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Die Beschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung gemäß § 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung (FGO). |
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Das FG hat gegen den klaren Inhalt der Akten nach § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO verstoßen, indem es Hinweise in der Klageschrift vom 25. Oktober 2017, wonach die Einspruchsentscheidungen erst am 26. September 2017 zugegangen seien, nicht gewürdigt hat, obwohl hierzu Anlass bestand (unten 1.). Zudem liegt der vom Kläger geltend gemachte Verfahrensmangel, das FG habe den Postlauf der Briefe mit den Einspruchsentscheidungen weiter aufklären müssen, aufgrund der besonderen Umstände des Streitfalls vor (unten 2.). Die Entscheidung kann jeweils auf diesen Verfahrensmängeln beruhen (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO). |
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1. Das FG hat gegen den klaren Inhalt der Akten verstoßen. |
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a) Nach § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 FGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Zum Gesamtergebnis des Verfahrens gehört auch die Auswertung des Inhalts der dem Gericht vorliegenden Akten. Ein Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten liegt insbesondere dann vor, wenn das FG eine nach Aktenlage feststehende Tatsache, die richtigerweise in die Beweiswürdigung hätte einfließen müssen, unberücksichtigt lässt oder seiner Entscheidung einen Sachverhalt zugrunde legt, der dem protokollierten Vorbringen der Beteiligten nicht entspricht (vgl. Senatsbeschlüsse vom 17. März 2010 – X B 95/09, BFH/NV 2010, 1827, Rz 5, und vom 22. März 2011 – X B 151/10, BFH/NV 2011, 1165, Rz 11). |
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b) Diese Voraussetzungen sind im Streitfall gegeben. Aus zwei in den Akten enthaltenen Faxprotokollen (FG-Akte Bl. 84 und 85) ergibt sich zweifelsfrei, dass B versucht hat, die Klageschrift per Telefax am 25. Oktober 2017 zu übersenden. Bereits zu diesem Zeitpunkt, als B davon ausgehen konnte, dass die Klageschrift fristgerecht am 25. Oktober 2017 beim FG eingeht, wurde in der Klageschrift darauf hingewiesen, dass die Einspruchsentscheidungen B (erst) am 26. September 2017 zugegangen seien. Zu diesem Zeitpunkt bestand kein Anlass, hinsichtlich der Einspruchsentscheidungen ein nicht korrektes Zugangsdatum anzugeben. Diese Tatsache hätte das FG in seine Würdigung, ob Zweifel an der Zugangsvermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO bestehen, miteinbeziehen müssen. Es hat jedoch diesen Umstand unberücksichtigt gelassen und ausschließlich darauf abgestellt, dass der Kläger keinen Briefumschlag mit Poststempel vorgelegt hat. |
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c) Das angefochtene Urteil kann auch auf diesem Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten beruhen. Hätte das FG den Umstand berücksichtigt, dass der Kläger bereits mit versuchter Übersendung der Klageschrift am 25. Oktober 2017 darauf hingewiesen hat, dass die Einspruchsentscheidungen erst am 26. September 2017 zugegangen seien, wäre es möglicherweise im Rahmen seiner Würdigung zu dem Ergebnis gelangt, dass die Zugangsvermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO im Streitfall erschüttert ist. Wären die Einspruchsentscheidungen –wie vom Kläger vorgetragen– am 26. September 2017 bekannt gegeben worden, hätte er entgegen der Entscheidung des FG fristgerecht Klage erhoben. |
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2. Das FG hat ferner seine von Amts wegen bestehende Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung (§ 76 Abs. 1 Satz 1 FGO) verletzt, weil es nicht abschließend aufgeklärt hat, ob der Briefumschlag mit den Einspruchsentscheidungen erst am 26. September 2017 bei B eingegangen ist. Zwar hat der Kläger den Briefumschlag nicht vorgelegt, doch vermag der Senat nicht nachzuvollziehen, warum der Eingangsstempel auf den Einspruchsentscheidungen und die Eintragungen in ein als revisionssicher beschriebenes DATEV-System bei deren Eingang, (gerade) auch in Verbindung mit der unstreitig bereits am 25. Oktober 2017 versuchten Übermittlung der Klageschrift, ohne weitere Aufklärung des Sachverhalts nicht geeignet sein soll, Zweifel am Zugang innerhalb der Dreitagesfrist des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO (i.V.m. § 365 Abs. 1 AO) zu begründen. |
