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II. Die Revision ist begründet. Sie führt im Umfang des Revisionsbegehrens zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Klagestattgabe (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung –FGO–). |
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Das FG hat zu Unrecht angenommen, dass die Familienkasse befugt war, die Kindergeldfestsetzungen betreffend die Kinder B und C im streitbefangenen Umfang aufzuheben und das insoweit ausbezahlte Kindergeld nach § 37 Abs. 2 AO zurückzufordern. Denn eine Aufhebung der Kindergeldfestsetzungen war wegen des Eintritts der Festsetzungsverjährung nicht möglich. |
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1. Das FG ist zutreffend davon ausgegangen, dass der Klägerin für ihren Sohn B in den Streitjahren 2001 bis 2003 und für ihren Sohn C im Streitjahr 2003 kein Kindergeld im streitbefangenen Umfang zustand. |
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a) Für ein über 18 Jahre altes Kind besteht nach § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 1 EStG u.a. dann Anspruch auf Kindergeld, wenn die Voraussetzungen von § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG erfüllt sind und wenn seine Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt und geeignet sind, 7.188 EUR nicht überschreiten (§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG a.F.). |
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b) Im Streitfall hat das FG festgestellt, dass die Einkünfte und Bezüge der Kinder B und C in den streitbefangenen Zeiträumen jeweils den nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG a.F. maßgeblichen Grenzbetrag von 7.188 EUR überschritten haben. Das FG hat insoweit zu Recht angenommen, dass die von den Söhnen der Klägerin in den streitbefangenen Zeiträumen bezogenen Halbwaisenrenten und das Waisengeld als Bezüge der Kinder zu berücksichtigen waren (vgl. BFH-Beschluss vom 26. April 2002 VIII B 169/01, BFH/NV 2002, 1029). Dies ist im Übrigen auch zwischen den Beteiligten unstreitig. |
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2. Die Familienkasse war nicht berechtigt, die streitbefangenen Kindergeldfestsetzungen aufzuheben. |
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a) Das FG hat zu Recht entschieden, dass eine Aufhebung nach § 70 Abs. 4 EStG a.F. in den Streitzeiträumen nicht in Betracht kam. |
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aa) Gemäß § 70 Abs. 4 EStG a.F. war eine Kindergeldfestsetzung aufzuheben oder zu ändern, wenn nachträglich bekannt wurde, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG a.F. über- oder unterschritten. |
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bb) Das FG hat zutreffend erkannt, dass diese Änderungsvorschrift hinsichtlich des Streitjahres 2001 noch nicht anwendbar war, weil die Bestimmung erst am 1. Januar 2002 in Kraft getreten (Art. 1 Nr. 21 i.V.m. Art. 8 Abs. 1 des Zweiten Gesetzes zur Familienförderung vom 16. August 2001, BGBl I 2001, 2074, BStBl I 2001, 533) und eine rückwirkende Anwendung nicht zulässig ist (vgl. BFH-Urteil vom 30. November 2004 VIII R 6/03, BFH/NV 2005, 890) und für die übrigen streitbefangenen Zeiträume (2002 bis 2003) entsprechend der vom FG vertretenen Auffassung bereits Festsetzungsverjährung eingetreten war. |
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cc) Die Vorschriften über die Festsetzungsverjährung nach §§ 169 ff. AO gelten auch im Verfahren über die Aufhebung von Bescheiden über die Festsetzung von Kindergeld, da dieses nach § 31 Satz 3 EStG als Steuervergütung gezahlt wird. Auf die Festsetzung einer Steuervergütung sind gemäß § 155 Abs. 4 AO die Vorschriften über die Steuerfestsetzung –also auch die Bestimmungen über die Festsetzungsverjährung (§§ 169 bis 171 AO)– sinngemäß anzuwenden (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 18. Mai 2006 III R 80/04, BFHE 214, 1, BStBl II 2008, 371, unter II.1.a; vom 15. Juli 2010 III R 32/08, BFH/NV 2010, 2237, Rz 10; vom 26. November 2014 XI R 41/13, BFH/NV 2015, 491, Rz 29). |
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dd) Nach § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO beträgt die Festsetzungsfrist im Regelfall vier Jahre. Die Frist beginnt gemäß § 170 Abs. 1 AO mit Ablauf des Jahres, in dem die Steuer entstanden ist. |
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ee) Bei entsprechender Anwendung auf die streitbefangenen Kindergeldfestsetzungen war damit für das Streitjahr 2001 mit Ablauf des Jahres 2005 Festsetzungsverjährung eingetreten, für das Streitjahr 2002 mit Ablauf des Jahres 2006 und für das Streitjahr 2003 mit Ablauf des Jahres 2007. Sämtliche Aufhebungsbescheide sind aber erst am 20. November 2008 ergangen, also zu einem Zeitpunkt, als bereits Festsetzungsverjährung eingetreten war. |
