Verstoß gegen das Gesamtergebnis des Verfahrens nach § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO bei Nichtberücksichtigung eines Verlusts aus der Veräußerung von Aktien – BFH-Beschluss vom 07. Juni 2022, VIII B 67/21

ECLI:DE:BFH:2022:B.070622.VIIIB67.21.0

BFH VIII. Senat

EStG § 20 Abs 6 S 6, EStG § 43a Abs 3 S 4, FGO § 115 Abs 2 Nr 3, FGO § 96 Abs 1 S 1, EStG VZ 2016

vorgehend Finanzgericht Baden-Württemberg , 24. März 2021, Az: 4 K 1912/19

Leitsätze

NV: Eine Entscheidung beruht nicht mehr auf dem Gesamtergebnis des Verfahrens i.S. des § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO, wenn das FG annimmt, es sei nicht aufklärbar, ob ein geltend gemachter Verlust bereits auf Depotebene im Rahmen des Kapitalertragsteuerabzugs berücksichtigt worden ist, obwohl aus dem Beteiligtenvorbringen hervorgeht, dass sich das Kreditinstitut als auszahlende Stelle aufgrund einer bindenden Auffassung der Finanzverwaltung außer Stande gesehen hat, den Verlust anzuerkennen.

Tenor

Auf die Beschwerde der Kläger wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Finanzgerichts Baden-Württemberg vom 24.03.2021 – 4 K 1912/19 aufgehoben.

Die Sache wird an das Finanzgericht Baden-Württemberg zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.

Tatbestand

I.

  1. Die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) sind Eheleute und werden für das Streitjahr 2016 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt.
  2. Der Kläger hatte im Jahr 2009 über ein Depot bei der X Bank Namensaktien der Z AG zu Anschaffungskosten in Höhe von 26.105,15 € erworben. Am 31.10.2016 veräußerte er die Aktien zu einem Börsenkurswert in Höhe von insgesamt 9,04 € weiter, wobei Transaktionskosten in gleicher Höhe anfielen. Die X Bank berücksichtigte den aus der Veräußerung entstandenen Verlust in Höhe von 26.105,15 € ‑‑in Übereinstimmung mit dem Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) vom 18.01.2016 – IV C 1-S 2252/08/10004:017 (BStBl I 2016, 85, Rz 59), nunmehr ersetzt durch BMF-Schreiben vom 10.05.2019 – IV C 1-S 2252/08/10004:026 (BStBl I 2019, 464)‑‑ nicht.
  3. In ihrer Einkommensteuererklärung für das Streitjahr erklärten die Kläger den Verlust aus der Veräußerung der Aktien in Höhe von 26.105 € bei den Einkünften aus Kapitalvermögen des Klägers. Daneben gaben sie u.a. positive Kapitalerträge des Klägers an, die nicht aus Gewinnen aus der Veräußerung von Aktien bestanden. Der Beklagte und Beschwerdegegner (Finanzamt ‑‑FA‑‑) berücksichtigte den geltend gemachten Verlust im Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr vom 03.12.2018 nicht.
  4. Der Einspruch der Kläger hatte keinen Erfolg. Die erhobene Klage wies das Finanzgericht (FG) Baden-Württemberg mit Urteil vom 24.03.2021 – 4 K 1912/19 ab.
  5. Mit der Beschwerde rügen die Kläger das Vorliegen von Verfahrensmängeln in Gestalt eines Verstoßes gegen § 76 Abs. 1 Satz 1 sowie gegen § 96 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO).
  6. Das FA hält die Beschwerde für unbegründet.

Entscheidungsgründe

II.

