VI R 39/15 – Regelmäßige Arbeitsstätte eines Beamten der Wasserschutzpolizei

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 29.11.2016, VI R 39/15
ECLI:DE:BFH:2016:U.291116.VIR39.15.0

Regelmäßige Arbeitsstätte eines Beamten der Wasserschutzpolizei

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Niedersächsischen Finanzgerichts vom 17. Juni 2015  4 K 192/14 wird als unbegründet zurückgewiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der Beklagte zu tragen.

Tatbestand

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I. Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) sind Ehegatten, die für das Streitjahr (2011) zur Einkommensteuer zusammen veranlagt wurden. Der Kläger erzielte als Beamter der Wasserschutzpolizei Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit.
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Der Kläger war in den X-Häfen als Gefahrgutkontrolleur im See- und Landverkehr eingesetzt. Die Inspektion der Wasserschutzpolizei, die der Kläger arbeitstäglich von seiner Wohnung aus anfuhr, befand sich in den X-Häfen. Den überwiegenden Teil seiner Kontrolltätigkeit verrichtete der Kläger im Außendienst auf einem Fahrzeug. Der Außendienst betrug im Regelfall sechs bis sieben Stunden täglich. Der Kläger nahm die Gefahrgutkontrollen an den jeweiligen Schiffsliegeplätzen vor. Dort erledigte er auch verschiedene Verwaltungstätigkeiten, z.B. die Anordnung von Sicherheitsleistungen und Auslaufverboten, die Ausstellung von Bescheinigungen über Gefahrgutkontrollen, die Anordnung von Maßnahmen zur Gefahrbeseitigung, die Überwachung der Durchführung entsprechender Maßnahmen und die Erhebung von Verwarnungsgeldern. In der Inspektion der Wasserschutzpolizei plante der Kläger die anstehenden Gefahrgutkontrollen, bearbeitete umfangreiche Anzeigen und erfasste zur Schichtübergabe schriftlich die Kontrollergebnisse.
3 
In der Einkommensteuererklärung für das Streitjahr machte der Kläger Aufwendungen für die Fahrten zwischen seiner Wohnung und der Inspektion der Wasserschutzpolizei nach Dienstreisegrundsätzen geltend (223 Tage x 26 km x 0,30 EUR/km = 1.739,40 EUR). Außerdem begehrte er für 223 Arbeitstage den Abzug von Verpflegungsmehraufwendungen in Höhe von 6 EUR pro Tag, insgesamt 1.388 EUR.
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Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt –FA–) berücksichtigte die Aufwendungen für die Fahrten zwischen Wohnung und Wasserschutzpolizei-Inspektion nur in Höhe der Entfernungspauschale. Die geltend gemachten Verpflegungsmehrauf-wendungen erkannte das FA nicht an. Das Vorverfahren verlief im Streitpunkt erfolglos.
5 
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte 2015, 1687 veröffentlichten Gründen hingegen statt.
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Mit der Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts.
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Das FA beantragt sinngemäß,
das Urteil des Niedersächsischen FG vom 17. Juni 2015  4 K 192/14 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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Die Kläger beantragen,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

