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II. Im Streitfall hat zum 1. Mai 2013 ein gesetzlicher Beteiligtenwechsel stattgefunden. Beklagte und Revisionsklägerin ist nunmehr die Familienkasse Sachsen (vgl. z.B. Urteile des Bundesfinanzhofs –BFH– vom 28. Mai 2013 XI R 38/11, BFH/NV 2013, 1774, Rz 14; vom 16. September 2015 XI R 10/13, BFH/NV 2016, 543, Rz 11). Das Rubrum war entsprechend zu ändern. |
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III. Die Revision ist begründet. Das FG-Urteil ist aufzuheben und die Klage abzuweisen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung –FGO–). |
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Das FG hat zu Unrecht entschieden, dass der Anspruch auf Kindergeld dem Kläger zusteht. Vielmehr hat die in Polen lebende Beigeladene einen vorrangigen Anspruch auf Kindergeld. |
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1. Die Klage ist zulässig. Soweit die Familienkasse Zweifel am Vorliegen eines allgemeinen Rechtsschutzbedürfnisses hat, weil der Kläger (neben der Festsetzung zu seinen Gunsten) die Abzweigung an die Beigeladene begehrt und eine Kindergeldfestsetzung gegenüber der Beigeladenen für den Kläger vorteilhafter wäre, da er von Mitwirkungs- und Mitteilungspflichten befreit wäre, vermag der erkennende Senat dem nicht zu folgen. |
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a) Das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis fehlt z.B. dann, wenn die Rechtsverwirklichung im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts bereits erreicht worden ist (vgl. dazu BFH-Beschlüsse vom 18. Februar 1994 VIII B 46/92, BFH/NV 1994, 728, unter 1., Rz 14; vom 11. September 2013 I B 179/12, BFH/NV 2014, 48, Rz 13; Urteil des Bundesverwaltungsgerichts –BVerwG– vom 15. Januar 1999 2 C 5.98, Buchholz 310 § 42 Abs. 1 VwGO Nr. 1, Rz 10 ff.; Gräber/Herbert, Finanzgerichtsordnung, 8. Aufl., Vor § 33 Rz 19), d.h. wenn die klagende Partei mit der Klage eine Verbesserung ihrer Rechtsstellung nicht erreichen kann (vgl. z.B. Braun in Hübschmann/Hepp/ Spitaler, § 40 FGO Rz 165; BVerwG-Beschlüsse vom 11. März 1992 5 B 32.92, Buchholz 310 § 40 VwGO Nr. 254, Rz 4; vom 27. Juli 2005 6 B 37.05, juris, Rz 6). |
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b) Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Die vom Kläger jedenfalls auch begehrte Rechtsstellung als Kindergeldberechtigter (die auch bei einem Wegfall der Abzweigungsvoraussetzungen bestehen bleibt) stellt den Kläger besser als eine Kindergeldfestsetzung zu Gunsten der Beigeladenen. |
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2. Der Kläger erfüllte im Streitzeitraum (September 2010 bis Januar 2011, dem Monat der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung; vgl. hierzu BFH-Urteil vom 25. September 2014 III R 36/12, BFHE 247, 488, BStBl II 2015, 286, Rz 16) nach den für den Senat gemäß § 118 Abs. 2 FGO bindenden –und zwischen den Beteiligten unstreitigen– tatsächlichen Feststellungen des FG die Voraussetzungen für die Gewährung von Kindergeld. |
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Er hatte seinen Wohnsitz im Inland (§ 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG). Beide Kinder sind bei ihm zu berücksichtigen (§ 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 1 EStG), denn A befand sich im Streitzeitraum im September 2010 in einer Übergangszeit zwischen zwei Ausbildungsabschnitten bzw. ab Oktober 2010 in Berufsausbildung (§ 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a bzw. b EStG) und B war im Streitzeitraum minderjährig (§ 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 3 EStG). Dass beide Kinder ihren Wohnsitz in Polen hatten, ist für die Kindergeldberechtigung unerheblich (§ 63 Abs. 1 Satz 3 EStG in der bis zum 8. Dezember 2014 geltenden Fassung). |
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3. Allerdings ist die beigeladene Kindsmutter –entgegen der Rechtsauffassung des FG– nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig anspruchsberechtigt. |
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a) Nach § 64 Abs. 1 EStG wird für jedes Kind nur einem Berechtigten Kindergeld gezahlt. Bei mehreren Berechtigten wird das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG). Ist ein Kind in den gemeinsamen Haushalt von Eltern, einem Elternteil und dessen Ehegatten, Pflegeeltern oder Großeltern aufgenommen, so bestimmen diese untereinander den Berechtigten (§ 64 Abs. 2 Satz 2 EStG). |
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b) Anders als das FG meint, ist die Beigeladene als weitere "Berechtigte" i.S. von § 64 EStG anzusehen. Ihre Berechtigung ergibt sich aus § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG i.V.m. Art. 67 der VO Nr. 883/2004 und Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009, wonach zu unterstellen ist, dass die Beigeladene mit beiden Kindern in Deutschland wohnt. |
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aa) Nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ist bei Anwendung von Art. 67 und 68 der VO Nr. 883/2004, insbesondere was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt, die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als ob alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fielen und dort wohnten. Nach Art. 67 der VO Nr. 883/2004 hat eine Person auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staats, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnten. |