  1. Die Beschwerde ist begründet. Sie führt gemäß § 116 Abs. 6 FGO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.
  2. 1. Es liegt ein Verfahrensfehler i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO in Gestalt eines Verstoßes gegen den klaren Inhalt der Akten vor, auf dem das Urteil beruhen kann.
  3. a) Zum Gesamtergebnis des Verfahrens i.S. des § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO gehört auch die Auswertung des Inhalts der dem Gericht vorliegenden Akten (Urteil des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 09.10.1985 – I R 163/82, BFH/NV 1986, 288). Ein Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten und damit eine Verletzung des § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO ist gegeben, wenn das FG seiner Entscheidung einen Sachverhalt zugrunde gelegt hat, der dem schriftlichen oder protokollierten Vorbringen der Beteiligten nicht entspricht, oder wenn es eine nach den Akten klar feststehende Tatsache unberücksichtigt gelassen hat und die angefochtene Entscheidung darauf beruht (BFH-Beschlüsse vom 18.03.2021 – VIII B 76/20, BFH/NV 2021, 1076, und vom 09.02.2000 – VIII B 67/99, BFH/NV 2000, 966).
  4. b) Danach hat das FG seiner Beurteilung, der Aktienveräußerungsverlust des Klägers sei schon deshalb nicht steuerbar, weil der Kläger keine Verlustbescheinigung i.S. des § 43a Abs. 3 Satz 4 i.V.m. § 20 Abs. 6 Satz 6 des Einkommensteuergesetzes (EStG) vorgelegt habe und es aufgrund des klägerischen Vorbringens nicht aufklärbar sei, ob bereits auf Depotebene im Rahmen des Kapitalertragsteuerabzugs eine Verlustberücksichtigung erfolgt sei, Feststellungen zugrunde gelegt, die dem schriftlichen Vorbringen der Kläger und dem Akteninhalt nicht entsprechen. Denn die Kläger hatten im Klageverfahren mehrfach zum Ausdruck gebracht, eine Verlustbescheinigung könne von ihnen nicht vorgelegt werden, weil die X Bank den erzielten Verlust als einkommensteuerrechtlich unbeachtlich angesehen und deshalb nicht berücksichtigt habe (vgl. z.B. den Schriftsatz der Kläger vom 20.03.2020). Zugleich hatten die Kläger sinngemäß geltend gemacht, die Finanzverwaltung habe einen Ausgleich der Verluste mit positiven Einkünften bzw. die Erteilung einer Bescheinigung über die Höhe eines nicht ausgeglichenen Verlusts durch die depotführende Bank „verboten“ (vgl. den Schriftsatz der Kläger vom 17.01.2020). Dieses Vorbringen der Kläger musste vom FG dahin verstanden werden, dass eine Berücksichtigung des geltend gemachten Verlusts durch die X Bank auf der Grundlage der von der Finanzverwaltung vertretenen Auffassung abgelehnt worden war und die X Bank der Auffassung war, sie dürfe aus steuerrechtlichen Gründen auch keine Verlustbescheinigung erteilen. Gleichwohl ging das FG in der angefochtenen Entscheidung entgegen diesem Vorbringen der Kläger davon aus, es liege kein Fall einer Berufung der depotführenden Bank auf eine gemäß § 44 Abs. 1 Satz 3 EStG bindende veröffentlichte Auffassung der Finanzverwaltung (vgl. Rz 59 des BMF-Schreibens in BStBl I 2016, 85) vor, dass der erzielte Verlust einkommensteuerrechtlich unbeachtlich sei. Gegenstand des Verfahrens war auch die von den Klägern vorgelegte Abrechnung über den Verkauf von Wertpapieren vom 31.10.2016, aus der ersichtlich war, dass das Entgelt, zu dem die Aktien vom Kläger veräußert worden waren, die tatsächlichen Transaktionskosten nicht überstiegen hatte.
  5. c) Das angefochtene Urteil kann auf dem Verfahrensmangel beruhen i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO. Denn es ist nach dem maßgeblichen rechtlichen Standpunkt des FG möglich, dass das FG bei vollständiger Berücksichtigung des Akteninhalts hinsichtlich der Frage, ob § 20 Abs. 6 Satz 6 EStG der geltend gemachten Verlustberücksichtigung entgegensteht, zu einer anderen Entscheidung gelangen könnte.