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II. Die Revision des FA ist unbegründet und daher zurückzuweisen
(§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung –FGO–). Die Entscheidung des FG, dass die Aufwendungen des Klägers für die Fahrten von seiner Wohnung zu der Inspektion der Wasserschutzpolizei in tatsächlicher Höhe sowie die geltend gemachten Verpflegungsmehraufwendungen als Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit zu berücksichtigen sind, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
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1. Beruflich veranlasste Fahrtkosten sind Erwerbsaufwendungen und gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) in Höhe des dafür tatsächlich entstandenen Aufwands als Werbungskosten zu berücksichtigen. Erwerbsaufwendungen sind grundsätzlich auch die Aufwendungen des Arbeitnehmers für Wege zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte. Allerdings sind die Aufwendungen dafür nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG in der im Streitjahr geltenden Fassung nur begrenzt nach Maßgabe einer Entfernungspauschale als Werbungskosten zu berücksichtigen.
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2. Mehraufwendungen für die Verpflegung des Steuerpflichtigen sind nach § 9 Abs. 5 EStG i.V.m. § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 5 Satz 1 EStG grundsätzlich nicht als Werbungskosten abziehbar. Wird der Steuerpflichtige jedoch vorübergehend von seiner Wohnung und dem Mittelpunkt seiner dauerhaft angelegten beruflichen Tätigkeit entfernt beruflich tätig, so ist nach Satz 2 der Vorschrift für jeden Kalendertag, an dem der Steuerpflichtige wegen dieser vorübergehenden Tätigkeit von seiner Wohnung und seinem Tätigkeitsmittelpunkt über eine bestimmte Dauer abwesend ist, ein nach dieser Dauer gestaffelter Pauschbetrag abzuziehen.
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3. Tätigkeitsmittelpunkt i.S. des § 9 Abs. 5 EStG i.V.m. § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 5 Satz 2 EStG und (regelmäßige) Arbeitsstätte i.S. des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG ist die dauerhafte betriebliche Einrichtung des Arbeitgebers, der der Arbeitnehmer zugeordnet ist und die er nachhaltig, fortdauernd und immer wieder aufsucht. Das ist regelmäßig der Betrieb, Zweigbetrieb oder eine Betriebsstätte des Arbeitgebers (Senatsurteil vom 26. Februar 2014 VI R 68/12, BFH/NV 2014, 1029, und Senatsbeschluss vom 9. November 2015 VI R 8/15, BFH/NV 2016, 196, jeweils m.w.N.; Schmidt/Loschelder, EStG, 35. Aufl., § 9 Rz 186, m.w.N.).
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4. Eine (regelmäßige) Arbeitsstätte ist allerdings nicht jeder beliebige Tätigkeitsort, sondern der Ort, an dem der Arbeitnehmer typischerweise seine Arbeitsleistung im Schwerpunkt zu erbringen hat. Insoweit ist entscheidend, wo sich der ortsgebundene Mittelpunkt der beruflichen Tätigkeit eines Arbeitnehmers befindet. Dort liegt die eine regelmäßige Arbeitsstätte, die ein Arbeitnehmer nur haben kann. Dieser Mittelpunkt der dauerhaft angelegten beruflichen Tätigkeit bestimmt sich nach den qualitativen Merkmalen der Arbeitsleistung, die der Arbeitnehmer an dieser Arbeitsstätte im Einzelnen wahrnimmt oder wahrzunehmen hat, sowie nach dem konkreten Gewicht dieser dort verrichteten Tätigkeit (Senatsurteile vom 19. Januar 2012 VI R 36/11, BFHE 236, 353, BStBl II 2012, 503, und VI R 32/11, BFH/NV 2012, 936, sowie vom 9. Juni 2011 VI R 55/10, BFHE 234, 164, BStBl II 2012, 38; VI R 36/10, BFHE 234, 160, BStBl II 2012, 36, und VI R 58/09, BFHE 234, 155, BStBl II 2012, 34).
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Nach ständiger Senatsrechtsprechung kommt auch ein größeres, räumlich geschlossenes Gebiet als regelmäßige Arbeitsstätte i.S. des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG (und damit beim Verpflegungsmehraufwand als Tätigkeitsmittelpunkt i.S. des § 9 Abs. 5 EStG i.V.m. § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 5 Satz 2 EStG) in Betracht, wenn es sich um ein zusammenhängendes Gelände des Arbeitgebers handelt, auf dem der Arbeitnehmer auf Dauer und mit einer gewissen Nachhaltigkeit tätig wird (Senatsurteil vom 10. März 2015 VI R 87/13, BFH/NV 2015, 1084, m.w.N.). Unter diesen Voraussetzungen kann z.B. auch ein Werksgelände eine großräumige (regelmäßige) Arbeitsstätte bzw. einen Tätigkeitsmittelpunkt darstellen (Senatsurteile vom 18. Juni 2009 VI R 61/06, BFHE 226, 59, BStBl II 2010, 564, bezüglich des Gewinnungsreviers eines Kaliwerks, und in BFH/NV 2015, 1084, bezüglich eines firmeneigenen Schienennetzes; s.a. Schmidt/Loschelder, a.a.O., § 9 Rz 187, m.w.N.).
