Zu den Voraussetzungen für eine Rücknahme einer Anrechnungsverfügung durch einen Abrechnungsbescheid

Niedersächsisches Finanzgericht 11. Senat, Urteil vom 07.03.2013, 11 K 62/12

§ 130 Abs 2 Nr 3 AO, § 8 KiStRG ND, § 130 Abs 2 Nr 4 AO, § 218 Abs 2 AO

Tatbestand

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Streitig ist, ob ein Abrechnungsbescheid zur Einkommensteuer und Nebenabgaben 2009 rechtmäßig ist.

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Die Klägerin hat die polnische Staatsangehörigkeit und war im Streitjahr 2009 mit Herrn X verheiratet. Sie war im Streitjahr beim Ehemann, der als Kardiologe selbständig tätig war, beschäftigt. Hieraus erzielte sie Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit im Umfang von 4.500 EUR. Seit dem 31. Januar 2008 lebten die Eheleute dauernd getrennt. Dies war dem Beklagten seit dem 29. November 2010 (= Zeitpunkt der Abgabe der Einkommensteuererklärung 2009 des Ehemannes) bekannt. Die Klägerin erhielt nach der Trennung im Jahr 2009 Unterhaltsleistungen vom Ehemann in Höhe von 13.805 EUR.

3
Im Jahr 2010 wurde die Ehe geschieden.

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Der Ehemann leistete im Streitjahr 2009 Einkommensteuervorauszahlungen im Umfang von 73.043,00 EUR. Der Vorauszahlungsbescheid für Einkommensteuer vom 1. Oktober 2009 war noch an die Eheleute gerichtet.

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Am 29. November 2010 reichte der Ehemann die Einkommensteuererklärung 2009 beim Beklagten ein. Nach der Erklärung erzielte er als Kardiologe im Streitjahr Einkünfte in Höhe von 277.676,00 EUR.

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Am 3. Februar 2011 richtete der Beklagte ein Schreiben an Klägerin mit folgendem Inhalt:

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„Einkommensteuerveranlagungen – Vorauszahlungen

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Sehr geehrte Frau A,

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nach den hier gespeicherten Daten sind für ihre Einkommensteuer 2009 ff noch unter der Zusammenveranlagung für Sie als Ehegatten Vorauszahlungen festgesetzt worden.

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Aufgrund der Trennung sind diese auf die einzelnen Personen aufzuteilen. Es ist beabsichtigt, dies zu 100 % (nicht die Kirchensteuer, da Ehemann ohne Religion) Herrn X zuzuordnen. Ich bitte um eventuelle Stellungnahme innerhalb von 3 Wochen. Ansonsten gehe ich davon aus, dass Sie einverstanden sind.

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Mit freundlichen Gruß“

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Am 8. Februar 2011 antwortete die Klägerin. Dieses Schreiben hatte folgenden Wortlaut:

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„Sehr geehrte Frau L,

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ich danke Ihnen für Information betreffend Einkommensteuer 2009.

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Seit 2009 mein Mann, X, und ich lebten getrennt, in 2010 wurde Scheidung ausgesprochen.

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In Gütertrennung bekam ich das Haus und nachehelichen Unterhalt in Höhe von 1.500,00 EUR im Monat. Das erlaubt mir mein Leben zu sichern. Außerdem habe ich keine Ersparnisse, auf die ich greifen könnte im Fall der Hausreparatur oder sonstigen Unglücks.

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Wäre mit Einkommensteuer 2009 Vorauszahlung auf plus Vergütung zu rechnen, bitte ich sie auf einzelnen Personen aufzuteilen, damit ich Erstattung bekomme.

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A“

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Auf dem Schreiben wurde von einem/einer Mitarbeiter/in des Beklagten vermerkt: „=> Damit 50:50 notwendig“.

