Verfassungsmäßigkeit des Übergangsrechts zur Einführung der Veräußerungsgewinnbesteuerung gemäß § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 EStG mit Wirkung vom 01.01.2009 – BFH-Urteil vom 13. Dezember 2022, VIII R 23/20

ECLI:DE:BFH:2022:U.131222.VIIIR23.20.0

BFH VIII. Senat

EStG § 20 Abs 2 S 1 Nr 7, EStG § 20 Abs 2 S 2, EStG § 52 Abs 28 S 16, EStG § 20 Abs 2 S 1 Nr 4, EStG § 52a Abs 10 S 7, GG Art 2 Abs 1, GG Art 3 Abs 1, GG Art 20 Abs 3, EStG § 23 Abs 1 S 1 Nr 2, EStG § 52 Abs 28 S 15, EStG § 52 Abs 28 S 17, EStG VZ 2015 , EStG VZ 2016

vorgehend FG Köln, 03. Juli 2020, Az: 12 K 449/18

Leitsätze

Die durch § 52 Abs. 28 Satz 16 Teilsatz 3 EStG bewirkte Einbeziehung unechter Finanzinnovationen in die Veräußerungsgewinnbesteuerung gemäß § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 EStG mit Wirkung vom 01.01.2009 ist verfassungsgemäß.

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Finanzgerichts Köln vom 03.07.2020 – 12 K 449/18 wird als unbegründet zurückgewiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der Kläger zu tragen.

Tatbestand

I.

  1. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) erwarb am 25.07.2008 Anleihen der X B.V. (ISIN …, Anleihen A) sowie am 18.12.2008 Anleihen der Y AG (ISIN …, Anleihen B) und der Z AG & Co. KGaA (ISIN …, Anleihen C). Die Anleihen A hatten eine 60-jährige Laufzeit bis 2066, die Anleihen B und C eine ca. 100-jährige Laufzeit bis 2104 bzw. 2105. Eine Trennung zwischen Ertragsebene und Vermögensebene war möglich. Für einen begrenzten Zeitraum, die sog. Festzinslaufzeit, waren die Anleihen festverzinslich (A: 7,375 %, B: 5,0 %, C: 5,375 %), danach bestanden jeweils eine variable Verzinsung und ein Kündigungsrecht der Emittentin.
  2. Nach Ablauf der jeweiligen Festzinslaufzeit kündigte die Emittentin die Anleihen. Aus den Rückzahlungen zum Nennwert erzielte der Kläger im Streitjahr 2015 Gewinne in Höhe von 3.035,89 € aus den Anleihen B und 1.578,58 € aus den Anleihen C sowie im Streitjahr 2016 einen Gewinn in Höhe von 616,33 € aus den Anleihen A.
  3. Die Bank des Klägers beurteilte die Rückzahlung der Anleihen jeweils als steuerpflichtiges Veräußerungsgeschäft, ermittelte die der Höhe nach unstreitigen Veräußerungsgewinne nach § 43a Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 20 Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes in seiner in den Streitjahren anzuwendenden Fassung (EStG) und unterwarf sie dem Kapitalertragsteuerabzug.
  4. Mit den Einkommensteuererklärungen für 2015 und 2016 beantragte der Kläger, die von der Bank einbehaltenen und abgeführten Steuerabzugsbeträge (Kapitalertragsteuer und Solidaritätszuschlag) in Höhe von insgesamt 1.217,06 € (2015) bzw. 162,55 € (2016) zu erstatten. Dazu reichte er jeweils eine Anlage KAP sowie die Abrechnungen über die Wertpapierkäufe und die Gesamtkündigungen ein. In der Zeile 5 der Anlagen KAP beantragte er gemäß § 32d Abs. 4 EStG jeweils eine Überprüfung des Steuereinbehalts für bestimmte Kapitalerträge und gab hierzu in der Zeile 7 die aus den Anleihen erzielten Veräußerungsgewinne in Höhe von insgesamt 4.614,47 € (2015) bzw. 616,33 € (2016) sowie als korrigierten Betrag den nach seiner Auffassung zutreffenden Betrag von jeweils 0 € an. Ergänzend führte der Kläger aus, dass es sich bei den Wertpapieren um nachrangige festverzinsliche Schuldverschreibungen (Subordinated Medium-Term Notes) handele, welche nicht als echte Finanzinnovationen nach § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 des Einkommensteuergesetzes in der am 31.12.2008 anzuwendenden Fassung (EStG 2008) zu qualifizieren seien, da eine Trennung zwischen Kapitalstamm und Zinskupon und somit zwischen Kapitalnutzungsentgelt und Wertentwicklung des Kapitals problemlos möglich sei. Die Besteuerung eines Veräußerungsgewinns scheide daher nach Ablauf der einjährigen Spekulationsfrist aus.
