X B 221-222/12 – Ausnahmsweise Anspruch auf Aktenübersendung in die Kanzlei des in seiner Beweglichkeit erheblich eingeschränkten Prozessbevollmächtigten

BUNDESFINANZHOF Beschluss vom 13.12.2012, X B 221-222/12; X B 221/12; X B 222/12

Ausnahmsweise Anspruch auf Aktenübersendung in die Kanzlei des in seiner Beweglichkeit erheblich eingeschränkten Prozessbevollmächtigten

Tatbestand

 
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I. Vor dem Finanzgericht (FG) betreiben die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) ein Klageverfahren und ein Verfahren wegen Aussetzung der Vollziehung, deren Gegenstand Steuernachforderungen infolge einer Außenprüfung bei dem vom Kläger betriebenen Gastronomiebetrieb sind.
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Die Kläger werden durch einen Steuerberater (S) als Prozessbevollmächtigten vertreten. Dieser beantragte am 1. Oktober 2012 für beide Verfahren Akteneinsicht im Wege der Übersendung der Gerichts- und Behördenakten in seine Kanzlei gegen Rückgabe innerhalb einer Woche. Zur Begründung führte er aus, er sei durch einen Krankenhausaufenthalt und die anschließende Nachbehandlung äußerst beeinträchtigt. Am 2. Oktober 2012 übersandte er eine Arztbescheinigung von 25. September 2012. Daraus ergibt sich, dass der 74-jährige S infolge eines Treppensturzes eine Quadrizepssehnenruptur (Kreuzbandriss) erlitten hatte. Er war vom 17. bis zum 26. September 2012 in stationärer Behandlung; die Operation wurde am 18. September 2012 durchgeführt. Die weitere Therapie sollte in einer "Mobilisation unter schmerzadaptierter Vollbelastung NUR in Streckstellung an UAGS [Unterarm-Gehstützen] für 6 Wochen" bestehen. Während dieser Zeit hatte S eine Hypex-Lite-Schiene (großformatige Knieschiene) zu tragen, die sicherstellen sollte, dass das Bein in Streckstellung verblieb. Eine "schmerzadaptierte Vollbelastung" bedeutet, dass das Bein zwar prinzipiell belastet werden darf, bei Belastung aber Schmerzen auftreten, die die Belastbarkeit wiederum begrenzen.
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Mit Beschlüssen vom 5. Oktober 2012 lehnte das FG die Anträge ab. Es führte aus, den von S vorgelegten Unterlagen sei nicht zu entnehmen, dass vorliegend einer der eng begrenzten Sonderfälle gegeben sei, in denen die Akteneinsicht in der Kanzlei des Prozessbevollmächtigten erfolgen könne. Die Beweglichkeit des S sei nicht derart eingeschränkt, dass er gehindert sei, eine in der Nähe seiner Kanzlei gelegene Landes- oder Bundesbehörde aufzusuchen. Wie der Schriftverkehr zeige, habe S seine Berufstätigkeit in seinen Kanzleiräumen wieder aufgenommen.
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Mit ihrer hiergegen gerichteten Beschwerde tragen die Kläger vor, S benötige bis zur vollen Wiederherstellung der Beweglichkeit eine Zeitspanne von drei Monaten. Die Wiederaufnahme der Berufstätigkeit habe sich auf ein bis zwei Stunden pro Tag beschränkt. S sei von Dritten zu seiner Kanzlei gefahren worden. Jeder Weg verursache ihm Schmerzen und sei nur mit "Krücken" zurückzulegen. Den Schriftverkehr habe die Büroleiterin vorbereitet; S habe nur die Unterschriften geleistet.
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Die Kläger beantragen sinngemäß, die angefochtenen Beschlüsse aufzuheben und das FG zu verpflichten, die Gerichts- und Behördenakten für eine Woche zur Akteneinsicht in die Kanzleiräume des S zu übersenden.
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Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt) hat sich im Beschwerdeverfahren nicht geäußert.