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a) Soweit das FG auf die Vorlage des Briefumschlages bestanden hat, hat es unter Anwendung der höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl. nur Beschluss des Bundesfinanzhofs –BFH– vom 19. Januar 2012 – IV B 9/11, BFH/NV 2012, 697) seine Zweifel daran ausschließen wollen, dass B (erst) nachträglich den Eingangsstempel mit dem Datum des 26. September 2017 auf den Einspruchsentscheidungen angebracht hat. Unabhängig davon, dass der Briefumschlag zunächst einmal nur den Abgang der Schreiben am 20. September 2017 dokumentieren kann, sind im hier zu entscheidenden Rechtsstreit die weiteren Umstände der Organisation des Posteingangs bei B zu beachten. Diese sind, da sie nicht von vornherein auf eine Manipulation ausgerichtet sind, jedenfalls grundsätzlich nicht ungeeignet, das Datum des Eingangsstempels zu bestätigen. Dafür kann außerdem sprechen, dass B versuchte, die Klage nicht am letzten Tag der von ihm berechneten Klagefrist einzureichen, sondern (ggf. aus Gründen der prozessualen Vorsicht) am Vortag. |
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Ohne weitere Sachaufklärung der Art der Bearbeitung des Posteingangs bei B von einem verspäteten oder gar nachträglichen Anbringen des Poststempels auszugehen, ggf. aufgrund eines organisatorischen Versehens auf Empfängerseite, erscheint hier weder zwingend noch wird es der Struktur der Zugangsregelung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO gerecht. Das FG hat folglich, etwa durch Vernehmung der für den Posteingang zuständigen Mitarbeiter von B, den typischen und, soweit noch möglich, tatsächlichen Geschehensablauf dort bei Eingang von Verwaltungsakten der Finanzbehörde aufzuklären. |
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b) Die Frage, wie der Posteingang bei B bearbeitet wurde, ist im Streitfall entscheidungserheblich. Denn wären die Einspruchsentscheidungen an dem Tag, an dem der Eingangsstempel auf ihnen angebracht worden ist, in ein revisionssicheres elektronisches Erfassungssystem eingegeben worden, wäre von einem Eingang an diesem Tag auszugehen. Folglich wären die Einspruchsentscheidungen am 26. September 2017 bekannt gegeben worden. Die Klagefrist wäre gemäß § 47 Abs. 1 Satz 1 FGO am Donnerstag, dem 26. Oktober 2017 abgelaufen. Die vom Kläger per Faxschreiben an diesem Tag eingelegte Klage wäre fristgerecht. |
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c) Aus Sicht des Senats ist diese weitere Sachverhaltsaufklärung zumindest auch möglich. Zum einen ist nicht von vornherein auszuschließen, dass sich ein Mitarbeiter von B an den Eingang dieser Einspruchsentscheidungen erinnert. Zum anderen könnte, wie es das FG übrigens für den Fall des Abgangs der Einspruchsentscheidungen durch Vernehmung des Vertreters des FA in der mündlichen Verhandlung gemacht hat, aufgrund des typischen Verlaufs solcher Arbeitsvorgänge auf das zeitgerechte Anbringen des Eingangsstempels geschlossen werden. |
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d) In Bezug auf den dargelegten Sachaufklärungsmangel hat der Kläger sein Rügerecht nach § 155 FGO i.V.m. § 295 der Zivilprozessordnung (ZPO) nicht verloren. |
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aa) Zwar ist die Verletzung der aus § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO folgenden Sachaufklärungspflicht ein verzichtbarer Verfahrensmangel (§ 155 FGO i.V.m. § 295 ZPO), bei dem das Rügerecht nicht nur durch eine ausdrückliche oder konkludente Verzichtserklärung gegenüber dem FG verloren geht, sondern auch durch das bloße Unterlassen einer rechtzeitigen Rüge untergehen kann (vgl. insoweit nur Senatsbeschluss vom 21. Juli 2017 – X B 167/16, BFH/NV 2017, 1447, Rz 8, m.w.N.). |
