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BFH-Urteil vom 20.11.1987 (VI R 6/86) BStBl. 1988 II S. 443

BFH-Urteil vom 20.11.1987 (VI R 6/86) BStBl. 1988 II S. 443

1. Ob eine für ständig wechselnde Einsatzstellen berufstypische Tätigkeit vorliegt, bestimmt sich nicht nach abstrakten Berufsbildern, sondern nach der mutmaßlichen Verwendung des Arbeitnehmers im Rahmen des Direktionsrechts des Arbeitgebers (Anschluß an BFH-Urteil vom 11. Juli 1980 VI R 198/77, BFHE 131, 64, BStBl II 1980, 654).

2. Auch bei einem auf ständig wechselnden Einsatzstellen beschäftigten Arbeitnehmer sind Aufwendungen für Fahrten zu Arbeitsstätten, die im üblichen Arbeitsplatzeinzugsbereich seiner Wohnung liegen, nur mit den Pauschsätzen des § 9 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2 EStG als Werbungskosten zu berücksichtigen.

EStG 1981 § 9 Abs. 1 Nr. 4.

Vorinstanz: Niedersächsisches FG (EFG 1986, 118)

Sachverhalt

 

Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger), die beide berufstätig waren, wurden als Ehegatten zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Der Ehemann war im Streitjahr 1981 als Mitarbeiter der sog. Betriebsreserve eines Bankinstituts im Filialbereich H beschäftigt. Zum Filialbereich gehören die Filialen der Städte A, B, C, D, E und H einschließlich der Zweigstellen F und G. Mitarbeiter der Betriebsreserve haben bei Personalengpässen infolge Krankheit, Urlaub oder unvorhersehbaren Arbeitsanfalls auszuhelfen. Für sie wird ein überschlägiger Einsatzplan erstellt, der – kurzfristigen betrieblichen Bedürfnissen entsprechend – Änderungen unterworfen ist. Der Kläger wurde nach seiner Ausbildung im April 1979 als Schaltermitarbeiter angestellt und ist seit Mai 1980 mit dem Ziel einer höheren tariflichen Einstufung bei der Betriebsreserve tätig.

In der Einkommensteuererklärung 1981 machte der Kläger Fahrtaufwendungen in Höhe von (13.993 km zu 0,72 DM abzüglich steuerfreier Erstattung von 1.155,40 DM =) 8.919,56 DM und Verpflegungsmehraufwendungen wegen mehr als zehnstündiger Abwesenheit von der Wohnung in Höhe von (232 Tage zu 5 DM =) 1.160 DM als Werbungskosten geltend. Davon berücksichtigte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt – FA -) im Einkommensteuerbescheid vom 8. November 1982 lediglich (13.993 km zu 0,36 DM minus 1.155,40 DM =) 3.882 DM.

Der nach erfolglosem Einspruch erhobenen Klage gab das Finanzgericht (FG) mit den in den Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1986, 118 wiedergegebenen Gründen statt.

Mit der Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts. Die Fahrten des Klägers hätten keinen dienstreiseähnlichen Charakter gehabt, da ihnen weder hinsichtlich des Ortes noch der Zeit der Reisetätigkeit etwas Unvorhersehbares angehaftet habe. Im Dienstvertrag des Klägers sei die Versetzung an einen anderen zumutbaren Arbeitsplatz oder Tätigkeitsort vorgesehen gewesen. Da er Mitglied der Betriebsreserve gewesen sei, habe von vornherein der Einsatz in dem Filialbereich als solcher, darüber hinaus aber auch eine gewisse Zeit vorher der konkrete Einsatzort und die Einsatzdauer festgestanden. Tatsächlich sei der Kläger nur an drei verschiedenen Orten eingesetzt gewesen, wobei der Einsatz im Regelfall mehrere Wochen gedauert habe. Anders als bei Bau- oder Montagearbeitern habe sich der Kläger auf die wechselnden Einsatzstellen einrichten können. Er sei nach einer gewissen Zeit ortskundig geworden und habe günstige Verkehrsverbindungen und preiswerte Beköstigungsmöglichkeiten kennengelernt. Die Einsatzorte A, H und F hätten ebenso wie der Wohnort der Kläger verkehrsgünstig an einer vielbefahrenen Bundesbahnstrecke gelegen. Daß die Kläger ihren Wohnsitz nicht in die Nähe der jeweiligen Tätigkeitsstätte hätten legen können, sei – wie im Falle des Urteils des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 2. November 1984 VI R 38/83 (BFHE 142, 389, BStBl II 1985, 139) – unbeachtlich. Der Streitfall sei vielmehr wie der Sachverhalt im BFH-Urteil vom 2. November 1984 VI R 143/83 (BFHE 143, 20, BStBl II 1985, 266) zu entscheiden.

