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II. Die Revision ist begründet; das angefochtene Urteil ist aufzuheben und die Sache –wegen fehlender Spruchreife– nach § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen. |
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1. Nach § 47 Abs. 1 FGO ist die Klage gegen einen Steuerbescheid innerhalb eines Monats nach (rechtswirksamer) Bekanntgabe zu erheben. |
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a) Die Klagefrist läuft nicht an, wenn die anzufechtende Entscheidung nicht wirksam bekannt gegeben wird (BFH-Urteil vom 20. Oktober 1987 VII R 19/87, BFHE 151, 24, BStBl II 1988, 97) und dieser Mangel auch nicht geheilt wird (vgl. BFH-Urteile vom 25. Januar 1994 VIII R 45/92, BFHE 173, 213, BStBl II 1994, 603, sowie vom 18. März 2014 VIII R 9/10, BFHE 245, 484, BStBl II 2014, 748). |
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b) Die Prüfung, ob eine ordnungsgemäße Zustellung zutreffend durch den Zusteller in der darüber erstellten Zustellungsurkunde dokumentiert ist, ist auch im finanzgerichtlichen Verfahren nach der Beweisregel des § 418 der Zivilprozessordnung (ZPO) vorzunehmen (BFH-Beschlüsse vom 18. Januar 2011 IV B 53/09, BFH/NV 2011, 812; vom 2. Dezember 2011 VII B 98/11, BFH/NV 2012, 744). |
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aa) Danach streitet für den Ablauf der Frist gemäß § 418 i.V.m. § 182 Abs. 1 Satz 2 ZPO die im Streitfall über die Zustellung erstellte Zustellungsurkunde als öffentliche Urkunde, soweit nicht aufgrund von Beweismitteln der Gegenbeweis nach § 418 Abs. 2 ZPO erbracht ist (vgl. BFH-Beschlüsse vom 14. Februar 2007 XI B 108/05, BFH/NV 2007, 1158; vom 10. Juli 2013 VII B 11/13, BFH/NV 2013, 1787; vom 3. November 2010 I B 104/10, BFH/NV 2011, 809). |
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bb) Dieser Gegenbeweis kann gemäß § 418 Abs. 2 ZPO mit Beweismitteln jeder Art –auch durch die Aussage von Zeugen (Urteil des Bundesgerichtshofs –BGH– vom 14. Oktober 2004 VII ZR 33/04, Neue Juristische Wochenschrift – Rechtsprechungs-Report Zivilrecht –NJW-RR– 2005, 75)– geführt werden (BFH-Beschluss vom 13. Mai 2009 V B 37/08, BFH/NV 2009, 1656). |
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Dabei dürfen an den Gegenbeweis i.S. des § 418 Abs. 2 ZPO keine überspannten Anforderungen gestellt werden (ständige Rechtsprechung, z.B. BGH-Urteile vom 2. November 2006 III ZR 10/06, Neue Juristische Wochenschrift –NJW– 2007, 603, unter II.1.; vom 17. Februar 2012 V ZR 254/10, NJW-RR 2012, 701, Rz 7; BGH-Beschlüsse vom 5. Oktober 2000 X ZB 13/00, NJW-RR 2001, 571; vom 15. September 2005 III ZB 81/04, NJW 2005, 3501, unter II.; vom 3. Juli 2008 IX ZB 169/07, NJW 2008, 3501, unter II.1.c; vom 8. Oktober 2013 VIII ZB 13/13, NJW-RR 2014, 179). |
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Insbesondere hat das Gericht in der gebotenen umfassenden Würdigung die Beweiskraft der Zustellungsurkunde der Beweiskraft der Gegenbeweismittel gegenüberzustellen und beide –unter inhaltlicher Auseinandersetzung mit den zum Gegenbeweis angebotenen Beweismitteln und der von ihnen ausgehenden Überzeugungskraft– gegeneinander abzuwägen. Der Hinweis auf die von der Urkunde ausgehende Beweiskraft allein ist nicht ausreichend, weil anderenfalls –so zu Recht der BGH– der gesetzlich in § 418 Abs. 2 ZPO vorgesehene und eröffnete Gegenbeweis praktisch nicht geführt werden könnte. |
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Der Gegenbeweis ist nach dieser Rechtsprechung erbracht, wenn nach dem Ergebnis einer Beweisaufnahme über die Tatsachenbehauptungen des Zustellungsempfängers, wonach der Zustellungsvorgang falsch beurkundet worden sei, diesen Behauptungen bei der Beweiswürdigung mehr Glauben zu schenken ist als der Zustellungsurkunde (BFH-Beschluss vom 31. August 2000 VII B 181/00, BFH/NV 2001, 318). |
