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II. 1. Einer Entscheidung des Senats steht die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Klägerin durch den Beschluss des Amtsgerichts C vom Februar 2013 nicht entgegen. Das mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens gemäß § 240 ZPO unterbrochene Verfahren ist durch die Klägerin wirksam aufgenommen worden. Sie war hierzu auch berechtigt, da Eigenverwaltung gemäß § 270 Abs. 1 der Insolvenzordnung (InsO) angeordnet und Rechtsanwalt X als Sachwalter bestellt wurde. Da der Insolvenzschuldnerin in diesem Falle die Verwaltungs- und Verfügungsmacht über die Insolvenzmasse verbleibt (§ 270 Abs. 1 Satz 1 InsO), behält diese trotz der Eröffnung des Insolvenzverfahrens die Prozessführungsbefugnis (vgl. Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 7. Dezember 2006 V ZB 93/06, Zeitschrift für Wirtschaftsrecht und Insolvenzpraxis 2007, 249). |
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2. Die Revision der Klägerin ist begründet. Das Urteil des FG war daher aufzuheben und der Klage stattzugeben (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung –FGO–). Das FG hat die Steuerfreiheit der von der Klägerin erbrachten Lieferung von Pocket-Bikes zu Unrecht abgelehnt. |
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Nach § 4 Nr. 1 Buchst. b i.V.m. § 6a Abs. 1 Satz 1 UStG liegt eine steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung vor, wenn bei einer Lieferung die folgenden Voraussetzungen erfüllt sind: |
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"1. Der Unternehmer oder der Abnehmer hat den Gegenstand der Lieferung in das übrige Gemeinschaftsgebiet befördert oder versendet;
2. der Abnehmer ist (…) c) bei der Lieferung eines neuen Fahrzeuges auch jeder andere Erwerber und
3. der Erwerb des Gegenstands der Lieferung unterliegt beim Abnehmer in einem anderen Mitgliedstaat den Vorschriften der Umsatzbesteuerung." |
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3. Die von der Klägerin vertriebenen Pocket-Bikes wurden unstrittig in das übrige Gemeinschaftsgebiet befördert oder versendet (§ 6a Abs. 1 Nr. 1 UStG) und unterliegen dort gemäß Art. 28a Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 77/388/EWG sowie der nationalen Umsetzungsnorm in den jeweiligen Mitgliedstaaten der Umsatzbesteuerung (§ 6a Abs. 1 Nr. 3 UStG). Dass die Gegenstände dort tatsächlich besteuert werden, ist nicht erforderlich (Urteil des Bundesfinanzhofs –BFH– vom 8. November 2007 V R 72/05, BFHE 219, 422, BStBl II 2009, 55, unter II.1.a). |
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Das Erfordernis einer tatsächlichen Besteuerung im Bestimmungsstaat stünde im Widerspruch zur Richtlinie 77/388/EWG, die bewusst auf eine solche innere Verknüpfung verzichtet hat (vgl. Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union –EuGH– vom 27. September 2007 C-409/04 Teleos, Slg. 2007, I-7797 Rdnr. 70). Die Gefahr von Steuerausfällen durch Nichtbesteuerung im Erwerbstaat steht daher der Steuerbefreiung nicht entgegen. |
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4. Bei den von der Klägerin verkauften Pocket-Bikes handelt es sich –entgegen der Ansicht des FG– auch um "neue Fahrzeuge" i.S. von § 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c i.V.m. § 1b UStG. |
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a) Als Fahrzeug definiert § 1b Abs. 2 Nr. 1 UStG "motorbetriebene Landfahrzeuge mit einem Hubraum von mehr als 48 Kubik-zentimetern oder einer Leistung von mehr als 7,2 Kilowatt". Wie das FG auf S. 4 seines Urteils festgestellt hat, liegen diese technischen Voraussetzungen im Streitfall vor. |
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b) Über diese Voraussetzungen hinausgehend verlangt § 1b Abs. 2 Nr. 1 UStG bei richtlinienkonformer Auslegung, dass die Landfahrzeuge "zur Personen- oder Güterbeförderung bestimmt" sind (vgl. Abschn. 15c Satz 2 der Umsatzsteuer-Richtlinien 2005; Abschn. 1b.1 Satz 2 des Umsatzsteuer-Anwendungserlasses; Stadie in Rau/Dürrwächter, Kommentar zum Umsatzsteuergesetz, § 1b Rz 18). Denn unionsrechtliche Grundlage des § 1b UStG war im Streitjahr Art. 28a Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 77/388/EWG. Danach gelten als "Fahrzeuge" im Sinne dieses Abschnitts u.a. "motorbetriebene Landfahrzeuge mit einem Hubraum von mehr als 48 Kubikzentimetern oder einer Leistung von mehr als 7,2 Kilowatt, die zur Personen- oder Güterbeförderung bestimmt sind (…)". |