Der Einsatz des Klägers auf wechselnden Einsatzstellen sei auch nicht berufstypisch gewesen, da der ständige Wechsel dem Berufsbild eines Bankkaufmanns widerspreche und auch Mitarbeiter der Betriebsreserve nicht damit zu rechnen hätten, an anderen als den bisherigen bezirksmäßig abgegrenzten Einsatzstellen tätig zu werden. Dabei sei der jeweilige Einsatzort – von den Fällen einer Krankheitsvertretung abgesehen – vorhersehbar gewesen.

Das FA beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen.

Die Kläger beantragen, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

 

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung.

Der Kläger war an sog. ständig wechselnden Einsatzstellen beschäftigt. Die an Fahrten zu derartigen Einsatzstellen geknüpften Rechtsfolgen greifen indessen hinsichtlich derjenigen Fahrten nicht ein, die im üblichen Arbeitsplatzeinzugsbereich der Wohnung des Klägers lagen.

1. Seit den Entscheidungen des BFH in seinen Urteilen vom 5. November 1971 VI R 184/69 (BFHE 103, 493, BStBl II 1972, 130) und VI R 207/68 (BFHE 103, 472, BStBl II 1972, 137) wendet der BFH und ihm folgend die Finanzverwaltung (Abschn. 24 Abs. 4 Nr. 3 der Lohnsteuer-Richtlinien – LStR -) auf Fahrten zwischen der Wohnung und sog. ständig wechselnden Einsatzstellen die Einschränkungen des Werbungskostenabzugs durch § 9 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) nicht an, weil sie einen Typus von Fahrten betreffen, der von dieser Vorschrift nach ihrem Zweck nicht erfaßt werden sollte.

a) Fahrten zu sog. ständig wechselnden Einsatzstellen werden von der Rechtsprechung als dienstreiseähnlich gekennzeichnet (BFH-Urteile vom 31. Oktober 1973 VI R 98/73, BFHE 111, 76, BStBl II 1974, 258; vom 14. Juli 1978 VI R 179/76, BFHE 125, 555, BStBl II 1978, 660, und BFHE 142, 389, BStBl II 1985, 139). Entgegen der Ansicht des FA kann das den Charakter der Fahrten zu sog. ständig wechselnden Einsatzstellen nicht definierende, sondern lediglich umschreibende Merkmal der Dienstreiseähnlichkeit indessen nicht dahin verstanden werden, daß die Pauschbeträge des § 9 Abs. 1 Nr. 4 EStG trotz ständigen Arbeitsplatzwechsels immer dann anzuwenden sind, wenn dem betreffenden Arbeitnehmer die in Betracht kommenden Orte, an denen er seine Arbeitsleistung zu erbringen hat, bekannt sind. Auch die steuerliche Behandlung von Dienstreisen ändert sich nicht, wenn Reisenden aufgrund detaillierter Planung lange vor Reiseantritt die näheren Umstände auswärtiger Tätigkeit bekannt sind. Maßgebend für die von Fahrten zwischen Wohnung und fester Arbeitsstätte abweichende Behandlung der Fahrten zu sog. ständig wechselnden Einsatzstellen ist vielmehr der Umstand, daß der Arbeitnehmer – wie bei Dienstreisen – nicht laufend zur gleichen Arbeitsstätte fährt und deshalb nicht die Möglichkeit hat, durch eine entsprechende Wohnsitznahme selbst die Höhe seiner Fahrtaufwendungen zu bestimmen (BFHE 111, 76, BStBl II 1974, 258, und BFH-Urteil vom 11. Juli 1980 VI R 198/77, BFHE 131, 64, BStBl II 1980, 654). Die besondere Behandlung von Arbeitnehmern mit sog. ständig wechselnden Einsatzstellen beruht nicht auf der Unvorhersehbarkeit des Wechsels oder des Einsatzortes, sondern darauf, daß sich der Arbeitnehmer dem ständigen Wechsel nicht entziehen kann. Die jeweils besonders weiten Fahrten entstehen nicht deshalb, weil der Arbeitnehmer seinen Wohnsitz – aus welchen privaten Erwägungen auch immer – nicht in der Nähe seines Arbeitsortes gewählt hat, sondern vielmehr, weil der Arbeitsort ständig wechselt. Bereits dadurch ähneln derartige Fahrten Dienstreisen.

