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II. Die Klage ist zu einem geringen Teil begründet. Die Dauer des Ausgangsverfahrens war unangemessen, indes lediglich im Umfang von zwei Monaten (dazu 1.). Aufgrund wirksamer Verzögerungsrüge (dazu 2.) steht der Klägerin eine Entschädigung von 200 EUR zu (dazu 3.). |
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1. Das Verfahren war im Umfang von zwei Monaten von unangemessener Dauer i.S. des § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG. |
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a) Der Entschädigungsanspruch nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG setzt u.a. die unangemessene Dauer des Gerichtsverfahrens voraus. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich gemäß § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter. Für die weiteren Grundsätze und Einzelheiten einschließlich der Aufteilung des typischen finanzgerichtlichen Verfahrens in drei Phasen nimmt der Senat auf seine Urteile in BFHE 243, 126, BStBl II 2014, 179 (unter II.2.a bis d), vom 18. März 2014 X K 4/13 (BFH/NV 2014, 1050) und vom 19. März 2014 X K 3/13 (BFH/NV 2014, 1053) sowie X K 8/13 (BFHE 244, 521, BStBl II 2014, 584) Bezug. |
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Diese Rechtsprechung steht zu derjenigen des BVerwG und des BSG nicht in Widerspruch, so dass der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes nicht anzurufen ist. Hinsichtlich des –bereits im Sachverhalt nicht vergleichbaren– Urteils des BVerwG in BayVBl 2014, 149 verweist der Senat auf sein Urteil in BFH/NV 2014, 1053. Das Urteil des BVerwG in Buchholz 300, § 198 GVG Nr. 3 betrifft den ebenfalls nicht vergleichbaren Fall eines Berufungszulassungsverfahrens, das insgesamt fast drei Jahre gedauert hatte, das Urteil des BSG in BSGE 113, 75 sowie die Parallelentscheidung hierzu (B 10 ÜG 2/12 KL, n.v.) ein Verfahren betreffend eine Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision. |
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Das BVerwG hat in seinem Urteil in BVerwGE 147, 146 (unter II.1.b aa (1) und (2)) ausgeführt, dass der Einzelfall maßgebend ist und sich Grenzwerte verbieten. Auch zu diesen Aussagen setzt sich der Senat nicht in Widerspruch. Zum einen hat der Senat im Einklang mit dem BVerwG der Einzelfallbetrachtung Vorrang vor der aus den typischen drei Phasen des finanzgerichtlichen Verfahrens abgeleiteten Vermutungsregel eingeräumt. Zum anderen hat das BVerwG seine Zurückhaltung gegenüber Orientierungs- und Richtwerten nicht zuletzt mit der Vielgestaltigkeit verwaltungsgerichtlicher Verfahren begründet, die in dieser Form in der Finanzgerichtsbarkeit nicht existiert. |
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b) Bei Anwendung dieser Grundsätze war die Dauer des Ausgangsverfahrens nur in dem Umfang von zwei Monaten unangemessen. |
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aa) Die Anwendung der in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG nach Art von Regelbeispielen genannten Kriterien lässt im Vergleich zum typischen, keine Besonderheiten aufweisenden Fall eher eine län-gere denn eine kürzere Verfahrensdauer angemessen erscheinen. |
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aaa) Die Schwierigkeit des Verfahrens war eher überdurchschnittlich. Abgesehen von den generellen Besonderheiten der Haftungsbescheide im Vergleich zu Steuerbescheiden einschließlich der damit einhergehenden Rechtsprobleme war das Verfahren dadurch gekennzeichnet, dass der Sachverhalt nicht sofort überschaubar sowie streitig war und vor allem bereits zum Zeitpunkt des Klageeingangs lange zurück lag. Da –wie auch im Streitfall– nach langer Zeit Zeugen entweder nicht auffindbar oder aber zur Aussage häufig nicht mehr bereit oder in der Lage sind, war die Ermittlung des Sachverhalts von Beginn an für das FG deutlich erschwert. Der Zeitverzug bis zum Eingang des Klageverfahrens ist allerdings nicht Gegenstand der vorliegenden Entschädigungsklage, da er dem FG nicht anzulasten ist. |