  5. In den Einkommensteuerbescheiden für 2015 vom 13.12.2016 und für 2016 vom 08.08.2017 versagte der Beklagte und Revisionsbeklagte (Finanzamt ‑‑FA‑‑) die von dem Kläger begehrte Erstattung der Steuerabzugsbeträge. Die Einspruchsverfahren blieben erfolglos (Einspruchsentscheidungen vom 25.01.2018 zur Einkommensteuer 2015 und betreffend Ablehnungsbescheid gegen den Antrag auf schlichte Änderung des Einkommensteuerbescheids 2016).
  6. Der Kläger erhob Klage, die das Finanzgericht (FG) aus den in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2021, 366 mitgeteilten Gründen abwies.
  7. Mit der vom FG zugelassenen Revision macht der Kläger die Verletzung von Bundesrecht und insbesondere die Verfassungswidrigkeit der Übergangsvorschriften in § 52 Abs. 28 Sätze 15 bis 17 EStG (§ 52a Abs. 10 Sätze 6 bis 8 EStG a.F.) geltend. Sie könnten die Anwendung des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 EStG auf die vorliegenden Gewinne nicht begründen, sondern seien durch teleologische bzw. verfassungskonforme Reduktion in ihrer Reichweite zu begrenzen. Hilfsweise macht der Kläger die Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes ‑‑GG‑‑) geltend.
  8. Der Kläger beantragt,
    1. das Urteil des FG Köln vom 03.07.2020 – 12 K 449/18 aufzuheben,
    2. den Einkommensteuerbescheid für 2015 vom 13.12.2016 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 25.01.2018 dahingehend abzuändern, dass die Gewinne aus der Rückzahlung der Anleihen B in Höhe von 3.035,89 € und der Anleihen C in Höhe von 1.578,58 € mit jeweils 0 € als Einkünfte aus Kapitalvermögen und die einbehaltenen Steuerabzugsbeträge in Höhe von 1.217,06 € berücksichtigt werden,
    3. das FA zu verpflichten, den Einkommensteuerbescheid für 2016 vom 08.08.2017 unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 18.10.2017 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 25.01.2018 dahingehend zu ändern, dass der Gewinn aus der Rückzahlung der Anleihen A in Höhe von 616,33 € mit 0 € als Einkünfte aus Kapitalvermögen und die einbehaltenen Steuerabzugsbeträge in Höhe von 162,55 € berücksichtigt werden.
  9. Das FA beantragt,
    die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

  1. Die Revision ist unbegründet und deshalb gemäß § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zurückzuweisen. Die Vorentscheidung verletzt weder Bundesrecht noch ist der Senat davon überzeugt, dass die Übergangsregelungen in § 52 Abs. 28 Sätze 15 bis 17 EStG (§ 52a Abs. 10 Sätze 6 bis 8 EStG a.F.), soweit sie im Streitfall zur Anwendung gelangen, eine verfassungswidrige Rückwirkung vorsehen oder gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen. Das Revisionsverfahren ist daher nicht auszusetzen, um eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) einzuholen.
  2. 1. Das FG hat zutreffend entschieden, dass die vom Kläger in den Streitjahren vereinnahmten Gewinne aus der Rückzahlung der Anleihen gemäß § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7, Abs. 2 Satz 2 und Abs. 4 EStG als steuerpflichtige Einkünfte aus Kapitalvermögen zu qualifizieren sind.
