VIII B 20/09 – Unterlassen einer Sachprüfung wegen irriger Annahme einer bereits eingetretenen Teilbestandskraft als wesentlicher Verfahrensfehler – Behandlung von Verlusten aus Spekulationsgeschäften in Altfällen

BUNDESFINANZHOF Beschluss vom 16.7.2009, VIII B 20/09

Unterlassen einer Sachprüfung wegen irriger Annahme einer bereits eingetretenen Teilbestandskraft als wesentlicher Verfahrensfehler – Behandlung von Verlusten aus Spekulationsgeschäften in Altfällen

Gründe

 
1 
Die Beschwerde ist begründet. Der von den Klägerinnen und Beschwerdeführerinnen (Klägerinnen) geltend gemachte Verfahrensmangel liegt vor. Auf ihm kann die Entscheidung auch beruhen (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung –FGO–). Das Finanzgericht (FG) hat zu Unrecht nicht geprüft, ob die streitigen Veräußerungsverluste aus Wertpapiergeschäften als Einkünfte aus Spekulationsgeschäften (§ 22 Nr. 2 i.V.m. § 23 des Einkommensteuergesetzes –EStG a.F.–) zu erfassen sind. Soweit das FG insofern angenommen hat, wegen Teilbestandskraft der angefochtenen Feststellungsbescheide an der Prüfung gehindert gewesen zu sein, trifft das nicht zu.
2 
1. Unterlässt ein Gericht rechtsirrig die an sich gebotene Sachprüfung, kann darin ein wesentlicher Verfahrensmangel liegen. Der Senat hat dies wiederholt angenommen, wenn das Gericht zu Unrecht annimmt, an die Rechtskraft einer früheren Entscheidung gebunden zu sein (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs –BFH– vom 14. März 2006 VIII R 45/03, BFH/NV 2006, 1448; BFH-Beschluss vom 24. August 2005 VIII B 36/04, BFH/NV 2006, 86). Nichts anderes gilt im Grundsatz, wenn das Gericht eine eigene Sachprüfung unterlässt, weil es zu Unrecht annimmt, wegen bereits eingetretener Teilbestandskraft an der Sachprüfung von Rechts wegen gehindert zu sein.
3 
a) Das FG hat im Streitfall keine Sachentscheidung darüber getroffen, ob die geltend gemachten Veräußerungsverluste bei den sonstigen Einkünften zu erfassen sind. Es hat die dahin gehende Anregung der Klägerinnen im Urteil mit der Begründung zurückgewiesen, über die Höhe der sonstigen Einkünfte sei nicht mehr zu entscheiden; sie seien in den streitigen Feststellungsbescheiden bereits bestandskräftig festgesetzt. Das FG hat danach eine eigene Sachprüfung unterlassen.
4 
b) Das FG hätte über die Frage entscheiden müssen, ob die von den Klägerinnen geltend gemachten Veräußerungsverluste als sonstige Einkünfte zu erfassen waren. Die vom FG angenommene Teilbestandskraft liegt nicht vor. Sie konnte weder durch eine Beschränkung des Begehrens im außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahren (vgl. BFH-Beschluss vom 10. September 1997 VIII B 55/96, BFH/NV 1998, 282) noch durch entsprechend einschränkende Prozesserklärungen herbeigeführt werden. Es kann vorliegend dahinstehen, ob –wie das FG meint– die Einkünfte aus Spekulationsgeschäften und die Einkünfte aus Kapitalvermögen grundsätzlich selbständig anfechtbare Besteuerungsgrundlagen bilden, die in Teilbestandskraft erwachsen können. Das gilt jedenfalls dann nicht, wenn es –wie im Streitfall– um die rechtliche Würdigung ein und desselben Sachverhalts geht. Denn die Entscheidung über die nach Maßgabe der Kollisionsvorschrift in § 23 Abs. 3 Satz 1 EStG a.F. zu treffende richtige rechtliche Einordnung des festgestellten Sachverhalts obliegt dem FG. Insofern war auch zu beachten, dass der Rechtsstreit von Anfang an nur darum geführt worden ist, ob die von den Klägerinnen deklarierten