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bb) Ein Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht liegt aber trotz einer ggf. unterlassenen Rüge vor, wenn das FG eine konkrete Möglichkeit, den von seinem Rechtsstandpunkt aus entscheidungserheblichen Sachverhalt aufzuklären, nicht genutzt hat, obwohl sich ihm die Notwendigkeit der weiteren Aufklärung auch ohne Antrag nach Lage der Akten und dem Ergebnis der Verhandlung hätte aufdrängen müssen (vgl. u.a. Senatsbeschluss in BFH/NV 2010, 1827). Ein solcher Fall liegt jedenfalls dann vor, wenn das FG wie hier die näheren Umstände des Posteingangs im Fall eines revisionssicheren Erfassungsverfahrens nicht weiter aufklärt, sondern lediglich von einem Versehen des Prozessbevollmächtigen ausgeht. |
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3. Der Senat hält es für angezeigt, nach § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen. |
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a) Für das weitere Verfahren weist der Senat –ohne Bindungswirkung für das FG– daraufhin, dass zwar der Abgang des Briefumschlags mit den Einspruchsentscheidungen wie vom Vertreter des FA beschrieben, am Tag, der als Postabgang vermerkt worden ist, feststehen kann, dies aber nicht automatisch dazu führt, dass die Bekanntgabe beim Empfänger zwingend innerhalb der Dreitagesfrist nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO geschehen sein muss, wenn jedenfalls ein privater Postzusteller in den Zustellvorgang eingebunden worden ist (vgl. auch BFH-Urteil vom 14. Juni 2018 – III R 27/17, BFHE 262, 193, BStBl II 2019, 16, Rz 14). Auch ist im Rahmen einer Gesamtwürdigung des Sachverhalts die versuchte Übersendung der Klageschrift am 25. Oktober 2017 zu beachten. |
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b) Zwar ist das FG –auch im zweiten Rechtsgang– in seiner Beweiswürdigung frei. Es muss dabei aber jedenfalls die gesetzlichen Regelungen über die Verteilung der Feststellungslast erkennen lassen. Hierzu ordnet § 122 Abs. 2 Halbsatz 2 AO an, dass im Zweifel die Behörde den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen hat. Bestreitet der Steuerpflichtige nicht den Zugang des Schriftstücks überhaupt, sondern behauptet er lediglich, es nicht innerhalb des Dreitageszeitraums des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO erhalten zu haben, hat er sein Vorbringen im Rahmen des Möglichen zu substantiieren, um Zweifel an der Dreitagesvermutung zu begründen. Er muss Tatsachen vortragen, die den Schluss zulassen, dass ein anderer Geschehensablauf als der typische –Zugang binnen dreier Tage nach Aufgabe zur Post– ernstlich in Betracht zu ziehen ist. Es genügt nicht schon einfaches Bestreiten, um die gesetzliche Vermutung über den Zeitpunkt des Zugangs des Schriftstücks zu entkräften. Es müssen vielmehr Zweifel berechtigt sein, sei es nach den Umständen des Falles, sei es nach dem schlüssigen oder jedenfalls vernünftig begründeten Vorbringen des Steuerpflichtigen (so zuletzt BFH-Urteil in BFHE 262, 193, BStBl II 2019, 16, Rz 9). |
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c) Das Erfordernis eines substantiierten Tatsachenvortrags darf allerdings nicht dazu führen, dass die Regelung über die objektive Beweislast, die nach dem Gesetz die Behörde trifft, zu Lasten des Steuerpflichtigen umgekehrt wird (BFH-Urteil vom 11. Juli 2017 – IX R 41/15, BFH/NV 2018, 185, Rz 18, m.w.N.). Das FG hat sodann "nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung" die Frage zu beantworten, ob "Zweifel" daran bestehen, dass die Einspruchsentscheidungen innerhalb der Dreitagesfrist zugegangen sind oder nicht. Ist trotz Sachaufklärung keine Überzeugungsbildung möglich, muss auf die Beweislastregel des § 122 Abs. 2 Halbsatz 2 AO zurückgegriffen werden (s. BFH-Urteil in BFH/NV 2018, 185, Rz 19). |
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4. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO. |
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5. Von einer weiteren Darstellung des Sachverhalts sowie einer weiteren Begründung sieht der Senat gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 FGO ab. |
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