ECLI:DE:BFH:2021:B.221021.IXB38.21.0
BFH IX. Senat
FGO § 78
vorgehend FG Hamburg, 18. Mai 2021, Az: 1 K 175/20
Leitsätze
1. NV: Die Kanzleiräume des Prozessbevollmächtigten der Kläger sind keine Diensträume i.S. des § 78 Abs. 3 FGO.
2. NV: Die Neufassung des § 78 Abs. 3 Satz 1 FGO schließt nicht jedwede Akteneinsicht außerhalb von Diensträumen aus. Vielmehr bleibt die Übersendung von Akten in die Geschäftsräume eines Prozessbevollmächtigten zum Zwecke der dortigen Einsichtnahme in eng begrenzten Ausnahmefällen nach wie vor möglich.
3. NV: Hat das FG bei seiner Entscheidung die für und die gegen eine Akteneinsicht in den Kanzleiräumen sprechenden Gründe hinreichend berücksichtigt und gegeneinander abgewogen, kann sich die Versagung der Akteneinsicht in den Kanzleiräumen auch unter Berücksichtigung der besonderen Pandemielage als ermessensfehlerfrei erweisen (Anschluss an BFH-Beschluss vom 18.03.2021 – V B 29/20, BFHE 272, 296, BStBl II 2021, 710).
Tenor
Die Beschwerde der Kläger gegen den Beschluss des Finanzgerichts Hamburg vom 18.05.2021 – 1 K 175/20 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens haben die Kläger zu tragen.
Gründe
Die statthafte Beschwerde ist unbegründet.
1. Die Beschwerde ist zulässig. Die Entscheidung über die Art und Weise der Gewährung von Akteneinsicht stellt keine unanfechtbare prozessleitende Verfügung i.S. von § 128 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) dar und ist daher beschwerdefähig (vgl. nur Beschlüsse des Bundesfinanzhofs –BFH– vom 18.03.2021 – V B 29/20, BFHE 272, 296, BStBl II 2021, 710, Rz 13, und vom 07.06.2021 – VIII B 123/20, BFHE 272, 345, Rz 7).
2. Die Beschwerde ist jedoch unbegründet. Die Entscheidung des Finanzgerichts (FG), den Klägern und Beschwerdeführern (Kläger) keine Akteneinsicht in den Kanzleiräumen ihres Prozessbevollmächtigten zu gewähren, ist nicht zu beanstanden.
a) Gemäß § 78 Abs. 1 Sätze 1 und 2 FGO in seiner ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung (Art. 22 Nr. 8, Art. 33 Abs. 1 des Gesetzes zur Einführung der elektronischen Akte in der Justiz und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs vom 05.07.2017, BGBl I 2017, 2208) können die Beteiligten die Gerichtsakten und die dem Gericht vorgelegten Akten einsehen und sich durch die Geschäftsstelle auf ihre Kosten Ausfertigungen, Auszüge, Ausdrucke und Abschriften erteilen lassen. Die Akteneinsicht wird, wenn die Prozessakten –wie im Streitfall– in Papierform geführt werden, durch Einsichtnahme in die Akten in Diensträumen gewährt (§ 78 Abs. 3 Satz 1 FGO). Die Akteneinsicht kann, soweit nicht wichtige Gründe entgegenstehen, auch durch die Bereitstellung des Inhalts der Akten zum Abruf gewährt werden (§ 78 Abs. 3 Satz 2 FGO).
Nach der Rechtsprechung des BFH sind Diensträume in diesem Sinne nicht nur die Diensträume des Gerichts, sondern Räumlichkeiten, die vorübergehend oder dauernd dem öffentlichen Dienst zur Ausübung dienstlicher Tätigkeiten dienen und über die ein Träger öffentlicher Gewalt das Hausrecht ausübt. Die Kanzleiräume des Prozessbevollmächtigten der Kläger sind hingegen keine Diensträume i.S. des § 78 Abs. 3 FGO (s. BFH-Beschlüsse vom 04.07.2019 – VIII B 51/19, BFH/NV 2019, 1235, Rz 10, und vom 13.06.2020 – VIII B 149/19, BFH/NV 2020, 1268, Rz 14). Im Hinblick darauf, dass andere Prozessordnungen die grundsätzliche Möglichkeit eröffnen, neben einer Einsichtnahme in Diensträumen auch die Akten zur Einsicht in die Wohnung oder Geschäftsräume des Prozessbevollmächtigten zu übersenden (vgl. § 100 Abs. 3 Satz 3 der Verwaltungsgerichtsordnung; § 120 Abs. 3 Satz 3 des Sozialgerichtsgesetzes; § 32f Abs. 2 Satz 3 der Strafprozessordnung), ist es als bewusste Entscheidung des Gesetzgebers zu werten, diese Weiterung für das finanzgerichtliche Verfahren gerade nicht zu übernehmen (BFH-Beschlüsse in BFH/NV 2019, 1235, Rz 11, m.w.N., und vom 18.03.2021 – V B 29/20, BFHE 272, 296, BStBl II 2021, 710, Rz 16).
b) Entgegen der Auffassung der Kläger liegt auch kein Ausnahmefall vor, der die Gewährung von Akteneinsicht in den Kanzleiräumen ihres Prozessbevollmächtigten zu rechtfertigen vermag.
aa) Die Neufassung des § 78 Abs. 3 Satz 1 FGO schließt nicht jedwede Akteneinsicht außerhalb von Diensträumen aus. Vielmehr bleibt die Übersendung von Akten in die Geschäftsräume eines Prozessbevollmächtigten zum Zwecke der dortigen Einsichtnahme nach wie vor möglich. Sie ist allerdings nicht der Regelfall, sondern auf eng begrenzte Ausnahmefälle beschränkt. Die Entscheidung, Akteneinsicht ausnahmsweise auch außerhalb von Diensträumen zu gewähren, ist eine am Einzelfall zu beurteilende Ermessensentscheidung. Dabei sind die für und gegen eine Aktenversendung sprechenden Interessen gegeneinander abzuwägen, d.h. das dienstliche Interesse an einem geordneten Geschäftsgang einerseits (beispielsweise Gefahr von Aktenverlusten bzw. -beschädigungen oder gar -manipulationen, Schutz von potenziellen Beweismitteln [Steuererklärungen mit Originalbelegen], jederzeitige Verfügbarkeit der Akten sowie Wahrung des Steuergeheimnisses gegenüber Dritten) mit dem Interesse an der Ersparnis von Zeit und Kosten im Falle der Gewährung der Akteneinsicht außerhalb von Diensträumen andererseits. Im Rahmen dieses Abwägungsprozesses ist der vom Gesetzgeber in § 78 Abs. 3 FGO gesteckte Ermessensrahmen und hierbei insbesondere das Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen einer Akteneinsicht in und außerhalb von Diensträumen zu beachten. Hieraus folgt, dass Unbequemlichkeiten, die regelmäßig mit den ungünstigeren Rahmenbedingungen für eine ungestörte Akteneinsicht außerhalb von Kanzleiräumen verbunden sein können (z.B. räumliche Enge, Fahrt- und Zeitaufwand), keine Ausnahme von der Regel des § 78 Abs. 3 Satz 1 FGO nach sich ziehen können (BFH-Beschlüsse in BFH/NV 2019, 1235, Rz 18; vom 28.11.2019 – X B 132/19, BFH/NV 2020, 377, Rz 16, und vom 18.03.2021 – V B 29/20, BFHE 272, 296, BStBl II 2021, 710, Rz 18).
bb) Danach ist der Beschluss des FG, mit dem es die Aktenübersendung in die Kanzleiräume des Prozessbevollmächtigten der Kläger abgelehnt hat, nicht zu beanstanden. Das FG hat die gegen eine Aktenübersendung sprechenden Umstände (überschaubarer Umfang der Gerichtsakte und der Verwaltungsvorgänge mit den Klägern weitgehend bekannten Inhalten, kurze Wegstrecke zwischen der Kanzlei des klägerischen Prozessbevollmächtigten und dem FG, Ablauf der am 25.11.2020 im FG durchgeführten Akteneinsicht) gegen die von den Klägern vorgebrachten Einwände abgewogen. Im Rahmen dieser einzelfallbezogenen Abwägung ist es zu dem Ergebnis gelangt, dass die gegen eine Aktenübersendung sprechenden Umstände trotz der Besonderheiten der bestehenden Pandemielage und der mit ihr einhergehenden Kontaktbeschränkungen sowie der Zugehörigkeit des Prozessbevollmächtigten der Kläger zur sog. Risikogruppe überwiegen. Dabei hat das FG maßgebend auf die getroffenen gerichtsinternen Sicherheitsvorkehrungen (Kontaktreduzierung durch Vorabübersendung eines Auskunftsbogens; Durchführung der Akteneinsicht in einem separaten –regelmäßig gelüfteten– Raum) abgestellt. Dies erweist sich als ermessensfehlerfrei.
cc) Der erkennende Senat hält die von den Klägern im Rahmen ihrer Beschwerdebegründung angeführten Argumente nicht für geeignet, um –im Rahmen seiner eigenen Ermessensausübung– einen Ausnahmefall annehmen zu können. Soweit es sich überhaupt um neue Argumente (und nicht um Wiederholungen oder rechtliche Erwägungen) handelt, greifen diese nicht durch. So hat das FG im Nichtabhilfebeschluss vom 07.06.2021 darauf hingewiesen, dass ein umfassendes Hygiene-Konzept für das gesamte Gerichtsgebäude, das etwa eine Beschränkung der Aufzugskapazität auf eine Person umfasst, umgesetzt worden ist (vgl. auch die aktuellen Hinweise zum „Dienstbetrieb im Haus der Gerichte und Rechtsantragsdienst“ auf der Homepage des FG, abzurufen unter https://justiz.hamburg.de/finanzgericht/). Dass die Beschäftigten des Gerichts dieses Hygiene-Konzept bzw. die sog. AHA-Regeln fortgesetzt nicht einhalten, haben die Kläger nicht substantiiert dargelegt und ist auch sonst nicht ersichtlich. Der Hinweis der Kläger auf den geringen Umfang der Gerichtsakte bzw. der Steuerakten und die Möglichkeit, auf einfache Weise einen Scan zu erstellen, spricht nicht für eine Übersendung der Papierakten in die Kanzleiräume ihrer Prozessbevollmächtigten. Schließlich erscheint das Argument der kurzen Wegstrecke zwischen der Kanzlei und dem FG allein durch den Hinweis der Kläger auf eine Großbaustelle nicht widerlegt. Nach alledem vermag die Beschwerde das dargestellte Regel-Ausnahme-Verhältnis nicht außer Kraft zu setzen.
3. Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 113 Abs. 2 Satz 3 FGO unter Hinweis auf die zutreffenden Gründe des angefochtenen Beschlusses abgesehen.
4. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 135 Abs. 2 FGO.