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Dementsprechend schließt auch der Beweiswert eines gerichtlichen Eingangsstempels als öffentliche Urkunde nicht aus, dass das Gericht im Wege des Freibeweises trotz eines solchen Eingangsstempels von der Rechtzeitigkeit einer Rechtsmitteleinlegung überzeugt ist (BFH-Beschluss vom 29. März 2005 IX B 236/02, juris; ebenso BGH-Beschluss vom 17. April 1996 XII ZB 42/96, NJW 1996, 2038); insbesondere wenn der darauf bezogene Vortrag des Rechtsbehelfsführers "in den Details plausibel und widerspruchsfrei ist und konkrete Zweifel an der Glaubwürdigkeit nicht bestehen" (BGH-Urteil in NJW-RR 2012, 701). |
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cc) Maßgeblich ist die jeweilige tatrichterliche Überzeugungsbildung (BFH-Urteil vom 31. Oktober 2000 VIII R 14/00, BFHE 193, 392, BStBl II 2001, 156), die nach § 118 Abs. 2 FGO bei fehlendem Verstoß gegen Denkgesetze und allgemeine Erfahrungssätze für die Rechtsmittelinstanz bindend ist. |
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Diese Bindung fehlt allerdings, wenn das Gericht –rechtsfehlerhaft– keine umfassende Würdigung vornimmt, dabei der Beweiskraft der Urkunde nicht diejenige des Gegenbeweismittels gegenüberstellt und beides nicht ausreichend gegeneinander abwägt (BGH-Beschluss in NJW-RR 2001, 571). |
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2. Nach diesen Grundsätzen ist die Beweiswürdigung des FG zur Zustellung der Einspruchsentscheidung verfahrensfehlerhaft. |
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Denn den Ausführungen im Urteil fehlt jedweder Anhaltspunkt dafür, dass die (angeblich) in den Briefkasten des Klägers eingelegte Einspruchsentscheidung in einer ihm zuzurechnenden Weise auf den für die Wohngemeinschaft bestimmten Poststapel gelangt ist. |
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Das FG hat weder Feststellungen über einen ungesicherten Briefkasten des Klägers oder über den Klägern zurechenbare Zugriffsmöglichkeiten Dritter getroffen noch Anhaltspunkte für eine –vom Kläger verneinte– Briefkastenschlüsselübergabe an Dritte ermittelt. |
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Ein rechtsmissbräuchliches Verhalten des Klägers ist angesichts der "Postübernahme" durch den Angehörigen der Wohngemeinschaft eine Woche vor Klagefristablauf auszuschließen. |
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Ohne solche Feststellungen bestehen keine hinreichenden Grundlagen, den Vortrag der Kläger als nicht plausibel und widerspruchsfrei anzusehen und ihre Glaubwürdigkeit zu bezweifeln (vgl. BGH-Urteil in NJW-RR 2012, 701). |
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Das Ergebnis der Beweisaufnahme hätte das FG im Rahmen der ihm obliegenden umfassenden Beweiswürdigung der Zustellungsurkunde und der inhaltlich uneingeschränkt als glaubhaft angesehenen Zeugenaussage zumindest zum Anlass weiterer Sachaufklärung nach § 76 FGO zu der Frage nehmen müssen, ob die Einspruchsentscheidung in einer dem Kläger zurechenbaren Weise aus seinem Briefkasten auf den für die Wohngemeinschaft bestimmten Poststapel geraten sein könnte und ob nicht gegebenenfalls von Amts wegen Wiedereinsetzung in die versäumte Frist nach § 56 FGO gewährt werden müsste. |
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Denn auf der Grundlage der vom FG als glaubhaft angesehenen Zeugenaussage (Postübernahme durch den Zeugen eine Woche vor Ablauf der Klagefrist) fehlte bereits offensichtlich ein Interesse der Kläger, die ihnen nach der Behauptung des FA zugegangene Einspruchsentscheidung zur Wahrung der Klagefrist der für die Mieter bestimmten Postsendungen beizumischen, weil die Klagefrist im Zeitpunkt der Mitnahme der Post durch den Zeugen noch nicht abgelaufen war. Ebenso ergeben sich aus den bisherigen tatsächlichen Feststellungen des FG keine Anhaltspunkte für die Annahme, Dritte hätten die im Briefkasten der Kläger eingelegte Einspruchsentscheidung –mit oder ohne Veranlassung durch die Kläger– der für den Zeugen H und seine Mitbewohner bestimmten Post beigefügt; nach dem Vortrag der Kläger hatten sie im Streitzeitraum niemandem ihren Briefkastenschlüssel überlassen. |