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5. Die Vorentscheidung entspricht diesen Rechtsgrundsätzen. Nach dem vom FG –für den Senat bindend (§ 118 Abs. 2 FGO)– festgestellten Sachverhalt befand sich der qualitative Schwerpunkt der vom Kläger ausgeübten Berufstätigkeit als Gefahrgutkontrolleur bei der Wasserschutzpolizei nicht in der Polizeiinspektion. Der Kläger war vielmehr schwerpunktmäßig an den jeweiligen Schiffsliegeplätzen tätig. Dort nahm er die Kontrollen der Schiffe vor und überwachte die Einhaltung der Gefahrguttransportbestimmungen. Die berufliche Tätigkeit des Klägers an den Schiffsliegeplätzen beinhaltete auch verschiedene Verwaltungstätigkeiten, die mit den Gefahrgutkontrollen zusammenhingen, wie z.B. die Erteilung von Durchsuchungsbescheinigungen, die Verhängung von Sanktionen bei festgestellten Verstößen, die Anordnung von Maßnahmen zur Beseitigung von Gefahren und die Überwachung der Durchführung entsprechender Maßnahmen zur Gefahrenabwehr. Demgegenüber beschränkte sich die in der Inspektion der Wasserschutzpolizei ausgeübte Berufstätigkeit des Klägers im Wesentlichen auf die Vorplanung der jeweiligen Kontrollen, Schichtübergaben und die Bearbeitung umfangreicher Anzeigen.
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Das Einsatzgebiet des Klägers in den X-Häfen stellte –entgegen der Ansicht des FA– auch keine großräumige (regelmäßige) Arbeitsstätte dar. Denn bei den Hafengebieten handelte es sich nach den Feststellungen des FG nicht um eine dauerhafte, betriebliche Einrichtung des Arbeitgebers des Klägers. Solches behauptet das FA auch selbst nicht. Der Umstand, dass sich im Hafengebiet mit der Inspektion der Wasserschutzpolizei eine betriebliche Einrichtung des Arbeitgebers befand, reicht –entgegen der Ansicht des FA– bei dieser Sachlage nicht aus, um das Hafengebiet selbst als eine großräumige regelmäßige Arbeitsstätte anzusehen.
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6. Der Kläger begründete in der Wasserschutzpolizei-Inspektion auch nicht deshalb eine regelmäßige Arbeitsstätte, weil er diese betriebliche Einrichtung seines Arbeitgebers nachhaltig (arbeitstäglich) aufsuchte. Zwar war es dem Kläger im vorliegenden Fall möglich, sich auf die Wegekosten einzustellen und auf deren Minderung hinzuwirken. Dies vermag den Streitfall aber nicht aus dem Regeltypus einer "Auswärtstätigkeit" (Leistungsort außerhalb des Betriebs oder der Betriebsstätte des Arbeitgebers) herauszulösen. Die Vorhersehbarkeit wechselnder Tätigkeitsstätten und die Möglichkeit, Wegekosten zu mindern, sind keine Tatbestandsmerkmale der in § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG geregelten Entfernungspauschale. Der Umstand, dass sich der Arbeitnehmer in unterschiedlicher Weise auf die immer gleichen Wege einstellen und so auf eine Minderung der Wegekosten etwa durch die Bildung von Fahrgemeinschaften, die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel und gegebenenfalls sogar durch eine entsprechende Wohnsitznahme hinwirken kann, beschreibt lediglich generalisierend und typisierend den Regelfall, nach dem sich die Regelung des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG als sachgerechte und folgerichtige Ausnahme vom objektiven Nettoprinzip erweist (Senatsurteil vom 17. Juni 2010 VI R 35/08, BFHE 230, 147, BStBl II 2010, 852, m.w.N.). Individuelle Zufälligkeiten und Besonderheiten in der tatsächlichen Ausgestaltung eines Arbeitsverhältnisses bleiben hierbei unberücksichtigt (Senatsurteile vom 6. November 2014 VI R 21/14, BFHE 247, 427, BStBl II 2015, 338, und vom 15. Mai 2013 VI R 18/12, BFHE 241, 374, BStBl II 2013, 838, m.w.N.).
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7. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 2 FGO.

Quelle: bundesfinanzhof.de