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bbb) Die Bedeutung des Verfahrens für die Klägerin stellte sich aus Sicht des FG zweischneidig dar. Die Haftungsschuld, zu der noch Nebenleistungen hinzutraten, war von nicht unbeträchtlicher Höhe, andererseits bei Anhängigwerden der Klage jedoch bereits gezahlt, so dass kein unmittelbarer Schaden etwa in Gestalt drohender Insolvenz mehr zu besorgen war. |
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Soweit die Klägerin auf die quasi präjudizielle Bedeutung des Verfahrens für die Beitragsbescheide der Deutschen Rentenversicherung hingewiesen hat, kann der Senat nicht feststellen, dass das FG diesen Umstand überhaupt zu berücksichtigen vermochte. |
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(1) Nach § 198 Abs. 3 Satz 3 GVG muss, wenn es für die Verfahrensförderung auf Umstände ankommt, die noch nicht in das Verfahren eingeführt worden sind, die Verzögerungsrüge darauf hinweisen. Anderenfalls werden sie nach § 198 Abs. 3 Satz 4 GVG von dem Entschädigungsgericht bei der Bestimmung der angemessenen Verfahrensdauer nicht berücksichtigt. So verhält es sich im Streitfall. |
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Der Senat kann zwar als wahr unterstellen, dass die Beteiligten des Verfahrens betreffend die Beitragsbescheide auf die Entscheidung über den im Ausgangsverfahren streitgegenständlichen Lohnsteuer-Haftungsbescheid gewartet haben und diesen zum Maßstab für ihr weiteres Vorgehen nehmen wollten. Der Senat kann jedoch nicht feststellen, dass dies zu einem Zeitpunkt, zu dem das FG das Verfahren noch hätte beschleunigen können, in das Verfahren eingeführt worden wäre. Die Klägerin hat zwar vorgetragen, ihr Prozessbevollmächtigter habe den Vorsitzenden des Senats des FG –fernmündlich– auf die Bedeutung des Lohnsteuer-Haftungsverfahrens für die sozialversicherungsrechtliche Problematik hingewiesen, was der Senat in dieser allgemeinen Form als wahr unterstellen kann. Die Klägerin hat aber bis heute und auch im Rahmen des nach der mündlichen Verhandlung eingereichten Schriftsatzes nicht vorgetragen, zu welchem Zeitpunkt sie den Vorsitzenden entsprechend informiert haben will. Das FG hätte aber diese Erkenntnisse nur dann im Sinne einer Verfahrensbeschleunigung verwerten können, wenn es sie so rechtzeitig gewonnen hätte, dass es die Sache nennenswert früher zum Abschluss hätte bringen können. Sollte die Klägerin hingegen diese Zusammenhänge erst kurz vor der mündlichen Verhandlung oder gar in dieser erläutert haben, konnte das FG hierauf nicht mehr in einer –aus Sicht der Klägerin– zweckentsprechenden Weise reagieren. War die sozialversicherungsrechtliche Bedeutung des Ausgangsverfahrens aber nicht (rechtzeitig) in dieses eingeführt worden, so darf das Entschädigungsgericht diese gesteigerte Bedeutung nach § 198 Abs. 3 Satz 4 GVG nicht berücksichtigen. |
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(2) Aufklärungsmaßnahmen zu der Frage, wann die Klägerin diese Zusammenhänge im Ausgangsverfahren kundgetan hat, sind nicht zu treffen. Da der in der mündlichen Verhandlung gestellte Beweisantrag keine Angabe darüber enthält, wann der Vorsitzende informiert worden sein soll, zielt der Antrag bei wortgetreuer Umsetzung auf Umstände, die aus den unter (1) genannten Gründen als wahr unterstellt werden können. Nachforschungen von Amts wegen über den Zeitpunkt dieser Information sind nicht geboten. Wenn es sich tatsächlich um einen frühen Zeitpunkt gehandelt haben sollte, der noch Einfluss auf die Verfahrensgestaltung hätte haben können, so muss die Klägerin bzw. der Prozessbevollmächtigte diesen Zeitpunkt kennen, da ihm eine eigene Handlung zugrunde liegt. In einem derartigen Beweisantrag liegt allenfalls eine Erklärung mit Nichtwissen, die –wie § 138 Abs. 4 der Zivilprozessordnung zum Ausdruck bringt–, nicht zulässig ist. |
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Da auch der nachgereichte Schriftsatz keine Angaben über den Zeitpunkt der Unterrichtung des FG enthält, war schon deshalb ein Wiedereintritt in die mündliche Verhandlung nicht geboten. |
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bb) Die Betrachtung des konkreten Verfahrensablaufs führt zu einer entschädigungsrelevanten Verzögerung von zwei Monaten. |