b) Weiterhin ist für Arbeitnehmer mit sog. ständig wechselnden Einsatzstellen kennzeichnend, daß sie einen Beruf ausüben, bei dem ein solcher ständiger Wechsel typisch ist (BFHE 131, 64, BStBl II 1980, 654). Da es indessen nicht darum geht, ein Sonderrecht für bestimmte Berufsgruppen zu schaffen, ist nicht auf die abstrakten Merkmale eines bestimmten Berufsbildes abzustellen, sondern darauf, ob der Arbeitnehmer des konkreten zu beurteilenden Dienstverhältnisses nach dem Direktionsrecht seines Arbeitgebers aller Voraussicht nach damit rechnen muß, daß er seine Arbeitsleistung an immer wieder anderen Arbeitsstätten zu erbringen hat. Der Berufstyp als solcher kann schon deshalb nicht allein entscheidend sein, weil einerseits Arbeitnehmer mit Berufen, bei denen der Einsatz an wechselnden Arbeitsstellen häufig vorkommt, auf Dauer nur an einer Arbeitsstelle beschäftigt sein können und andererseits Angehörige von Berufen, die üblicherweise an einem unveränderten Arbeitsplatz ausgeübt werden, an ständig wechselnden Einsatzstellen beschäftigt sein können. Mithin kommt es nicht auf Berufsbilder, sondern darauf an, ob der jeweilige Arbeitnehmer aufgrund seiner individuellen Berufssituation sich auf Fahrten zu immer wieder neuen Arbeitsstätten einzustellen hat, die er nicht durch eine entsprechende Wohnsitznahme vermeiden kann.

c) Schließlich setzt die Annahme sog. ständig wechselnder Einsatzstellen voraus, daß die der Vorschrift des § 9 Abs. 1 Nr. 4 EStG zugrunde liegende Überlegung des Gesetzgebers, eine Entlastung des Straßenverkehrs in Ballungsgebieten zu erreichen, nicht zum Tragen kommen kann (BFHE 142, 389, BStBl II 1985, 139). U.a. aufgrund dieses Erfordernisses sind auch Fahrten zu immer wieder neuen Einsatzstellen der Regelbehandlung des § 9 Abs. 1 Nr. 4 EStG zu unterwerfen, wenn sich die Einsatzstellen innerhalb eines abgegrenzten, in sich geschlossenen, nicht weit auseinandergezogenen und überschaubaren Gebietes befinden. Dieses Erfordernis besagt – wie auch bei Dienstreisen – indessen nicht, daß die besuchten Einsatzstellen nicht durch öffentliche Verkehrsmittel bequem erreichbar sein dürfen. Erstrecken sich die Einsatzstellen auf ein weiträumiges Gebiet, werden verkehrspolitische Erwägungen, eine Verlagerung des städtischen Verkehrs vom Individualverkehr auf öffentliche Verkehrsmittel zu erreichen, nicht berührt. Ebenso wie umgekehrt das Fehlen zumutbarer öffentlicher Verkehrsverbindungen die Vorschrift des § 9 Abs. 1 Nr. 4 EStG auf Fahrten zwischen Wohnung und ständiger Arbeitsstätte nicht unanwendbar macht, ist ihre Anwendung auf weitreichende Fahrten zu sog. ständig wechselnden Einsatzstellen nicht schon deshalb geboten, weil ein Ausweichen auf öffentliche Verkehrsmittel möglich bzw. zumutbar ist.