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Die Klägerin reichte am 18. August 2011 ihre Einkommensteuererklärung 2009 beim Beklagten ein. Die Einkommensteuererklärung war von der Y Steuerberatungsgesellschaft, die auch die Steuererklärungen des Ehemannes fertiggestellt hatte, vorbereitet worden.

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Am 29. September 2011 erließ der Beklagte zwei Einkommensteuerbescheide. Im Bescheid des Ehemannes wurden die gezahlten Vorauszahlungen in Höhe von 33.802,00 EUR Einkommensteuer und 1.789,50 EUR Solidaritätszuschlag (=50% der Vorauszahlungen ohne Berücksichtigung der Kirchensteuer) angerechnet. Im Bescheid der Klägerin, ebenfalls vom 29. September 2011, wurden auch Vorauszahlungen in Höhe von 33.802,00 EUR Einkommensteuer, 1.860,00 EUR Kirchensteuer und 1.789,50 EUR Solidaritätszuschlag angerechnet. Gegen den Einkommensteuerbescheid des Ehemannes, mit dem nach dem Anrechnungsteil noch 64.613,00 EUR zu zahlen waren, legte der Ehemann Einspruch ein, mit dem er eine Anrechnung der geleisteten Vorauszahlungen im vollen Umfang begehrte. Hilfsweise beantragte er einen Abrechnungsbescheid. Er trug im Einspruchsverfahren vor, er habe die Vorauszahlungen für 2009 selbst gezahlt. Angerechnet seien nur 50 %. Diese Vorauszahlungen seien daher zu 100 % ihm anzusetzen.

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Der Beklagte legte den Einspruch als Antrag auf Erteilung eines Abrechnungsbescheides  nach § 218 Abs. 2 Abgabenordnung (AO) aus und erließ am 7. November 2011 jeweils einen Abrechnungsbescheid gemäß § 218 Abs. 2 AO an den Ehemann und an die Klägerin, in denen nunmehr die gesamten Vorauszahlungen auf die Einkommensteuer 2009 dem Ehemann zugerechnet wurden.

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Gegen diesen Abrechnungsbescheid legte die Klägerin Einspruch ein. Sie trägt vor, dass die Voraussetzungen für eine Änderung nach § 130 Abs. 2 AO nicht gegeben seien. Der Beklagte hob daraufhin den Abrechnungsbescheid am 15. Dezember 2012 auf und erließ gleichzeitig einen neuen Abrechnungsbescheid mit gleichem Abrechnungsteil. Gegen diesen Abrechnungsbescheid legte die Klägerin wiederum Einspruch ein. Der Beklagte erließ daraufhin am 14. Februar 2012 einen Einspruchsbescheid, in dem der Einspruch gegen den Abrechnungsbescheid als unbegründet zurückgewiesen wurde. Dagegen erhob die Klägerin Klage.

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Die Klägerin trägt vor, ihr Vorbringen sei in der Einspruchsentscheidung nicht gewürdigt worden. Sie habe davon ausgehen können, nachdem der Beklagte auf ihren Antrag hin die Beträge erstattet habe, dass diese Entscheidung nach Recht und Gesetz ergangen sei. Sie habe die Anfrage des Finanzamts zu Aufteilung der Vorauszahlungen beantwortet ohne sich vorher beraten zu lassen. Sie sei selbst nie mit steuerlichen Dingen befasst gewesen. Sie habe mit der Y Steuerberatungsgesellschaft wegen der Anrechnung der Vorauszahlungen Einkommensteuer 2009 keinen Kontakt gehabt. Sie sei davon ausgegangen, dass ihr die Hälfte aller Ansprüche zustehen würden, solange die Ehe noch bestanden habe.

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Die Klägerin beantragt,

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den Abrechnungsbescheid vom 15. Dezember 2011 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 14. Februar 2012 aufzuheben.