  6. Diese Vorschrift, nach der Verluste aus Kapitalvermögen, die der Kapitalertragsteuer unterliegen, nur verrechnet werden dürfen, wenn eine Bescheinigung der auszahlenden Stelle i.S. des § 43a Abs. 3 Satz 4 EStG vorliegt, dient der Verhinderung eines doppelten Verlustabzugs. Berücksichtigt man, dass die X Bank ‑‑aufgrund des bindenden BMF-Schreibens in BStBl I 2016, 85‑‑ im Rahmen des Kapitalertragsteuerabzugs keinen steuerbaren Veräußerungsverlust i.S. des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und Abs. 4 Satz 1 EStG annehmen und in einen Verlustverrechnungstopf (§ 43a Abs. 3 Sätze 2 und 3 EStG) einstellen durfte, ist eine mehrfache Berücksichtigung des geltend gemachten Verlusts ausgeschlossen. Nach der Rechtsprechung des BFH, von der auch das FG in der angefochtenen Entscheidung ausgegangen ist (vgl. BFH-Urteil vom 12.06.2018 – VIII R 32/16, BFHE 262, 74, BStBl II 2019, 221, m.w.N.), wäre es reiner Formalismus, in diesem Fall für die Verlustverrechnung im Rahmen der Veranlagung eine Bescheinigung i.S. des § 20 Abs. 6 Satz 6 EStG zu verlangen.
  7. 2. Für den zweiten Rechtsgang weist der Senat darauf hin, dass die Kläger den Einkommensteuerbescheid anfechten müssen, sofern sie eine Verrechnung der Aktienveräußerungsverluste des Klägers mit den veranlagten Einkünften aus Kapitalvermögen, die nicht aus Aktienveräußerungsgewinnen bestehen, erreichen wollen (vgl. hierzu BFH-Beschluss vom 17.11.2020 – VIII R 11/18, BFHE 271, 399, BStBl II 2021, 562). Die Kläger wären durch den Einkommensteuerbescheid aber auch dann beschwert, wenn ihr Klagebegehren lediglich darauf gerichtet sein sollte, die geltend gemachten Verluste gemäß § 20 Abs. 6 Satz 4 i.V.m. § 10d Abs. 4 Satz 4 EStG im Rahmen der gesonderten Verlustfeststellung zu berücksichtigen, auch wenn sich in diesem Fall durch die begehrte Verlustberücksichtigung keine Auswirkungen auf die Höhe der Einkommensteuerfestsetzung für das Streitjahr ergeben könnte. Denn mit der sinngemäßen Anwendung des § 10d Abs. 4 Satz 4 EStG wird hinsichtlich der für die Verlustverrechnung gemäß § 20 Abs. 6 Satz 4 EStG maßgeblichen Besteuerungsgrundlagen eine inhaltliche Bindung des Verlustfeststellungsbescheids an den Einkommensteuerbescheid erreicht. Im Feststellungsverfahren des verbleibenden Verlustvortrags sind deshalb die Einkünfte nicht eigenständig zu ermitteln. Die Kläger müssen den Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr hinsichtlich der Kapitaleinkünfte anfechten, um die aus § 20 Abs. 6 Satz 4 i.V.m. § 10d Abs. 4 Satz 4 EStG folgende negative Bindungswirkung des Einkommensteuerbescheids für die Verlustfeststellung auf den 31.12.2016 abzuwehren (vgl. BFH-Urteile vom 03.12.2019 – VIII R 8/16, BFHE 267, 225, BStBl II 2020, 383; vom 09.05.2017 – VIII R 40/15, BFHE 258, 335, BStBl II 2017, 1049, und vom 23.11.2021 – VIII R 22/18, zur amtlichen Veröffentlichung bestimmt, Rz 23).
  8. 3. Der Senat hält es für angezeigt, nach § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren und das Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.
  9. 4. Da die Kläger das FG-Urteil ausschließlich wegen der Nichtberücksichtigung des geltend gemachten Aktienveräußerungsverlusts angegriffen haben und insoweit bereits der von ihnen geltend gemachte Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten zur Aufhebung und Zurückverweisung der Sache an das FG führt, muss der Senat nicht darüber entscheiden, ob auch der weitere von den Klägern gerügte Verfahrensmangel vorliegt.
  10. 5. Die Übertragung der Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.