  3. Bei den Gewinnen aus der Rückzahlung der Anleihen A, B und C handelt es sich um Gewinne aus der Veräußerung von sonstigen Kapitalforderungen jeder Art i.S. des § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG; diese Gewinne gehören gemäß § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 EStG zu den Einkünften aus Kapitalvermögen. Begrifflich liegen bei den Anleihen A, B und C sonstige Kapitalforderungen i.S. des § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG vor (vgl. Beschluss des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 28.05.2019 – VIII R 7/16, BFHE 265, 132, BStBl II 2019, 610, Rz 22). Gemäß § 20 Abs. 2 Satz 2 EStG gelten als Veräußerung insbesondere auch die Einlösung und die Rückzahlung (vgl. zur Gleichstellung der in § 20 Abs. 2 Satz 2 EStG genannten Ersatztatbestände BFH-Urteil vom 03.12.2019 – VIII R 34/16, BFHE 267, 232, BStBl II 2020, 836, Rz 29). Es bedarf danach keiner Entscheidung darüber, ob die Rückzahlung der Anleihen zum Nennwert einen Einlösungs- oder Rückzahlungsvorgang im Sinne der Vorschrift darstellt. Auch die Höhe der vom Kläger erzielten Gewinne (vgl. § 20 Abs. 4 Satz 1 EStG) ist unstreitig.
  4. 2. Das anlässlich der Einführung der Abgeltungsteuer zum 01.01.2009 normierte Übergangsrecht führt zu keinem anderen Ergebnis. Insbesondere führt § 52 Abs. 28 Satz 16 EStG nicht dazu, dass § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 EStG im Streitfall durch § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG verdrängt wird.
  5. a) Gemäß § 52 Abs. 28 Satz 15 EStG ist § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 EStG i.d.F. des Art. 1 des Unternehmensteuerreformgesetzes 2008 vom 14.08.2007 (BGBl I 2007, 1912) grundsätzlich erstmals auf die nach dem 31.12.2008 zufließenden Kapitalerträge aus der Veräußerung sonstiger Kapitalforderungen anzuwenden. Danach sind die Veräußerungsgewinne, die der Kläger aus den im Jahr 2008 erworbenen Anleihen in den Streitjahren aufgrund der Rückzahlung erzielt hat, gemäß § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 EStG steuerpflichtig. Entgegen der Auffassung des Klägers folgt weder aus Satz 16 noch aus Satz 17 des § 52 Abs. 28 EStG eine Ausnahme in dem Sinne, dass die Vorschrift des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG vorrangig ist und die Anwendung des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 EStG ausschließt.
  6. b) Die Voraussetzungen des § 52 Abs. 28 Satz 16 EStG für eine Fortgeltung des alten Rechts über den 31.12.2008 hinaus liegen im Streitfall nicht vor. Grund hierfür ist der dritte Teilsatz in § 52 Abs. 28 Satz 16 EStG, der im Sinne einer Rückausnahme die im ersten Teilsatz normierte Ausnahme von der Anwendung des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 EStG für Kapitalforderungen, die vor dem 01.01.2009 erworben wurden, wieder ausschließt.
  7. § 52 Abs. 28 Satz 16 EStG (§ 52a Abs. 10 Satz 7 EStG a.F.) lautet:“Für Kapitalerträge aus Kapitalforderungen, die zum Zeitpunkt des vor dem 1. Januar 2009 erfolgten Erwerbs zwar Kapitalforderungen im Sinne des § 20 Absatz 1 Nummer 7 in der am 31. Dezember 2008 anzuwendenden Fassung, aber nicht Kapitalforderungen im Sinne des § 20 Absatz 2 Satz 1 Nummer 4 in der am 31. Dezember 2008 anzuwendenden Fassung sind, ist § 20 Absatz 2 Satz 1 Nummer 7 nicht anzuwenden; für die bei der Veräußerung in Rechnung gestellten Stückzinsen ist Satz 15 anzuwenden; Kapitalforderungen im Sinne des § 20 Absatz 2 Satz 1 Nummer 4 in der am 31. Dezember 2008 anzuwendenden Fassung liegen auch vor, wenn die Rückzahlung nur teilweise garantiert ist oder wenn eine Trennung zwischen Ertrags- und Vermögensebene möglich erscheint.“