Entscheidungsgründe

 
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II. Die Beschwerden sind begründet. Sie führen zur Aufhebung der angefochtenen Beschlüsse und –in entsprechender Anwendung des § 572 Abs. 3 der Zivilprozessordnung– zur Zurückverweisung der Sachen zur anderweitigen Entscheidung an das FG.
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Das FG hätte die Anträge auf Aktenübersendung im Zeitpunkt seiner Entscheidungen nicht mit der von ihm gegebenen Begründung ablehnen dürfen (unten 1.). Da für die abschließende Beurteilung der Begründetheit der Beschwerden jedoch die Sachlage im Zeitpunkt der Entscheidung über sie maßgebend ist, gehen die Sachen zur Ermittlung der gegenwärtigen Tatsachenlage an das insoweit orts- und sachnähere FG zurück (unten 2.).
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1. Die vorinstanzlichen Entscheidungen können mit den vom FG gegebenen Begründungen nicht bestehen bleiben, weil sie ermessensfehlerhaft ergangen sind.
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a) Im Ausgangspunkt zutreffend hat das FG allerdings erkannt, dass sich aus dem in § 78 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) verwendeten Begriff "einsehen" und der in § 78 Abs. 2 Satz 1 FGO enthaltenen Regelung über die Erteilung von Ausfertigungen, Auszügen, Ausdrucken und Abschriften durch die Geschäftsstelle ergibt, dass die Einsichtnahme der Akten bei Gericht die Regel sein soll. Darüber hinaus ist es im Regelfall sachgerecht, die Akten an dasjenige Finanzamt oder Gericht zu versenden, das dem Wohnsitz oder Büro des zur Akteneinsicht Berechtigten am nächsten liegt, wenn dieser Berechtigte seinen Wohnsitz oder sein Büro nicht am Ort des FG hat (zum Ganzen Senatsbeschlüsse vom 2. Oktober 2007 X B 96/07, BFH/NV 2008, 93, unter II.3., und vom 15. Juli 2008 X B 5/08, BFH/NV 2008, 1695, unter II.4.). Allein der Umstand, dass mit einer Akteneinsicht außerhalb der eigenen Kanzlei stets ein gewisser Zeitaufwand sowie Unbequemlichkeiten verbunden sind, reicht nicht aus, um einen Anspruch auf Aktenübersendung in die Kanzlei zu begründen (Beschluss des Bundesfinanzhofs vom 29. April 1987 VIII B 4/87, BFH/NV 1987, 796, m.w.N.).
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Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat allerdings schon früh betont, dass im Rahmen des Anspruchs des Antragstellers auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über sein Akteneinsichtsgesuch Ausnahmen von dem dargestellten Grundsatz möglich seien, wenngleich sie sich auf Sonderfälle beschränken müssten. Gegen eine Aktenübersendung spricht die Gefahr von Aktenverlusten, die Wahrung des Steuergeheimnisses und das Interesse des FG an einer jederzeitigen Verfügbarkeit der Akten (ausführlich BFH-Beschluss vom 31. August 1993 XI B 31/93, BFH/NV 1994, 187). Mit diesen Gesichtspunkten sind die Interessen des die Aktenübersendung Begehrenden abzuwägen. Als Beispiel für ein Überwiegen von dessen Interessen wird eine körperliche Behinderung des Beteiligten oder seines Prozessbevollmächtigten genannt (vgl. zum Ganzen BFH-Beschluss in BFH/NV 1987, 796). So hat der BFH einem Prozessbevollmächtigten, der auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen war, einen Anspruch auf Aktenübersendung in seine Kanzlei zuerkannt (Beschluss vom 29. Oktober 2008 III B 176/07, BFH/NV 2009, 192).
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b) Im Streitfall hat das FG sein Ermessen nicht zutreffend ausgeübt. Die von ihm gegebene Begründung lässt nicht erkennen, dass es die erheblichen krankheitsbedingten Einschränkungen des S gebührend in seine Abwägung einbezogen hätte. Zudem hat das FG sich nicht auf konkrete öffentliche Interessen berufen, die einer Aktenübersendung im vorliegenden Fall entgegenstehen könnten.
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Nach der vorgelegten, detaillierten und substantiierten Arztbescheinigung war die Mobilität des 74-jährigen S für einen nennenswerten Zeitraum in erheblicher Weise eingeschränkt. Das betroffene Bein wurde zwangsweise in Streckstellung gehalten; mit jeder Belastung waren Schmerzen verbunden. Für den Zeitraum, in dem diese Einschränkungen bestanden –jedenfalls im Zeitpunkt der angegriffenen Entscheidung des FG– waren diese Einschränkungen der Beweglichkeit in gewisser Weise mit denen zu vergleichen, denen ein Rollstuhlfahrer unterliegt; ein Rollstuhlfahrer hat nach den vorstehend dargestellten Grundsätzen aber im Regelfall einen Anspruch auf Aktenübersendung. Auch ist nicht erkennbar, dass das FG das hohe Alter des S –das einer zügigen Wiedergewinnung der Beweglichkeit zumindest nicht zuträglich ist– in seine Abwägung einbezogen hätte.