d) Das FG hat im Streitfall zutreffend entschieden, daß für den Kläger als Mitglied der Betriebsreserve sein Einsatz auf wechselnden Arbeitsstellen berufstypisch war und daß bei dem weitreichenden Einzugsbereich, innerhalb dessen ein Einsatz des Klägers vorgesehen war und stattfand, die Annahme von Fahrten zu sog. ständig wechselnden Einsatzstellen grundsätzlich zu bejahen war. Dieser Annahme stand nach den oben dargelegten Grundsätzen nicht entgegen, daß dem Kläger – von Ausnahmen abgesehen – Einsatzort und Dauer eine gewisse Zeit vor Antritt der jeweiligen Einsatzstelle bekannt war, noch kam es darauf an, ob ihm zum Erreichen des Arbeitsplatzes öffentliche Verkehrsmittel zur Verfügung standen.

2. Nach der neueren Rechtsprechung des BFH ist bei wechselnden Einsatzstellen für eine Rechtsfortbildung des § 9 Abs. 1 Nr. 4 EStG im Wege der Lückenausfüllung dann kein Raum, wenn sich dadurch gegenüber Arbeitnehmern mit einer festen Arbeitsstätte ungerechtfertigte Vorteile ergeben würden. Die Einschränkung wurde in den Fällen vorgenommen, in denen die Einsatzstellen innerhalb eines eng abgegrenzten Gebietes lagen und damit nur die Bewältigung einer Entfernung erforderten, die auch von einer großen Zahl der zu festen Arbeitsstellen fahrenden Arbeitnehmern arbeitstäglich zurückgelegt wird (BFH-Urteile vom 19. Februar 1982 VI R 61/79, BFHE 138, 175, BStBl II 1983, 466; in BFHE 142, 389, BStBl II 1985, 139, und vom 10. Mai 1985 VI R 157/81, BFHE 144, 46, BStBl II 1985, 595). An dieser aus Gründen der steuerlichen Gleichbehandlung entwickelten Rechtsprechung hält der Senat fest.

a) Die besagte Einschränkung kommt nicht nur in Fällen zum Tragen, in denen alle Einsatzstellen innerhalb eines eng begrenzten Einzugsgebietes liegen, sondern auch hinsichtlich der Fahrten zu einzelnen innerhalb dieses Einzugsgebietes befindlichen Einsatzstellen (Abschn. 24 Abs. 4 Nr. 3 Satz 5 LStR 1987). Denn nur hinsichtlich der übrigen Fahrten ist es sachlich gerechtfertigt, daß die Beschränkung des Werbungskostenabzugs nach § 9 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2 EStG nicht eingreift, weil auch nur sie einen Typus von Fahrten betreffen, der nach dem Zweck der Vorschrift nicht erfaßt werden sollte. Demgegenüber ist bei Fahrten mit einer Entfernung, die auch von einer großen Anzahl der zu festen Arbeitsstätten fahrenden Arbeitnehmer arbeitstäglich zurückgelegt zu werden pflegt, eine Gleichbehandlung mit diesen Steuerpflichtigen geboten.

b) Nach den Feststellungen des FG hat die Entfernung zwischen Wohnung und Einsatzstelle in Einzelfällen lediglich 15 km betragen. Für derartige Fahrten stand dem Kläger die vom FG gewährte steuerliche Besserstellung nicht zu, da sie im üblichen Arbeitsplatzeinzugsbereich der Wohnung des Klägers lagen. Hinsichtlich der restlichen Fahrten beruft sich das FA zu Unrecht auf die Urteile in BFHE 142, 389, BStBl II 1985, 139, und BFHE 143, 20, BStBl II 1985, 266, weil auch sie nur Sachverhalte mit örtlich eng begrenztem überschaubarem Arbeitsbereich betrafen. Das FG wird nunmehr festzustellen haben, in welchem Umfang der Kläger in diesem Bereich tätig gewesen ist.