  8. Zwar hat der Kläger die Anleihen A, B und C im Jahr 2008 und damit noch vor dem 01.01.2009 erworben; außerdem lagen nach der Rechtsprechung zu unechten Finanzinnovationen (vgl. BFH-Urteile vom 24.10.2000 – VIII R 28/99, BFHE 193, 374, BStBl II 2001, 97; vom 20.11.2006 – VIII R 97/02, BFHE 216, 79, BStBl II 2007, 555, und vom 17.12.2013 – VIII R 42/12, BFHE 244, 36, BStBl II 2014, 319) keine Kapitalforderungen i.S. des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 EStG 2008, sondern sonstige Kapitalforderungen gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG 2008 vor. Für eben diese Fälle hat der Gesetzgeber jedoch in § 52 Abs. 28 Satz 16 Teilsatz 3 EStG eine Rückausnahme normiert. Insbesondere dann, wenn eine Trennung zwischen Ertrags- und Vermögensebene möglich ist oder zumindest möglich erscheint, werden dadurch die unechten Finanzinnovationen den Kapitalforderungen i.S. des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 EStG 2008 gleichgestellt, so dass § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 EStG auf die nach dem 31.12.2008 zufließenden Kapitalerträge aus der Veräußerung sonstiger Kapitalforderungen anzuwenden ist (vgl. BFH-Beschluss vom 12.07.2017 – VIII R 48/14, BFH/NV 2018, 412, Rz 20 f.). Die Rückausnahme gilt auch dann, wenn die Trennbarkeit ‑‑wie im vorliegenden Fall‑‑ unzweifelhaft gegeben ist.
  9. c) Ebenfalls nicht zu einer Ausnahme von der Anwendung des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 EStG führt im Streitfall § 52 Abs. 28 Satz 17 EStG (früher § 52a Abs. 10 Satz 8 EStG a.F.), da die Anleihen A, B und C unstreitig nicht in die Kategorie der von der Vorschrift erfassten Vollrisikopapiere fallen (vgl. BFH-Urteil vom 29.10.2019 – VIII R 16/16, BFHE 266, 550, BStBl II 2020, 254, Rz 29).
  10. 3. Für eine teleologische Reduktion des § 52 Abs. 28 Satz 16 EStG oder des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 EStG besteht keine Veranlassung. Eine teleologische Normreduktion zielt darauf ab, den Geltungsbereich einer Norm mit Rücksicht auf ihren Zweck gegenüber dem zu weit gefassten Wortlaut einzuschränken. Sie ist aber nicht bereits dann gerechtfertigt, wenn die vom Gesetzgeber getroffene Entscheidung rechtspolitisch fehlerhaft erscheint, sondern kommt grundsätzlich nur in Betracht, wenn die auf den Wortlaut abgestellte Auslegung der Regelung zu einem sinnwidrigen Ergebnis führen würde (vgl. BFH-Urteile vom 12.06.2018 – VIII R 14/15, BFHE 262, 66, BStBl II 2018, 755, Rz 32; vom 14.05.2019 – VIII R 20/16, BFHE 264, 459, BStBl II 2019, 586, Rz 28, und vom 16.06.2020 – VIII R 15/17, BFHE 269, 495, BStBl II 2020, 841, Rz 20). Die Wortlautauslegung der Sätze 15 ff. des § 52 Abs. 28 EStG und des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 EStG führt jedoch nicht zu einem sinnwidrigen, sondern zu einem dem Gesetzeszweck entsprechenden Ergebnis. Durch die Einfügung des dritten Teilsatzes in § 52 Abs. 28 Satz 16 EStG wollte der Gesetzgeber nämlich Abgrenzungsschwierigkeiten vermeiden und den mit der Abgeltungsteuer ab dem 01.01.2009 angestrebten Vereinfachungseffekt nicht konterkarieren (vgl. BTDrucks 16/10189, S. 66 f.; näher dazu unter II.4.b cc).
  11. 4. Die mit der Revision erstrebte verfassungskonforme Auslegung kommt schon deswegen nicht in Betracht, weil die Übergangsregelungen in § 52 Abs. 28 Sätze 15 ff. EStG entgegen der Auffassung des Klägers nicht zu einem verfassungswidrigen Zustand führen. Aus diesem Grund scheidet auch die Aussetzung des Revisionsverfahrens zum Zwecke der Vorlage an das BVerfG gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG aus.