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bb) Der persönliche und sachliche Anwendungsbereich der VO Nr. 883/2004 ist eröffnet, denn der Kläger ist polnischer Staatsangehöriger (Art. 2 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004) und Kindergeld ist eine Familienleistung (Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der VO Nr. 883/2004). Die deutschen Rechtsvorschriften sind anzuwenden, da der Kläger seinen Wohnsitz im Streitzeitraum im Inland hatte (Art. 11 Abs. 1 und 3 Buchst. e der VO Nr. 883/2004; vgl. dazu BFH-Urteile vom 4. Februar 2016 III R 17/13, BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612, Rz 17; vom 10. März 2016 III R 62/12, BFHE 253, 236, BStBl II 2016, 616, Rz 16 bis 18). |
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cc) Der EuGH hat in der Rechtssache Trapkowski (EU:C:2015:720, DStRE 2015, 1501) entschieden, dass die in Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 vorgesehene Fiktion dazu führen kann, dass der Anspruch auf Familienleistungen einer Person zusteht, die nicht in dem Mitgliedstaat wohnt, der für die Gewährung dieser Leistungen zuständig ist, sofern alle anderen durch das nationale Recht vorgeschriebenen Voraussetzungen für die Gewährung erfüllt sind. Dem folgend hat der III. Senat des BFH mit Urteilen in BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612 (Rz 16 ff.) und vom 10. März 2016 III R 25/12 (BFH/NV 2016, 1161, Rz 20 ff.), III R 8/13 (BFH/NV 2016, 1164, Rz 21 ff.), in BFHE 253, 236, BStBl II 2016, 616 (Rz 19 ff.) sowie III R 66/13 (BFH/NV 2016, 1166, Rz 19 ff.) entschieden, dass die Anwendung von Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 dazu führt, dass die Wohnsituation der im EU-Ausland lebenden Familienangehörigen (fiktiv) in das Inland übertragen wird, d.h. die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen ist, als ob alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des für die Gewährung der Familienleistungen zuständigen Mitgliedstaats fielen und dort wohnten. Unbeachtlich sei, ob dem in einem anderen Mitgliedstaat lebenden Familienangehörigen nach den dort geltenden Vorschriften ein Anspruch auf Familienleistungen zustehe und damit eine von Art. 68 der VO Nr. 883/2004 erfasste Konkurrenzsituation gegeben sei (BFH-Urteile in BFH/NV 2016, 1161, Rz 22; in BFH/NV 2016, 1164, Rz 23; in BFHE 253, 236, BStBl II 2016, 616, Rz 21; in BFH/NV 2016, 1166, Rz 21). Zu den "beteiligten Personen" i.S. des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 gehöre auch der andere Elternteil, da dieser nach nationalem Recht gemäß § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 32 Abs. 1 Nr. 1 EStG berechtigt sei, für seine leiblichen Kinder Anspruch auf Kindergeld zu erheben, und deshalb als Familienangehöriger i.S. des Art. 1 Buchst. i Nr. 1 Buchst. i der VO Nr. 883/2004 anzusehen sei (BFH-Urteile in BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612, Rz 18; in BFH/NV 2016, 1161, Rz 23 f.; in BFH/NV 2016, 1164, Rz 24 f.). Der erkennende Senat schließt sich dieser Rechtsprechung an. |
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dd) Die Anwendung der unionsrechtlichen Fiktion führt im Streitfall dazu, dass für Zwecke der Anwendung von § 64 EStG zu unterstellen ist, dass die Beigeladene zusammen mit beiden Kindern in einem Haushalt in Deutschland lebt. |
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c) Die Beigeladene erfüllt auch die übrigen Voraussetzungen für einen vorrangigen Kindergeldanspruch. |
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aa) Das FG hat festgestellt, dass die Beigeladene polnische Staatsangehörige ist; sie fällt damit nicht unter § 62 Abs. 2 EStG. Nach den Feststellungen des FG hatte die Beigeladene beide Kinder im Streitzeitraum (September 2010 bis Januar 2011) durchgängig in ihren Haushalt in Polen aufgenommen (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG). |
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bb) Ein vorrangiger Anspruch des Klägers ergibt sich auch nicht aus § 64 Abs. 2 Satz 2 EStG. Nach den gemäß § 118 Abs. 2 FGO bindenden Feststellungen des FG hatte der Kläger seinen alleinigen Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt im Inland; deshalb bestand im Streitzeitraum kein gemeinsamer Haushalt des Klägers mit der Beigeladenen und den beiden Kindern, der –gemäß der Fiktion in Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009– als gemeinsamer inländischer Haushalt gelten würde. Demnach ist im Streitfall der Anspruch der Beigeladenen nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig, da nur bei dieser, nicht dagegen beim Kläger, eine Haushaltsaufnahme der beiden Kinder vorliegt. |
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d) Dass die Beigeladene in Polen keinen Antrag auf Familienleistungen gestellt hat, führt nicht dazu, dass die Fiktionswirkung des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 entfiele (vgl. dazu BFH-Urteil in BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612, Rz 20). Vielmehr hat die Beigeladene einen eigenen Antrag in Deutschland gestellt. |
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4. Da an den Kläger kein Kindergeld zu zahlen ist, hat der Senat über die Abzweigung nicht zu entscheiden. |
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5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO. Der Beigeladenen waren keine Kosten aufzuerlegen, da sie keine Anträge gestellt hat (§ 135 Abs. 3 FGO). Außergerichtliche Kosten der Beigeladenen sind gemäß § 139 Abs. 4 FGO nicht zu erstatten. |
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