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aaa) Allein die erste Phase, die das FG nur in sehr begrenztem Umfang steuern kann, erstreckte sich vom Klageeingang am 5. März 2010 bis zum 23. Januar 2012, als das FA auf weitere Ausführungen zur Sache verzichtete, und dauerte damit bereits fast zwei Jahre. Anders als die Klägerin meint, ist die Phase des Schriftsatzaustauschs nicht bereits generell mit der Klageerwiderung beendet, sondern erstreckt sich so lange, wie die Beteiligten ihren Anspruch auf rechtliches Gehör in Anspruch nehmen und zum Verfahren und/oder zur Sache Stellungnahmen abgeben. Dies war bis zu dem genannten Zeitpunkt kontinuierlich der Fall. |
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Demgegenüber ist der Vortrag der Klägerin, die Sache sei mit Erhebung der Klage entscheidungsreif gewesen, –abgesehen von der Frage, ob dies an den gut zwei Jahren, die der Senat dem FG für die erste und zweite Phase zubilligen möchte, überhaupt etwas ändert– widersprüchlich. Die Klägerin trägt zwar vor, dass der Sachverhalt bis auf die Frage, ob die für die Klägerin im Zeitraum 1995 bis 1998 arbeitenden Personen selbständige Subunternehmer oder Arbeitnehmer der Klägerin waren, unstreitig gewesen sei. Gerade diese –streitige– Frage war aber Kern des gesamten Verfahrens, die Sache also gerade nicht entscheidungsreif, sondern in hohem Maße umstritten, die Rechtslage gerade nicht eindeutig. |
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Die im Dezember 2011 erhobene Verzögerungsrüge ändert an dieser Beurteilung nichts. Der Beteiligte eines Verfahrens hat nicht allein deshalb einen Anspruch auf beschleunigte Bearbeitung –gar unter Verletzung rechtlichen Gehörs–, weil er diesen Anspruch für sich reklamiert. |
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bbb) Die zweite Phase, in der das FG das Verfahren nicht in erkennbarer Weise gefördert hat, dauerte bis zum 19. April 2012, der Aufklärungsverfügung des Berichterstatters, und damit insgesamt knappe drei Monate, die erste und zweite Phase zusammen daher etwas mehr als zwei Jahre und einen Monat. Dies entspricht ohne Weiteres einer Zeitspanne von "gut zwei Jahren" und ist daher in keiner Weise zu beanstanden. |
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ccc) Während der dritten Phase ist es allerdings zu einer Verzögerung von zwei Monaten gekommen. |
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(1) Zunächst hat das FG die der dritten Phase eigenen Maßnahmen zur Tatsachenfeststellung getroffen, namentlich die Ermittlung noch in Betracht kommender Zeugen. Dies war nach Aktenlage erforderlich. Die spätere tatsächliche Verständigung konnte das FG nicht vorhersehen. Anders als die Klägerin wohl meint –wenn sie auch an anderer Stelle und insofern widersprüchlich vorträgt, eine Verzögerung wäre nicht eingetreten, wenn das FG seiner Sachverhaltsermittlungspflicht nachgekommen wäre–, ist daher die Ermittlung etwaiger Zeugen Teil angemessener Verfahrensbearbeitung. Die sofortige Anberaumung eines Erörterungstermins mit dem Versuch, die Angelegenheit ohne Beweisaufnahme zu erledigen, wäre zwar möglich, musste sich dem FG aber nicht aufdrängen, da die Angelegenheit nach Aktenlage recht umstritten war und nicht von vornherein davon auszugehen war, es sei eine tatsächliche Verständigung zu erzielen. |
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Der Senat verkennt nicht, dass das FG auf den Schriftsatz des FA vom 25. Juni 2012 hin der Klägerin eine verhältnismäßig lange Stellungnahmefrist eingeräumt hat. Allerdings war zu diesem Zeitpunkt das Verfahren noch nicht verzögert. Zudem hat die Klägerin die Frist fast bis zum Schluss ausgeschöpft, ohne etwa vorher zu erklären, sie beabsichtige keine Stellungnahme mehr, so dass dem FG nicht anzulasten ist, vor Ablauf der Frist nicht tätig geworden zu sein. |
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(2) Der Schriftsatz der Klägerin vom 28. September 2012 enthielt allerdings keinen neuen Vortrag mehr, auf den das FA noch durch Stellungnahme in der Sache hätte reagieren können und müssen. Folgerichtig hat das FG kurz darauf diesen Schriftsatz dem FA nur noch zur "etwaigen" Gegenäußerung und nicht mehr zur Stellungnahme übersandt. Von diesem Zeitpunkt an bis zum 29. Januar 2013, als das FG Termin zur mündlichen Verhandlung anberaumte –und anschließend das Verfahren unverzüglich zu Ende führte–, ist keine sichtbare Förderung des Verfahrens zu erkennen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich aber bereits die Pflicht des FG, das schon mehr als 2 1/2 Jahre anhängige Verfahren nachdrücklich zu fördern, verdichtet. |