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Der Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Der Beklagte ist der Ansicht, dass die Voraussetzungen für eine Änderung des Anrechnungsteils des Einkommensteuerbescheids 2009 vom 29. September 2011 gegeben seien. Dies ergebe sich aus § 130 Abs. 2 Nr. 4 AO. Der Klägerin sei die Rechtswidrigkeit des Abrechnungsteils in Folge grober Fahrlässigkeit unbekannt gewesen. Es handele sich um einen einfach gelagerten Fall, da sich der Klägerin bei der Anrechnungsverfügung der Fehler habe aufdrängen müssen. Denn die Steuerschuld habe zu den Vorauszahlungen in einem Verhältnis gestanden, dass zu einer Überprüfung hätte führen müssen (unter Bezugnahme auf BFH-Urt. v. 15. April 1997 VII R 100/96, BStBl. II 1997, 787, 791).

 

Entscheidungsgründe

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I. Der Senat legt die Klageschrift dahin aus, dass der Abrechnungsbescheid hinsichtlich der Kirchensteuer nicht Gegenstand des Verfahrens ist. In Kirchensteuerangelegenheiten ist der Finanzrechtsweg in Niedersachsen vorbehaltlich der Regelung in § 8 Abs. 2 Kirchensteuerrahmengesetz nicht eröffnet (s. § 10 Abs. 2 Satz 1 Kirchensteuerrahmengesetz in der Fassung v. 10. Juli 1986, Niedersächsisches GVBl. 1986, 281 zuletzt geändert durch Gesetz v. 10. Dezember 2008, Niedersächsisches GVBl. 2008, 396). Bei dem Abrechnungsbescheid nach § 218 AO handelt es sich nicht um einen Aufteilungsbescheid, bei dem nach § 8 Abs. 2 Kirchensteuerrahmengesetz der Finanzrechtsweg gegeben ist.

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II. Die Klage ist begründet.

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Der Abrechnungsbescheid vom 15. Dezember 2011 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 14. Februar 2012 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 Finanzgerichtsordnung – FGO -). Die Rücknahme der Anrechnungsverfügung vom 29. September 2011 war rechtswidrig.

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1. Ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet kann u.a. dann zurückgenommen werden, wenn seine Rechtswidrigkeit dem Begünstigten bekannt oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht bekannt war (§ 130 Abs. 2 Nr. 4 AO) oder ihn der Begünstigte durch Angaben erwirkt hat, die in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig waren  (§ 130 Abs. 2 Nr. 3 AO; rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt). Die Rücknahme dieses rechtswidrigen Verwaltungsaktes ist nach § 130 Abs. 3 AO nur innerhalb eines Jahres seit dem Zeitpunkt der Kenntnisnahme der Finanzbehörde zulässig.

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Bei Anwendung dieser Rechtsgrundlagen ist im Streitfall im Hinblick auf die Anrechnungsverfügung vom 29. September 2011 von einem rechtswidrigen Verwaltungsakt auszugehen. Die Vorauszahlungen in Höhe von 33.802,00 EUR Einkommensteuer und 1.789,50 EUR Solidaritätszuschlag durften nicht bei der Klägerin in der Anrechnungsverfügung berücksichtigt werden. Sie dienten zur Tilgung der Festsetzungen der Einkommensteuer und des Solidaritätszuschlags beim Ehemann. Der BFH hat entschieden, dass Vorauszahlungen eines Ehegatten aufgrund eines an beide Ehegatten gerichteten Vorauszahlungsbescheides letztlich der Tilgung der zu erwartenden Steuerschulden beider Ehegatten dienen, unabhängig davon, ob die Eheleute später zusammen oder getrennt veranlagt werden. Sie sind deshalb zunächst auf die festgesetzten Steuern beider Ehegatten anzurechnen. Erst ein verbleibender Rest ist nach Kopfteilen an die Ehegatten auszukehren (BFH-Urt. v. 22. März 2011 VII R 42/10, BStBl. II 2011, 607). Da bei der Anrechnung auf die festgesetzten Einkommensteuern und Solidaritätszuschläge beim Ehemann kein Rest verblieb, stand somit auch kein Betrag für eine Anrechnung nach Kopfteilen zur Verfügung. Die Anrechnung der Vorauszahlungen zur Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag in der Anrechnungsverfügung vom 29. September 2011 war daher bei der Klägerin unzulässig.