  12. Die Sätze 15 ff. des § 52 Abs. 28 EStG verstoßen weder gegen das Rückwirkungsverbot noch gegen den allgemeinen Gleichheitssatz. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf den für die Anwendung des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 EStG im Streitfall entscheidenden dritten Teilsatz von § 52 Abs. 28 Satz 16 EStG.
  13. a) Nach Maßgabe der Rechtsprechung des BVerfG zum Rückwirkungsverbot bewirkt § 52 Abs. 28 Satz 16 EStG im Streitfall keine verfassungswidrige Rückwirkung.
  14. aa) Die Verfassungsmäßigkeit des zeitlichen Anwendungsbereichs einer Vorschrift des Steuerrechts ist regelmäßig primär nach den Maßstäben zum verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz zu beurteilen. Außerhalb des Strafrechts beruht das grundsätzliche Verbot rückwirkender belastender Gesetze auf den grundrechtlich geschützten Interessen der Betroffenen sowie den Prinzipien der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG; vgl. BVerfG-Beschluss vom 25.03.2021 – 2 BvL 1/11, BVerfGE 157, 177, Rz 51). Zu differenzieren ist zwischen echter und unechter Rückwirkung. Eine Rechtsnorm entfaltet echte Rückwirkung, wenn ihre Rechtsfolge mit belastender Wirkung schon für vor dem Zeitpunkt ihrer Verkündung bereits abgeschlossene Tatbestände gelten soll („Rückbewirkung von Rechtsfolgen“). Die echte Rückwirkung ist verfassungsrechtlich grundsätzlich unzulässig (vgl. BVerfG-Beschluss in BVerfGE 157, 177, Rz 52, m.w.N.).
  15. Soweit belastende Rechtsfolgen einer Norm erst nach ihrer Verkündung eintreten, tatbestandlich aber von einem bereits ins Werk gesetzten Sachverhalt ausgelöst werden („tatbestandliche Rückanknüpfung“), liegt eine unechte Rückwirkung vor. Sie ist nicht grundsätzlich unzulässig. Der verfassungsrechtliche Vertrauensschutz geht insbesondere nicht so weit, die Steuerpflichtigen vor jeder Enttäuschung zu bewahren. Soweit nicht besondere Momente der Schutzwürdigkeit hinzutreten, genießt die bloß allgemeine Erwartung, das geltende Recht werde zukünftig unverändert fortbestehen, keinen besonderen verfassungsrechtlichen Schutz. Der Gesetzgeber muss aber, soweit er für künftige Rechtsfolgen an bereits ins Werk gesetzte Sachverhalte anknüpft, dem verfassungsrechtlich gebotenen Vertrauensschutz in hinreichendem Maß Rechnung tragen. Die Interessen der Allgemeinheit, die mit der Regelung verfolgt werden, und das Vertrauen des Einzelnen auf die Fortgeltung der Rechtslage sind abzuwägen. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit muss gewahrt sein. Eine unechte Rückwirkung ist mit den Grundsätzen des grundrechtlichen und rechtsstaatlichen Vertrauensschutzes daher nur vereinbar, wenn sie zur Förderung des Gesetzeszwecks geeignet und erforderlich ist und wenn bei einer Gesamtabwägung zwischen dem Gewicht des enttäuschten Vertrauens und dem Gewicht und der Dringlichkeit der die Rechtsänderung rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit gewahrt bleibt (vgl. BVerfG-Beschluss in BVerfGE 157, 177, Rz 53 ff., m.w.N.).
  16. bb) Der Kläger ist im Hinblick auf die mit der Revision angegriffene Besteuerung in den Streitjahren 2015 und 2016 insofern von einer „rückwirkenden“ bzw. vergangenheitsbezogenen Regelung betroffen, als er die Anleihen A, B und C im Jahr 2008 erworben hat, noch bevor die betreffenden Veräußerungs- bzw. Rückzahlungsgewinne mit Wirkung vom 01.01.2009 in den Anwendungsbereich des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 EStG einbezogen wurden. Da die durch die Gewinnrealisierung ausgelöste Besteuerung indes erst in den Streitjahren 2015 und 2016 eintrat und nicht eine bereits eingetretene Rechtsfolge nachträglich änderte, ist keine echte, sondern eine unechte Rückwirkung gegeben.