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Das FG hat die Betroffenheit des S durch dessen eingeschränkte Beweglichkeit allein deshalb als nicht allzu gewichtig eingeschätzt, weil es davon ausgegangen ist, S habe seine Berufstätigkeit aus seinen Kanzleiräumen heraus wieder aufgenommen. Diese Einschätzung ist in doppelter Weise fehlerhaft: Zum einen übersteigt die Belastung einer Person, die in ihrer Mobilität erheblich eingeschränkt ist, durch eine auswärtige Akteneinsicht erheblich diejenigen Belastungen, die mit einer Bürotätigkeit in den eigenen, vertrauten Kanzleiräumen verbunden sind. Die Argumentation des FG ist schon aus diesem Grund nicht geeignet, die Interessen des S in der Abwägung mit den öffentlichen Interessen als von geringerem Gewicht erscheinen zu lassen. Zum anderen hat S substantiiert dargelegt, dass er sich zwar sofort nach seiner Entlassung aus der stationären Behandlung unter großen Schmerzen wieder in seine Kanzlei habe fahren lassen, die Tätigkeit sich aber in zeitlicher Hinsicht auf eine Anwesenheit von ein bis zwei Stunden täglich und in inhaltlicher Hinsicht auf das bloße Unterschreiben vorbereiteter Schriftsätze beschränkt habe. Der Senat hat –auch angesichts des Alters des S– keinen Anlass, an der Schlüssigkeit und Plausibilität von dessen Darstellung zu zweifeln.
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Ferner hat das FG keine besonderen öffentlichen Interessen angeführt, die trotz der erheblichen Mobilitätseinschränkung des S dessen Interesse an einer Aktenübersendung überwiegen könnten. Es hat sich weder darauf berufen, dass die Akten demnächst im Gericht benötigt werden könnten, noch darauf, dass in den Akten nicht reproduzierbare Beweismittel enthalten sein könnten.
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2. Gleichwohl ist dem Senat eine abschließende Beurteilung verwehrt, weil hierfür die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung über die Beschwerde maßgebend ist (BFH-Beschluss vom 17. März 2008 IV B 100, 101/07, BFH/NV 2008, 1177, unter II.2.a). Da das Datum sowohl der Arztbescheinigung als auch des Akteneinsichtsantrags bereits etwa zehn Wochen in der Vergangenheit liegt, dürfte sich die körperliche Verfassung des S zwischenzeitlich verbessert haben. Zur Aufklärung dieser Umstände gehen die Sachen an das FG zurück. Eine solche Zurückverweisung ist auch im Beschwerdeverfahren zulässig; dies gilt insbesondere, wenn die noch erforderlichen Maßnahmen zur Ermittlung des entscheidungserheblichen Sachverhalts vom ortsnäheren FG besser getroffen werden können als vom Beschwerdegericht (BFH-Beschluss in BFH/NV 2008, 1177, unter II.2.d).
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Im Rahmen seiner erneuten Entscheidung ist das FG nicht gehindert, erstmals konkrete Umstände für ein Überwiegen öffentlicher Interessen anzuführen. So ist darauf hinzuweisen, dass auch im Strafprozess in der Regel nur die –zumeist reproduzierbaren– Ermittlungsakten in die Kanzlei des Strafverteidigers übersandt werden, nicht aber die Beweismittelordner, die die Originale der maßgebenden Beweismittel enthalten (vgl. Matthes, Entscheidungen der Finanzgerichte 2009, 1851). Auch ist es denkbar, die Aktenübersendung zu verweigern, wenn S sich nach den Erfahrungen des insoweit ortsnäheren FG in der Vergangenheit als unzuverlässig erwiesen haben sollte, wofür nach dem vorliegenden Akteninhalt allerdings nichts erkennbar ist.
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Vorsorglich bemerkt der Senat noch, dass allein aus der Teilnahme des S als Beistand an der am 16. Oktober 2012 vor dem Amtsgericht D im Steuerstrafverfahren gegen den Kläger durchgeführten Hauptverhandlung noch nicht abgeleitet werden kann, dass die Mobilitätseinschränkung nicht gravierend war. Denn ebenso wie ein Rollstuhlfahrer kann auch ein von einem Kreuzbandriss Betroffener in der Lage sein, im Wege überobligationsmäßiger Anstrengung auswärtige Termine wahrzunehmen. Gleichwohl wiegen die Interessen dieser Personen an einer Aktenübersendung in ihre Kanzlei deutlich schwerer als bei nicht in ihrer Beweglichkeit eingeschränkten Prozessbevollmächtigten.
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3. Eine Kostenentscheidung ist nicht zu treffen. Bei den vorliegenden Beschwerdeverfahren handelt es sich um unselbständige Zwischenverfahren, die von den Kostenentscheidungen in den noch abzuschließenden Verfahren vor dem FG mit umfasst sind (vgl. zu einer erfolgreichen Beschwerde gegen die Versagung der Aktenübersendung auch BFH-Beschluss in BFH/NV 2009, 192, unter II.4., m.w.N.).

Quelle: bundesfinanzhof.de