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2. Die Jahresfrist für eine Rücknahme der Anrechnungsverfügung vom 29. September 2011 nach § 130 Abs. 3 AO hat der Beklagte auch beachtet. Denn maßgeblich ist – wie der Beklagte zu Recht hervorhebt – nicht die Kenntnis von den entscheidungserheblichen Tatsachen, sondern von der Rechtswidrigkeit der Entscheidung (BFH-Urt. v. 9. Dezember 2008 VII R 43/07, BStBl. II 2009, 344).

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3. Es liegen aber nicht die Voraussetzungen nach § 130 Abs. 2 AO für eine Rücknahme der die Klägerin begünstigenden rechtswidrigen Anrechnungsverfügung vor.

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a. Der Senat geht davon aus, dass mit dem Abrechnungsbescheid vom 15. Dezember 2011 stillschweigend auch die Anrechnungsverfügung vom 29. September 2011 zurückgenommen wurde. Letztlich kann dies aber auch dahingestellt bleiben. Denn es handelt sich bei der Anrechnungsverfügung zwar um einen Verwaltungsakt, der Tatbestandswirkung entfaltet und an dem die Finanzbehörde bei einem Erlass eines Abrechnungsbescheides grundsätzlich gebunden ist; jedoch gilt dies dann nicht, wenn die Voraussetzungen nach §§ 130, 131 AO vorliegen. In diesem Fall kann im Rahmen eines Abrechnungsbescheides eine Änderung der Anrechnungsverfügung erfolgen (BFH-Urt. v. 15. April 1997 VII R 100/96, BStBl. II 1997, 787; Urt. v. 16. Oktober 1986 VII R 159/83, BStBl. II 1987, 405; Urt. v. 18. September 2007 I R 54/06, BFH/NV 2008, 290; AEAO zu § 218 Nr. 3; Rüsken in Klein, AO, 11. Aufl. 2012, § 218 Rz. 29 m.w.N.; a.A. BFH-Urt. v. 28. April 1993 I R 123/91, BStBl. II 1994, 147). Denn auch wenn man eine Bindungswirkung im Grundsatz bejaht, besteht im Verfahren nach § 218 Abs. 2 AO jedenfalls dann keine Bindungswirkung an eine vorausgegangene Anrechnungsverfügung, wenn diese nach den dafür maßgeblichen Vorschriften zurückgenommen oder widerrufen werden „kann“ (BFH-Urt. v. 8. September 2010 I R 90/09, BFH/NV 2011, 338; Rüsken in Klein, AO, 11. Aufl. 2012, § 218 Rz. 29).

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b. Der Rücknahmetatbestand des § 130 Abs. 2 Nr. 3 AO liegt aber nicht vor. Die Klägerin hat – wie die Prozessbevollmächtigte in ihrem Schreiben vom 24. April 2012 (Seite 2) zu Recht mitteilt – keine „Angaben“ i.S.d. § 130 Abs. 2 Nr. 3 AO  gemacht. Die Voraussetzungen liegen vor, wenn der Begünstigte den Verwaltungsakt durch Angaben erwirkt hat, die in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig waren. Die Angaben des Begünstigten müssen lediglich objektiv unrichtig oder unvollständig sein. Auf ein vorsätzliches oder fahrlässiges Handeln des Begünstigten kommt es nicht an. Angaben in diesem Sinne können nur entscheidungserhebliche Angaben sein, die für den Verwaltungsakt kausal waren (BFH-Urt. v. 2. August 2006 XI R 57/04, BFH/NV 2007, 858; Urt. v. 13. Juli 1994 I R 95/93, BFH/NV 1995, 935). Die Klägerin hat aber in Ihrem Schreiben vom         8. Februar 2011 keine entscheidungserheblichen Angaben für eine Anrechnung der Vorauszahlungen getätigt, sondern nur eine Bitte um Aufteilung der Vorauszahlungen auf die beiden Personen geäußert. Dies ist keine Angabe von entscheidungserheblicher Bedeutung, die unrichtig oder unvollständig ist.