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ff) Im Streitfall haben die Voraussetzungen einer Steuerhinterziehung oder einer leichtfertigen Steuerverkürzung nicht vorgelegen, so dass die Festsetzungsfrist auch nicht ausnahmsweise nach § 169 Abs. 2 Satz 2 AO fünf bzw. zehn Jahre betragen hat. Die vom FG insoweit durchgeführte Würdigung sämtlicher Einzelumstände des Streitfalls begegnet keinen revisionsrechtlichen Bedenken. |
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Das FG ist insoweit von zutreffenden Grundsätzen ausgegangen, die von ihm durchgeführte Würdigung ist möglich, enthält keinen Verstoß gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze und ist nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffen worden. Sie bindet daher den Senat (§ 118 Abs. 2 FGO; vgl. z.B. BFH-Urteil vom 14. Mai 2014 XI R 13/11, BFHE 245, 424, BStBl II 2014, 734, Rz 26, m.w.N.). Auch dies ist im Übrigen zwischen den Beteiligten im Revisionsverfahren unstreitig. |
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b) Eine Aufhebung der Kindergeldfestsetzungen für die Streitzeiträume nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO war ebenfalls nicht möglich. |
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aa) Steuerbescheide sind nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekanntwerden, die zu einer höheren Steuer führen. |
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Diese Vorschrift gilt für das als Steuervergütung nach § 31 Satz 3 EStG gewährte Kindergeld grundsätzlich entsprechend (vgl. z.B. BFH-Urteil in BFH/NV 2015, 491, Rz 29, m.w.N.). |
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bb) Die Anwendung dieser Vorschrift scheidet aber im Streitfall schon deshalb aus, weil eine Aufhebung hiernach nur innerhalb der Festsetzungsfrist nach § 169 Abs. 1 Satz 1 AO zulässig ist (vgl. dazu z.B. Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 173 AO Rz 106). Im Streitfall war die Festsetzungsfrist zum Zeitpunkt des Ergehens der Aufhebungsbescheide aber –wie dargelegt– bereits abgelaufen. |
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c) Die Aufhebung der streitbefangenen Kindergeldfestsetzungen konnte auch nicht nach Maßgabe von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. § 175 Abs. 2 AO erfolgen. |
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aa) Nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ist ein Steuerbescheid aufzuheben, soweit ein Ereignis eintritt, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit entfaltet (rückwirkendes Ereignis). Auch diese Korrekturnorm ist auf das als Steuervergütung nach § 31 Satz 3 EStG gewährte Kindergeld grundsätzlich entsprechend anzuwenden (BFH-Urteile vom 28. Juni 2006 III R 13/06, BFHE 214, 287, BStBl II 2007, 714, unter II.2.c; vom 16. Oktober 2012 XI R 46/10, BFH/NV 2013, 555, Rz 52). |
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bb) Auch insoweit war bereits Festsetzungsverjährung eingetreten. Entgegen der Auffassung des FG führt die in § 175 Abs. 1 Satz 2 AO vorgesehene Anlaufhemmung im Streitfall nicht zu einem abweichenden Ergebnis. |
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(1) Danach beginnt die Festsetzungsfrist in den Fällen des § 175 Abs. 1 Satz 2 AO mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem das Ereignis eintritt. |
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(2) Nach der Rechtsprechung des BFH zur Änderung von Kindergeldfestsetzungen wegen nachträglicher Kenntnis vom Überschreiten der Einkünfte– und Bezügegrenze nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG a.F. gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO und § 175 Abs. 2 AO ist für das erforderliche rückwirkende "Ereignis" maßgeblich auf das Überschreiten der Einkünfte– und Bezügegrenze abzustellen (BFH-Urteile vom 16. April 2002 VIII R 76/01, BFHE 199, 116, BStBl II 2002, 525, unter II.1., Rz 9, m.w.N.; in BFH/NV 2005, 890, unter II.2.a und b). |
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(3) Für die Anwendung der Anlaufhemmung kommt es danach auf das tatsächliche Überschreiten der Einkünfte- und Bezügegrenzen in den Zeiträumen 2001 bis 2003 an. Da die Familienkasse die streitbefangenen Aufhebungsbescheide erst im November 2008 erlassen hat, war zu diesem Zeitpunkt die vierjährige Festsetzungsverjährungsfrist für die Zeiträume 2001 bis 2003 bereits abgelaufen. |
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3. Das FG ist insoweit von abweichenden Rechtsgrundsätzen ausgegangen. Die Entscheidung des FG war betreffend die Jahre 2001 bis 2003 aufzuheben. Die Sache ist spruchreif. Die Aufhebungsbescheide für die Streitzeiträume vom 20. November 2008 in Gestalt der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidungen waren betreffend die Kinder B und C aufzuheben. Die entsprechende Rückforderung des Kindergeldes nach § 37 Abs. 2 AO durfte nicht erfolgen. Der Klage war insoweit stattzugeben. |
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 FGO. |
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5. Der Senat entscheidet im Einverständnis der Beteiligten durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 121 Satz 1 i.V.m. § 90 Abs. 2 FGO). |
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