  17. Diese unechte Rückwirkung (vgl. BTDrucks 16/10189, S. 66 f.) ist nach den Rechtsgrundsätzen der verfassungsgerichtlichen Judikatur verfassungsgemäß. Zu Recht hat das FG seine diesbezügliche Würdigung insbesondere auf den Beschluss des BVerfG vom 07.07.2010 – 2 BvL 14/02 (BVerfGE 127, 1, BStBl II 2011, 76) gestützt (so auch Urteil des FG Düsseldorf vom 30.01.2018 – 13 K 2430/16 E, EFG 2018, 1179) und danach eine Verletzung des grundrechtlichen Vertrauensschutzes des Klägers verneint. Der Kläger hatte die Anleihen A, B und C am 25.07.2008 bzw. 18.12.2008, d.h. im letzten Jahr vor Inkrafttreten des neuen Rechts erworben. Die aus diesen Anleihen resultierenden Veräußerungs- bzw. Rückzahlungsgewinne waren deshalb zur Zeit der Verkündung des Jahressteuergesetzes (JStG) 2009 (BGBl I 2008, 2794) am 19.12.2008 und ebenso bei Inkrafttreten des neuen Rechts am 01.01.2009 insofern noch nicht steuerlich „entstrickt“, als die Jahresfrist des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG noch nicht abgelaufen war und deshalb ein etwaiger Gewinn aus der Veräußerung bzw. Rückzahlung der Anleihen vom Kläger bis zum Jahresende 2008 noch nicht steuerfrei hätte vereinnahmt werden können. Die bloße Möglichkeit, Gewinne zu einem späteren Zeitpunkt steuerfrei vereinnahmen zu können, begründet keine vertrauens- bzw. verfassungsrechtlich geschützte Position (vgl. BVerfG-Beschluss in BVerfGE 127, 1, BStBl II 2011, 76, Rz 62 ff.). Mit der Einfügung des § 52 Abs. 28 Satz 16 Teilsatz 3 EStG (§ 52a Abs. 10 Satz 7 Teilsatz 3 EStG a.F.) konnte deshalb die am 01.01.2009 gemäß § 23 EStG bestehende „Steuerverhaftung“ durch die Neuregelung des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 EStG ohne Verletzung verfassungsrechtlich geschützten Vertrauens verlängert werden (vgl. auch BFH-Beschluss vom 26.03.2021 – IX B 45/20, BFH/NV 2021, 767, Rz 16, zum BVerfG-Beschluss in BVerfGE 127, 1, BStBl II 2011, 76). Auf den vom FG zusätzlich angeführten Aspekt, dass der Kläger die Anleihen B und C lediglich einen Tag vor der Verkündung des JStG 2009 im BGBl erworben hatte, kommt es für die Frage der Verfassungsmäßigkeit und den (fehlenden) grundrechtlichen Vertrauensschutz nicht an.
  18. b) Die vom Kläger gerügte Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG liegt ebenfalls nicht vor, und zwar weder im Hinblick auf § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 EStG noch hinsichtlich der grundsätzlichen zeitlichen Anwendung dieser Vorschrift ab dem Veranlagungszeitraum 2009.
  19. aa) Art. 3 Abs. 1 GG gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Das hieraus folgende Gebot, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln, gilt für ungleiche Belastungen und ungleiche Begünstigungen. Art. 3 Abs. 1 GG verwehrt dem Gesetzgeber nicht jede Differenzierung. Differenzierungen bedürfen jedoch stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Ziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind. Es gilt ein stufenloser, am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab, dessen Inhalt und Grenzen sich nicht abstrakt, sondern nur nach den jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereichen bestimmen lassen (vgl. BVerfG-Urteil vom 10.04.2018 – 1 BvR 1236/11, BVerfGE 148, 217, BStBl II 2018, 303, Rz 103 ff.).