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Diese Bestimmung wollte der nationale Gesetzgeber mit § 1b UStG umsetzen. Ausweislich der Gesetzesbegründung soll § 1b Abs. 2 UStG auf Art. 28a Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 77/388/EWG beruhen (vgl. BTDrucks 12/2463 vom 27. April 1992, 25). |
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c) Pocket-Bikes sind in diesem Sinne zur Personenbeförderung bestimmt; sie dienen dazu, Personen oder Güter von einem Ort zu einem anderen zu verbringen. Entgegen der Auffassung des FG sind Pocket-Bikes zur Personenbeförderung bestimmt. Dass dabei der sportliche Zweck im Vordergrund steht, ist unschädlich (vgl. Mößlang in Sölch/Ringleb, Umsatzsteuer, § 1b UStG Rz 4; Stadie in Rau/Dürrwächter, Umsatzsteuergesetz, Stand April 2012, § 3a Rz 323; a.A. Rondorf in Schwarz/Widmann/Radeisen, § 1b Rz 27). |
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"Befördern" ist die räumliche Fortbewegung von Personen oder Gegenständen, wobei die Art des Beförderungsmittels nicht von Bedeutung ist (vgl. BFH-Urteile vom 8. September 2011 V R 5/10, BFHE 235, 481, BStBl II 2012, 620, Rz 14; vom 2. März 2011 XI R 25/09, BFHE 233, 348, BStBl II 2011, 737; vom 1. August 1996 V R 58/94, BFHE 181, 208, BStBl II 1997, 160, m.w.N.). Der EuGH hat daher im Urteil vom 15. März 1989 Hamann 51/88 (Slg. 1989, 767 Rdnr. 19) Segelyachten auch dann als Beförderungsmittel i.S. von Art. 9 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 77/388/EWG angesehen, wenn sie zum Zweck der Ausübung des Segelsports genutzt werden. Im Einklang damit steht der Beschluss des XI. Senats vom 8. November 2011 XI B 58/11 (BFH/NV 2012, 282), wonach es sich auch bei Rennsportfahrzeugen um Beförderungsmittel handelt, da diese zur Beförderung von Personen konzipiert und tatsächlich geeignet sind. |
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Da für die umsatzsteuerrechtliche Beurteilung von Fahrzeugen nicht auf das Motiv und den wirtschaftlichen Sinn ihres Einsatzes abzustellen ist, sondern auf ihre tatsächliche Nutzungsmöglichkeit, hält es der Senat nicht für entscheidungserheblich, ob und ggf. in welchem Umfang die Pocket-Bikes auch oder nur zur Durchführung sportlicher Wettkämpfe oder zum Umherfahren auf privatem Gelände genutzt werden. In beiden Fällen geht es um Ortsveränderungen mittels eines Fahrzeugs. Dass die Pocket-Bikes für Erwachsene unbequem sind, spricht nicht gegen ihre Bestimmung zur Ortsveränderung. |
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d) Der Einbeziehung von Pocket-Bikes in den Anwendungsbereich der gesetzlichen Regelungen über den innergemeinschaftlichen Erwerb und die innergemeinschaftliche Lieferung neuer Fahrzeuge steht nicht entgegen, dass Grund für die Sonderregelung die Befürchtung mehrerer Mitgliedstaaten war, es könne –wegen der seinerzeit stark unterschiedlichen Steuersätze in den Mitgliedstaaten– bei einer Besteuerung im Ursprungsland zu Wettbewerbsverzerrungen und Steuerausfällen kommen (vgl. BTDrucks 12/2463, S. 20; Mößlang in Sölch/Ringleb, a.a.O., § 1b Rz 1; Rondorf in Schwarz/Widmann/Radeisen, a.a.O., § 1b Rz 11; Widmann, Umsatzsteuer-Rundschau –UR– 1992, 249, 254). Auch wenn im Hinblick auf den hohen Stückwert von neuen Fahrzeugen und der damit verbundenen besonders empfindlichen Reaktionen auf Steuersatzunterschiede (vgl. Rokos, UR 1992, 89, 96; Georgy, UR 1993, 8) beim Anwendungsbereich in erster Linie an PKW gedacht wurde (Rondorf in Schwarz/Widmann/Radeisen, a.a.O., § 1b Rz 12), so hat eine Einschränkung des Anwendungsbereichs auf derartige Fahrzeuge im Wortlaut des nationalen Rechts und des Unionsrechts keinen Ausdruck gefunden. Aus Gründen der Rechtssicherheit und –klarheit sind vielmehr alle Landfahrzeuge ab der gesetzlich bestimmten Hubraumleistung einbezogen worden, sofern diese zur Personen- oder Güterbeförderung bestimmt sind. Dies steht einer darüber hinausgehenden Einschränkung auf neue Fahrzeuge mit hohem Stückwert oder im Hinblick auf etwaige Wettbewerbsverzerrungen zwischen den Mitgliedstaaten entgegen. |
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5. Das Urteil des FG ist von anderen Grundsätzen ausgegangen und daher aufzuheben. Da nach den Feststellungen des FG die übrigen Voraussetzungen des § 6a Abs. 1 UStG vorliegen, ist die Revision begründet und die Umsatzsteuer dahingehend herabzusetzen, dass die Lieferungen der Pocket-Bikes an Privatpersonen im übrigen Gemeinschaftsgebiet umsatzsteuerfrei sind. |
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6. Eine –vom FA angeregte– EuGH-Vorlage zur Frage, ob es sich bei Pocket-Bikes um zur Personenbeförderung bestimmte Fahrzeuge handelt, hält der Senat nicht für erforderlich. |
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