungsbereich zurückzuführen.

Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob er an der Annahme festhält, § 9 Abs. 3 KStG 1968 enthalte eine „verdeckte Gesetzeslücke“. Jedenfalls enthält die Vorschrift keinen allgemeinen Rechtssatz dahingehend, daß sich steuerliche Begünstigungen und Befreiungen der Tochtergesellschaft auf die Nachsteuer der Muttergesellschaft erstreckten. Die Kapitalgesellschaften, die im Sinne eines Schachtelprivilegs (§ 9 Abs. 1 KStG 1968) miteinander verbunden sind, sind handels- und steuerrechtlich selbständig. Deshalb darf z.B. die Steuerfreiheit von Gewinnanteilen gemäß § 9 Abs. 1 KStG 1968 bei einer Muttergesellschaft nicht mit der Begründung versagt werden, die Tochtergesellschaft habe den der Ausschüttung zugrunde liegenden Gewinn z.B. auf Grund eines Doppelbesteuerungsabkommens (DBA) steuerfrei erzielt (vgl. Urteil des Reichsfinanzhofs – RFH – vom 22. September 1936 I A 127/36, RFHE 40, 37, RStBl 1936, 1182; Urteil des Bundesfinanzhofs – BFH – vom 23. April 1975 I R 70/73, BFHE 115, 484, BStBl II 1975, 618). Entsprechend entfällt aber auch die Nachsteuer der Muttergesellschaft nicht deshalb, weil die Tochtergesellschaft den der Ausschüttung zugrunde liegenden Gewinn steuerfrei erzielte (vgl. BFH in BFHE 115, 484, BStBl II 1975, 618). Dies gilt unabhängig davon, aus welchem Rechtsgrund sich die (teilweise) Steuerfreiheit des Gewinns der Tochtergesellschaft ergibt.

Der erkennende Senat hat schon in dem Urteil in BFHE 115, 484, BStBl II 1975, 618 klargestellt, daß die Entscheidungen in BFHE 101, 364, BStBl II 1971, 406 und in BFHE 114, 367, BStBl II 1975, 250 nicht extensiv ausgelegt werden dürfen. Dort wurde nur entschieden, daß die Nachsteuer nicht erhoben werden soll, wenn die Ausschüttungen bei der Tochtergesellschaft schon dem normalen Steuersatz von 51 v.H. unterlagen. Diese Voraussetzung ist im Streitfall nicht erfüllt. Die 940.000 DM wurden von der T-GmbH steuerfrei vereinnahmt. Die T-GmbH war insoweit nicht mit Körperschaftsteuer belastet. Bei dieser Sachlage besteht keine Veranlassung, den Rechtsgedanken aus den Entscheidungen in BFHE 101, 364, BStBl II 1971, 406 und in BFHE 114, 367, BStBl II 1975, 250 auszudehnen und ihn auch auf den Streitfall zu übertragen. Dies gilt unabhängig davon, ob man in der Nichterhebung der Nachsteuer auf der Ebene der T-GmbH eine Ermäßigung ihrer Körperschaftsteuer sieht oder ob die von der Klägerin erzielte Dividende als von den Enkelgesellschaften durchgeschüttet angesehen werden kann (vgl. dazu: BFH-Urteil vom 17. Juli 1985 I R 104/82, BFHE 144, 539, BStBl II 1986, 129, unter II.A.4.a.).

4. Der Senat verkennt nicht, daß die sowohl in BFHE 115, 484, BStBl II 1975, 618 als auch in dieser Entscheidung vertretene Rechtsauffassung zu einer anderen steuerlichen Behandlung von Gewinnanteilen führen muß, die die Muttergesellschaft auf Grund einer verdeckten Gewinnausschüttung erzielt. Die verdeckte Gewinnausschüttung der Tochtergesellschaft muß nicht deren steuerpflichtiges Einkommen erhöht haben. Vollzieht sie sich in einem nicht steuerbaren oder in einem steuerfreien Bereich, so entfällt die Erhebung der Nachsteuer, während eine solche zu erheben ist, wenn steuerfreie Gewinne „offen“ ausgeschüttet werden. Jedoch muß diese andere steuerliche Behandlung in Kauf genommen werden. Andernfalls könnte eine Nachsteuer nie erhoben werden, wenn der ausgeschüttete Gewinn keiner normalen Besteuerung unterworfen war. Die in den Urteilen in BFHE 101, 364, BStBl II 1971, 406 und BFHE 114, 367, BStBl II 1975, 250 befürwortete teleologische Reduktion greift nur dann ein, wenn andernfalls eine Übermaßbesteuerung droht, nämlich bei der Tochtergesellschaft in Höhe von 51 v.H. und zusätzlich bei der Muttergesellschaft in Höhe von 36 v.H. Im Streitfall droht jedoch eine derartige Übermaßbesteuerung nicht, weil bei der T-GmbH auf die hier interessierenden 1,88 Mio DM keine Körperschaftsteuer entfiel.


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