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c. Es liegen auch die Voraussetzungen des § 130 Abs. 2 Nr. 4 AO nicht vor. Es ist nicht zu erkennen, dass nach den persönlichen Fähigkeiten der Klägerin davon ausgegangen werden kann, dass diese die Fehlerhaftigkeit der Aufteilung hätte erkennen können. Insoweit kommt es auf diesen subjektiven Maßstab an (s. BFH-Urt. v. 16. Juni 1994 IV R 48/93, BStBl. II 1996, 82 a.E.; Rüsken in Klein, AO 11. Aufl. 2012, § 130 Rz. 48). Maßgeblich für die Beurteilung der Kenntnis oder grob fahrlässigen Unkenntnis ist der Zeitpunkt des Eintritts der Wirksamkeit des Verwaltungsaktes, also der Zeitpunkt der Bekanntgabe des Verwaltungsaktes (§ 124 Abs. 1 Satz 1 AO; s. Pahlke in Pahlke/Koenig, AO, 2. Aufl. 2009, § 130 Rz. 45). Zu diesem Zeitpunkt ist eine geforderte Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis nicht feststellbar.

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Die Klägerin war der Ansicht, sie hätte – solange die Ehe noch bestand – Anspruch auf die Hälfte der Erstattungen. Diese Ansicht hat sie nicht nur im Zeitpunkt des Schreibens vom 8. Februar 2011 gehabt, sondern auch im Zeitpunkt der Bekanntgabe des Einkommensteuerbescheids 2009 mit der Anrechnungsverfügung. Wie die Klägerin glaubhaft dem Senat in der mündlichen Verhandlung erläuterte, hatte sie in diesem Zeitraum keinen Kontakt zu einem Berater in dieser Sache aufgenommen. Nur zum Zweck der Abgabe der Steuererklärung hatte sie vor dem 18. August 2011 mit der Y Steuerberatungsgesellschaft Kontakt. Über die Erstattung von Vorauszahlungen wurde aber nicht gesprochen.

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Die Ansicht der Klägerin, sie habe Anspruch auf die Hälfte der Erstattungen, ist zwar unzutreffend; jedoch hält der Senat es für zu weitgehend, dabei von einer grob fahrlässigen Unkenntnis der Rechtswidrigkeit auszugehen. Zu diesem Ergebnis kommt der Senat aufgrund der Sach- und Rechtlage und des persönlichen Eindrucks von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung. So hat der Senat beachtet, dass die Klägerin polnische Staatsangehörige ist und sich um die steuerlichen Angelegenheiten nie gekümmert hatte, da dies immer durch ihren Ehemann erfolgt war. Sie besaß auch keinerlei steuerliche Kenntnisse über das Verfahren bei Vorauszahlungen. Weiterhin berücksichtigte der Senat, dass auch erst durch die Fortentwicklung der Rechtsprechung des BFH in den letzten Jahren – nicht zuletzt durch seine Entscheidung vom 22. März 2011 (VII R 42/10, BStBl. II 2011, 607) – Rechtsklarheit im Hinblick darauf geschaffen wurde, wie eine Anrechnung von Vorauszahlungen bei Ehegatten zu beurteilen ist.  Auch das Verhalten des Mitarbeiters(in) des Beklagten zeigt an, dass dieser Fehler selbst einem Finanzbeamten(in) unterlaufen war, so dass die Rechtswidrigkeit des Bescheides ihr nicht wegen grober Fahrlässigkeit unbekannt war.