  20. bb) Die Einbeziehung von Veräußerungsgewinnen in die Besteuerung ab einem bestimmten gesetzlich definierten Zeitpunkt verstößt für sich genommen nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz. Ebenso wie kein grundrechtlicher Schutz des Vertrauens darauf besteht, dass das geltende Recht unverändert fortbesteht (vgl. dazu oben II.4.a aa), bietet auch Art. 3 Abs. 1 GG keinen Schutz gegen belastende Rechtsänderungen. Der allgemeine Gleichheitssatz begründet grundsätzlich keinen Anspruch auf eine zukünftig gleichbleibende Rechtslage; in diesem Sinne gibt es keine „Gleichheit in der Zeit“ (so BFH-Urteil vom 11.08.2021 – I R 38/19, BFH/NV 2022, 334, Rz 26, mit Verweis auf den BVerfG-Beschluss vom 12.05.2009 – 2 BvL 1/00, BVerfGE 123, 111, BStBl II 2009, 685, Rz 14, und Kanzler, Finanz-Rundschau 2010, 987). Stichtags- und andere Übergangsvorschriften sind verfassungsrechtlich nur daraufhin zu prüfen, ob der Gesetzgeber den ihm zukommenden Spielraum in sachgerechter Weise genutzt hat, ob er die für die zeitliche Anknüpfung in Betracht kommenden Faktoren hinreichend gewürdigt hat und die gefundene Lösung sich durch sachliche Gründe rechtfertigen lässt oder als willkürlich erscheint (vgl. BVerfG-Beschluss vom 18.03.2013 – 1 BvR 2436/11, Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 20, 234, Rz 34, m.w.N.).
  21. cc) Anhaltspunkte dafür, dass die Übergangsvorschrift des § 52 Abs. 28 Satz 16 EStG als willkürlich anzusehen wäre, liegen nicht vor. Der sachliche Grund für die vorliegend entscheidungserhebliche Regelung ist den Gesetzesmaterialien zum JStG 2009 zu entnehmen. In der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zum JStG 2009 (BTDrucks 16/10189, S. 66 f.) wurde ausgeführt, die Übergangsregelung in § 52a Abs. 10 Satz 7 EStG a.F. (inzwischen § 52 Abs. 28 Satz 16 EStG) sehe vor, dass bei Kapitalforderungen i.S. des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 EStG 2008 generell der als Unterschied zwischen Erlös und Anschaffungskosten zu ermittelnde Gewinn oder Verlust den Abgeltungsteuerregelungen unterliege. Ausdrücklich benanntes Ziel war das öffentliche Interesse an einer einfachen und praktikablen Abgeltungsteuer. Ohne den letzten Teil von § 52 Abs. 28 Satz 16 EStG wäre die Anwendung des Kapitalertragsteuerabzugs auf Kapitalforderungen, die die Voraussetzungen des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 EStG 2008 erfüllen, von einer Einzelfallprüfung der jeweiligen Anleihebedingungen abhängig gewesen, was entgegen dem vom Gesetzgeber mit der Einführung der abgeltenden Besteuerung angestrebten Vereinfachungszweck eine Vielzahl von Veranlagungsfällen zur Folge gehabt hätte.
  22. dd) Diese sachliche Begründung für die Gleichstellung zuvor unterschiedlich besteuerter Sachverhalte mit Wirkung vom 01.01.2009 ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. Der Kläger leitet insbesondere auch zu Unrecht aus der Senatsrechtsprechung zur früheren Rechtslage einen Verstoß des neuen Rechts gegen den aus Art. 3 Abs. 1 GG resultierenden Grundsatz der Folgerichtigkeit ab. Denn aus dem alten Recht kann nach Art. 3 Abs. 1 GG nicht ‑‑wie der Kläger meint‑‑ abgeleitet werden, dass der Gesetzgeber auch ab dem 01.01.2009 nur solche Kapitalforderungen i.S. des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 EStG 2008 gemäß § 20 Abs. 2 Nr. 7 EStG besteuern durfte, bei denen die Trennung zwischen Vermögens- und Ertragsebene unmöglich ist, weil sie darauf angelegt sind, die Erträge im Vermögensbereich entstehen zu lassen. Eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes durch eine sachwidrige Ungleichbehandlung wesentlich gleicher Sachverhalte oder eine sachwidrige Gleichbehandlung wesentlich ungleicher Sachverhalte ist nicht gegeben.
  23. 5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.