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Nachdem das FG im Oktober 2012 durch Übermittlung des letzten Schriftsatzes noch tätig geworden war und im Januar 2013 durch Ladung zur mündlichen Verhandlung, der notwendig die entsprechende Vorbereitung der Ladung und damit eine Befassung mit der Sache vorangegangen sein muss, bleiben mit November und Dezember 2012 zwei volle Monate, die als unangemessene Verfahrensdauer zu bewerten sind. |
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Der Senat setzt sich hiermit nicht in Widerspruch zu dem Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 10. April 2014 III ZR 335/13 (Neue Juristische Wochenschrift 2014, 1967), der eine in Rede stehende Verfahrenslücke von zwei Monaten entschädigungsrechtlich nicht für relevant erachtet hat. Anders als in dem Sachverhalt, der der Entscheidung des BGH zugrunde lag, lag im Streitfall bei taggenauer Betrachtung eine Verzögerung von fast vier Monaten vor. Der Senat teilt die Auffassung des BGH, dass es einen Toleranzrahmen gibt, der einer allzu kleinteiligen Betrachtungsweise entgegensteht. In welcher Weise dieser Toleranzrahmen umzusetzen ist, ist von den Umständen des Einzelfalls abhängig und entzieht sich einer generalisierenden Betrachtungsweise. Im Streitfalle hat der Senat diesem Toleranzrahmen schon dadurch Geltung verschafft, dass er die ebenfalls tangierten Monate Oktober 2012 sowie Januar 2013 nicht in den entschädigungspflichtigen Verzögerungszeitraum einbezogen hat. |
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2. Jedenfalls die am 18. Oktober 2012 erhobene Verzögerungsrüge war wirksam. Insbesondere bestand, wie es § 198 Abs. 3 Satz 2 GVG fordert, Anlass zur Besorgnis, dass das Verfahren nicht in einer angemessenen Zeit abgeschlossen wird. Diese "Besorgnis" erfordert noch nicht, dass eine Verzögerung bereits eingetreten ist. Zu diesem Zeitpunkt war aber das Verfahren bereits deutlich mehr als zwei Jahre anhängig. Die letzten gewechselten Schriftsätze enthielten nichts Neues. Es handelte sich gerade um denjenigen Zeitraum, in dem das Verfahren in eine unangemessene Verfahrensdauer glitt und damit um einen Zeitraum, in dem Sorge um dessen zeitgerechten Abschluss aufkommen konnte. |
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3. Aufgrund wirksamer Verzögerungsrüge steht der Klägerin nach § 198 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG eine Entschädigung von 100 EUR pro Monat unangemessener Verfahrensdauer und damit insgesamt von 200 EUR zu. |
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Gründe, von der Entschädigung abzusehen und allein die Feststellung unangemessener Verfahrensdauer auszusprechen, bestehen nicht. Der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens ist demjenigen des Senatsurteils vom 17. April 2013 X K 3/12 (BFHE 240, 516, BStBl II 2013, 547), das eine schon bei Klageeingang –und zwar aufgrund des Klägervorbringens selbst– aussichtslose Rechtsverfolgung zum Gegenstand hatte, in keiner Weise vergleichbar. Der Verfahrensausgang war angesichts des umstrittenen Sachverhalts in jeder Hinsicht offen. |
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Gründe für eine höhere Entschädigung sind ebenfalls nicht ersichtlich. Aus der tatsächlichen Verständigung lässt sich auch zugunsten der Klägerin nichts herleiten. Insbesondere war die Klägerin nicht gezwungen, dieser zuzustimmen. Soweit die verstrichene Zeit die Tatsachenfeststellung erschwert hat, wäre dies zu Lasten des FA gegangen, das die Feststellungslast trug, und konnte daher die Klägerin jedenfalls nicht zu einer Zustimmung zur Verständigung "gezwungen" haben. |
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4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 136 Abs. 1 Satz 1 FGO. |
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