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Soweit die Y Steuerberatungsgesellschaft die Steuererklärung 2009 der Klägerin vorbereitet hatte und damit das Veranlagungsverfahren in Gang gesetzt hat, ändert dies nichts an dieser Beurteilung. Zwar ist die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis eines Vertreters dem Begünstigten zuzurechnen (BFH-Beschl. v. 10. März 2005 VII B 214/04, BFH/NV 2005, 1222; Pahlke in Pahlke/Koenig, AO, 2. Aufl. 2009, § 130 Rz. 45); jedoch ist dies nur möglich, wenn der Vertreter als Vertreter des Begünstigten auftritt. Der Einkommensteuerbescheid 2009 mit der Anrechnungsverfügung wurde aber nicht der Y Steuerberatungsgesellschaft bekanntgegeben, sondern der Klägerin selbst. Auch war kein andere(r) Berater(in) eingeschaltet, so dass allein auf die Kenntnis oder grobe Unkenntnis der Klägerin abzustellen war. Der Kontakt zur jetzigen Prozessbevollmächtigten kam erst mit dem Erhalt des Abrechnungsbescheids vom 7. November 2011 zustande.

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Auch die Bezugnahme des Beklagten auf das Urteil des BFH v. 15. April 1997 (VII R 100/96, BStBl. II 1997, 787, 791) führt zu keiner Änderung der Rechtsauffassung. Dort hat der BFH im Allgemeinen eine grob fahrlässige Unkenntnis angenommen, wenn sich dem Steuerpflichtigen eine Überprüfung der Anrechnungsverfügung von der Höhe des angerechneten Betrages her im Verhältnis zur Steuerschuld oder zu den tatsächlichen Abzugsbeträgen oder Vorauszahlungen hätte aufdrängen müssen. Dagegen ist der Streitfall aber anders gelagert. Denn der Klägerin war bewusst, dass sie einen erheblichen Erstattungsbetrag erhalten würde. Sie war aber der Ansicht, sie habe als Ehefrau einen Anspruch auf die Hälfte der Erstattungen. Dies ist aber aus den dargestellten Gründen nicht grob fahrlässig.

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Ebenso ergibt sich aus der Entscheidung de BFH aus dem Jahr 2005 keine andere Beurteilung. Soweit dort der BFH im Hinblick auf das Erkennen der Klägerin feststellt, diese habe nicht ohne grobe Fahrlässigkeit annehmen können, mit der Erstattung habe es seine Richtigkeit, lag dies an den besonderen Umständen. Dort hatte die Steuerpflichtige und ihr anwaltlicher Vertreter in einem Schreiben an das Finanzamt nur die Auskehrung der Hälfte des Erstattungsbetrages begehrt und dann einen sechsmal größeren Betrag erhalten (vgl. BFH-Beschl. v. 10. März 2005 VII B 214/04, BFH/NV 2005, 1222). Im Streitfall dagegen hat die Klägerin sich ohne steuerliche Beratung an den Beklagten gewandt und war zu jedem Zeitpunkt davon ausgegangen, sie hätte Anspruch auf einen Teil der Vorauszahlungen. Diese wurden ihr dann auch angerechnet.

45
III. Der Ehemann der Klägerin war nach § 60 Abs. 3 FGO nicht notwendig beizuladen (vgl. BFH-Beschl. v. 11. Januar 1994 VII B 100/93, BStBl. II 1994, 405). Von einer einfachen Beiladung des Ehemannes nach § 60 Abs. 1 FGO wurde abgesehen, da der Ehemann ein entgegengesetztes Interesse am Ausgang des Rechtsstreits hat und auch die Klägerin dem widersprochen hat (vgl. BFH-Beschl. v. 17. August 1978 VII B 30/78, BStBl. II 1979, 25; Levedag in Gräber, FGO, 7. Aufl. 2010, § 60 Rz. 30).

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IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die Nebenentscheidungen folgen aus § 151 Abs. 1 und 3 FGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung.