V R 1/12 – Wirkung des Tabelleneintrags – Kostenpflicht bei Bescheidungsurteil)

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 6.12.2012, V R 1/12

Wirkung des Tabelleneintrags – Kostenpflicht bei Bescheidungsurteil)

Leitsätze

NV: § 178 Abs. 3 InsO ist einschränkend dahingehend auszulegen, dass der Eintragung zur Insolvenztabelle bei Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis dieselbe Wirkung wie der Feststellung gemäß § 185 InsO i. V. m. § 251 Abs. 3 AO beim Bestreiten zukommt und wie diese unter den Voraussetzungen des § 130 AO geändert werden kann.

Tatbestand

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I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist Insolvenzverwalter einer Kommanditgesellschaft (KG), über deren Vermögen durch Beschluss vom 1. März 2004 das Insolvenzverfahren eröffnet wurde. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt –FA–) meldete Umsatzsteuer 2003 zur Insolvenztabelle an. Die Forderung wurde in die Insolvenztabelle eingetragen.
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Am 21. April 2008 reichte der Kläger für die KG eine Umsatzsteuererklärung 2003 beim FA ein, aus der sich ein niedrigerer Steuerbetrag ergab. Eine Änderung des Tabelleneintrags lehnte das FA durch Bescheid vom 26. September 2008 ab, da die rechtskräftige Feststellung zur Tabelle nach § 178 der Insolvenzordnung (InsO) wie ein Urteil wirke und die Voraussetzungen eines Korrekturtatbestandes nach §§ 173, 130 der Abgabenordnung (AO) nicht vorlägen. So komme eine Rücknahme nach § 130 AO nicht in Betracht, da der Schuldner aufgrund des Insolvenzverfahrens nicht günstiger gestellt werden dürfe als er im normalen Veranlagungsverfahren stünde. In der Einspruchsentscheidung vom 17. September 2009 wies das FA darauf hin, dass eine Änderung nach §§ 130 f. AO ausscheide, da es sich weder bei der Anmeldung zur Insolvenztabelle noch bei der Feststellung durch den Insolvenzverwalter um einen Verwaltungsakt handele.
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Auch die Klage zum Finanzgericht (FG) hatte keinen Erfolg. Das FG führte für die Klageabweisung an, dass dem Kläger nach §§ 130 f. AO und §§ 172 f. AO kein Anspruch auf Änderung der Tabellenanmeldung zustehe. Hierfür spreche der eindeutige Wortlaut des § 178 Abs. 3 InsO. Der Kläger könne auch nach §§ 578 ff. der Zivilprozessordnung keine Änderung verlangen.
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Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Revision, die er auf die Verletzung materiellen Rechts stützt. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) sei § 178 Abs. 3 InsO einschränkend auszulegen.
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Der Kläger beantragt,
das Urteil des FG aufzuheben und die ablehnende Entscheidung des FA vom 26. September 2008 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 17. September 2009 aufzuheben und das FA zu verpflichten, über den Antrag des Klägers auf Änderung der widerspruchslos in die Tabelle eingetragenen Umsatzsteuer-Insolvenzforderung gemäß § 130 AO nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden.
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Das FA beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
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§ 178 Abs. 3 InsO lasse nach seinem klaren Wortlaut keinen Raum für eine einschränkende Auslegung. Es sei dem Kläger zumutbar gewesen, der Forderungsanmeldung zu widersprechen. Im Streitfall beruhe die festgestellte Forderung auf einer Schätzung der Jahressteuerschuld. Die Rechtsprechung betreffe demgegenüber nur den Fall, dass sich Beträge aus Umsatzsteuervoranmeldungen durch die Umsatzsteuerjahreserklärung erledigt haben.

Entscheidungsgründe

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II. Die Revision des Klägers ist mit der Maßgabe begründet, dass das Urteil des FG aufzuheben ist und das FA verpflichtet wird, über den Antrag des Klägers auf Änderung der widerspruchslos in die Tabelle eingetragenen Umsatzsteuer-Insolvenzforderung 2003 gemäß § 130 AO nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung –FGO–).
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1. Nach § 178 Abs. 3 InsO wirkt die "Eintragung in die Tabelle … für die festgestellten Forderungen ihrem Betrag und ihrem Rang nach wie ein rechtskräftiges Urteil gegenüber dem Insolvenzverwalter und allen Insolvenzgläubigern".
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Wie der Senat mit Urteil vom 24. November 2011 V R 13/11 (BFHE 235, 137, BStBl II 2012, 298, unter II.4.) entschieden hat, ist § 178 Abs. 3 InsO dahingehend einschränkend auszulegen, dass der Eintragung zur Insolvenztabelle bei Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis dieselbe Wirkung wie der beim Bestreiten vorzunehmenden Feststellung gemäß § 185 InsO i.V.m. § 251 Abs. 3 AO zukommt und wie diese unter den Voraussetzungen des § 130 AO geändert werden kann. Der Senat nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen hierauf Bezug.
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2. Das Urteil des FG, dem bei seiner Entscheidung das Senatsurteil in BFHE 235, 137, BStBl II 2012, 298 nicht bekannt war, entspricht diesen Grundsätzen nicht. Es war daher aufzuheben.
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3. Die Sache ist spruchreif. Das FA hat die nach der Rechtsprechung des Senats erforderliche Ermessensentscheidung noch nicht getroffen, die daher nachzuholen ist.
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a) Wie der erkennende Senat im Urteil in BFHE 235, 137, BStBl II 2012, 298 entschieden hat, hat das FA über den Antrag auf Änderung des Tabelleneintrags nach Maßgabe des § 130 Abs. 1 AO eine Ermessensentscheidung zu treffen. Dass der Gesetzgeber in § 130 Abs. 1 AO die Rücknahme des Verwaltungsakts ungeachtet des Ablaufs der Rechtsbehelfsfrist in das Ermessen der Finanzbehörden gestellt hat, zeigt, dass einerseits nicht jeder als rechtswidrig erkannte belastende Verwaltungsakt zurückzunehmen ist, während es andererseits auch nicht dem Zweck der Ermächtigung zur Ermessensausübung entspricht, das Ermessen grundsätzlich nicht zugunsten der Steuerpflichtigen auszuüben. Bei der Entscheidung, ob einem Begehren auf Rücknahme eines unanfechtbaren Verwaltungsakts zu entsprechen ist, hat die Verwaltung daher im konkreten Fall abzuwägen, ob dem Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Gerechtigkeit im Einzelfall oder dem Interesse der Allgemeinheit am Eintritt von Rechtsfrieden und Rechtssicherheit der Vorzug zu geben ist. Dabei kommt es auf die Schwere und Offensichtlichkeit des Rechtsverstoßes sowie darauf an, weshalb die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts erst nach Ablauf der Rechtsbehelfsfrist vom Steuerpflichtigen geltend gemacht wird (BFH-Urteil in BFHE 235, 137, BStBl II 2012, 298). Deshalb ist das Ermessen durch das FA in der Regel ermessensfehlerfrei ausgeübt, wenn der Adressat die Gründe, die seiner Auffassung nach eine Rücknahme rechtfertigen, mit einem fristgerecht eingelegten Einspruch gegen den Bescheid hätte vorbringen können und keine besonderen Umstände vorliegen, nach denen vom Adressaten die Rechtsverfolgung im Einspruchsverfahren unter Berücksichtigung aller Umstände billigerweise nicht erwartet werden konnte.
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b) Das FA hat in seinem Ablehnungsbescheid vom 26. September 2008 § 130 AO allein deshalb für nicht anwendbar gehalten, weil der Schuldner aufgrund des Insolvenzverfahrens nicht günstiger gestellt werden dürfe als er im normalen Veranlagungsverfahren stünde. Die im Zusammenhang mit der Änderungsbefugnis nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO angestellten Erwägungen sind dabei, auch wenn vergleichbare Kriterien auch bei der Ermessensentscheidung nach § 130 AO von Bedeutung sein können, insoweit nicht zu berücksichtigen, weil das FA die Möglichkeit einer Änderung –wie die Einspruchsentscheidung bestätigt– schlechthin verneint hat. Auch der Einspruchsentscheidung ist keine Ermessensausübung zu entnehmen, da die Anwendung von § 130 AO allein deshalb abgelehnt wurde, weil die Anmeldung zur Insolvenztabelle kein Verwaltungsakt sei.
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c) Damit liegt im Streitfall ebenso wie in dem in BFHE 235, 137, BStBl II 2012, 298 entschiedenen Sachverhalt und anders als in dem vom Senat mit Urteil vom 24. November 2011 V R 20/10 (BFH/NV 2012, 711) entschiedenen Fall keine Ermessensentscheidung vor, die erkennen lässt, dass das FA die den Streitfall betreffenden Ermessensgesichtspunkte gegeneinander abgewogen hat. Diese Ermessensentscheidung ist unter Beachtung des Senatsurteils in BFHE 235, 137, BStBl II 2012, 298 (unter II.5.) nachzuholen. Dabei kann je nach den weiteren Umständen des Streitfalls das Unterbleiben eines Widerspruchs gegen die Forderungsanmeldung ein Gesichtspunkt sein, der es erlaubt, von einer Änderung abzusehen. Allein der Umstand, dass die Forderungsanmeldung auf einer Schätzung beruhte, ist demgegenüber kein Grund, der bei einer unzutreffenden Schätzung die Ablehnung einer Änderung rechtfertigen könnte.
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4. Auf die zwischen den Parteien streitige Frage der Bindungswirkung eines Bestätigungsschreibens war wegen des im Revisionsverfahren auf Verbescheidung eingeschränkten Antrags nicht zu entscheiden.
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5. Der Senat entscheidet gemäß § 90a Abs. 1, § 121 FGO durch Gerichtsbescheid.
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6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 1, § 136 Abs. 1 FGO. Die Kosten des Klageverfahrens waren dem Kläger und dem FA je zur Hälfte aufzuerlegen. Hat –wie im Streitfall– der Kläger mit seinem Verpflichtungsantrag (hier: das FA zur Minderung des Tabelleneintrags entsprechend seiner Er-klärung zu verpflichten) letztlich nur ein Bescheidungsurteil erstritten, ist, wenn –wie hier– keine besonderen Umstände vorliegen, regelmäßig eine Kostenteilung angebracht (BFH-Urteile vom 16. September 1992 X R 169/90, BFH/NV 1993, 510; vom 2. Juni 2005 III R 66/04, BFHE 210, 265, BStBl II 2006, 184). Da der Kläger seinen Antrag im Revisionsverfahren auf Bescheidung beschränkt hat, hat das FA die Kosten des Revisionsverfahrens zu tragen.

Quelle: bundesfinanzhof.de