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3. Die Sache ist nicht spruchreif. |
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a) Die bisherigen tatsächlichen Feststellungen des FG lassen mit Blick auf die Abwägungsdefizite der vorinstanzlichen Entscheidung und den dadurch veranlassten Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht nach § 76 FGO keine abschließende Beurteilung des Senats zu, ob die Einspruchsentscheidung aus dem Briefkasten der Kläger in ihnen zurechenbarer Weise auf den für die Wohngemeinschaft bestimmten Poststapel gelangt sein kann, obwohl diese über einen eigenen Briefkasten verfügte. |
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Entsprechende Feststellungen wird das FG nachzuholen haben. |
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b) Solche Feststellungen wären nur entbehrlich, wenn den Klägern selbst bei unterstelltem Zugang der Einspruchsentscheidung entsprechend den Angaben der Zustellungsurkunde eine Fristversäumnis wegen Anspruchs auf Wiedereinsetzung von Amts wegen in die versäumte Frist nach § 56 Abs. 1 FGO nicht entgegengehalten werden könnte. Auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen des FG können die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung indessen nicht abschließend beurteilt werden. |
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aa) Nach § 56 Abs. 1 FGO ist Wiedereinsetzung zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden an der Einhaltung der gesetzlichen Frist gehindert war (§ 56 Abs. 1 FGO). Hiernach schließt jedes Verschulden –also auch einfache Fahrlässigkeit– die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aus (BFH-Beschlüsse vom 11. Oktober 1991 VII R 32/90, BFH/NV 1994, 553; vom 25. April 2005 VIII B 42/02, BFH/NV 2005, 1821; vom 18. Januar 2007 III R 65/05, BFH/NV 2007, 945). Der Beteiligte muss sich ein Verschulden seines Prozessbevollmächtigten zurechnen lassen (§ 155 FGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO; vgl. BFH-Urteil vom 28. Oktober 2008 VIII R 36/04, BFHE 223, 166, BStBl II 2009, 190). |
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bb) Insbesondere kommt eine Wiedereinsetzung nach der Rechtsprechung auch in den Fällen in Betracht, in denen dem Rechtsbehelfsführer der Gegenbeweis i.S. des § 418 Abs. 2 ZPO nicht gelingt (vgl. BGH-Beschluss in NJW-RR 2001, 571, mit dem Hinweis, dass dem Empfänger das Übersehen des zugestellten Schriftstücks in der nicht immer sorgfältig durchgesehenen Werbung nicht generell vorgeworfen –und damit keine Fahrlässigkeit angenommen– werden kann). |
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Dies gilt nach der Rechtsprechung nur dann nicht, wenn weitere Umstände hinzutreten, die zu erhöhter Sorgfalt Anlass geben (BGH-Beschluss vom 6. Dezember 2004 AnwZ (B) 92/03, juris: Gebot erhöhter Sorgfalt bei zu erwartender Zustellung des Schriftstücks). |
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cc) Ob es im Streitfall solche Umstände gibt, die einer Wiedereinsetzung entgegenstünden, hat das FG aufgrund seiner abweichenden Rechtsauffassung bislang nicht festgestellt, so dass dem Senat auch insoweit eine abschließende Beurteilung nicht möglich ist. |
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Entsprechende Feststellungen hat das FG mithin im zweiten Rechtsgang nachzuholen, sofern es im Rahmen seiner weiteren Sachaufklärung weiterhin zu dem Ergebnis kommen sollte, dass der Zusteller die Einspruchsentscheidung tatsächlich in den Briefkasten der Kläger eingelegt hat. |
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4. Die Kostenentscheidung bleibt dem FG vorbehalten (§ 143 Abs. 2 FGO). |
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