Veräußerungsverluste steuerlich berücksichtigt werden können. Dass die Klägerinnen in diesem Zusammenhang die Anwendung des § 20 Abs. 2 EStG in den Vordergrund ihres Vorbringens gestellt und in der mündlichen Verhandlung auch nur beantragt haben, die Einkünfte aus Kapitalvermögen niedriger festzusetzen, steht dem nicht entgegen. Mit Schriftsatz vom 24. Oktober 2008 haben die Klägerinnen in der mündlichen Verhandlung eindeutig klar gemacht, dass sie alternativ auch die Anwendung der §§ 22 Nr. 3, 23 EStG begehren. Darin lag keine ggf. unzulässige Klageänderung (§ 67 FGO), sondern nach den Umständen des Falles lediglich eine rechtliche Anregung. Über diese Anregung durfte das FG auch deshalb nicht hinweggehen, weil es das Klagebegehren grundsätzlich so auszulegen hat, dass Rechtsschutz effektiv gewährt wird. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass sich die Klägerinnen im Verfahren durch einen Familienangehörigen und offenbar nicht professionell haben vertreten lassen.
5 
c) Auf dem Verfahrensmangel kann das Urteil auch beruhen.
6 
aa) Nach der Rechtsprechung ist § 23 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b EStG a.F. jedenfalls bis 1995 anzuwenden, obwohl das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) diese Vorschrift, soweit sie Veräußerungsgeschäfte aus Wertpapieren betrifft, in der für 1997 und 1998 geltenden Fassung für mit Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes unvereinbar und nichtig erklärt hat (vgl. BFH-Beschluss vom 29. November 2005 IX B 80/05, BFH/NV 2006, 719; BVerfG-Urteil vom 9. März 2004  2 BvL 17/02, BVerfGE 110, 94, BStBl II 2005, 56).
7 
bb) Zwar schließt § 23 Abs. 4 Satz 3 EStG a.F. die Verlustverrechnung weitestgehend aus. Verluste aus Spekulationsgeschäften dürfen danach nur bis zur Höhe des Spekulationsgewinns, den der Steuerpflichtige im gleichen Kalenderjahr erzielt hat, ausgeglichen werden; sie dürfen nicht nach § 10d EStG abgezogen werden. Die darin liegende Beschränkung des Verlustausgleichs war verfassungswidrig (vgl. BVerfG-Beschluss vom 30. September 1998  2 BvR 1818/91 zu § 22 Nr. 3 Satz 3 EStG a.F., BVerfGE 99, 88, Deutsches Steuerrecht 1998, 1743), ist vom Gesetzgeber jedoch erst ab dem Veranlagungszeitraum 1999 und nur mit Wirkung für die Zukunft beseitigt worden.
8 
Für Verluste aus Spekulationsgeschäften i.S. von § 23 EStG in den für die Jahre vor 1999 geltenden Fassungen sind jedoch, soweit diese Vorschriften auch unter Berücksichtigung des Urteils des BVerfG in BVerfGE 110, 94, BStBl II 2005, 56 anwendbar bleiben, in den noch offenen Altfällen in verfassungskonformer Auslegung die allgemeinen einkommensteuerrechtlichen Regelungen über Verlustausgleich und Verlustabzug anzuwenden (BFH-Urteil vom 1. Juni 2004 IX R 35/01, BFHE 206, 273, BStBl II 2005, 26).
9 
cc) Nach den tatsächlichen Feststellungen des FG, namentlich den Ergebnissen der vom Finanzamt für Großbetriebsprüfung bei den Klägerinnen durchgeführten Außenprüfung, ist davon auszugehen, dass die verlustträchtigen Anschaffungs- und Veräußerungsvorgänge stets innerhalb des maßgeblichen Zeitraums von nicht mehr als sechs Monaten lagen.
10 
2. Der Senat erachtet es als angemessen, das Urteil aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen (§ 116 Abs. 6 FGO), damit es die noch notwendigen tatsächlichen Feststellungen treffen und entscheiden kann, ob die streitigen Vorgänge dem § 23 EStG a.F. unterfallen.

Quelle: bundesfinanzhof.de


Schreibe einen Kommentar