Inhalt und Auslegung eines Revisionszulassungsbeschlusses in Kindergeldangelegenheiten – BFH-Beschluss vom 11. Juni 2024, III R 22/23 (III R 47/14)

ECLI:DE:BFH:2024:B.110624.IIIR22.23.0

BFH III. Senat

EStG § 62 Abs 2, EStG § 66 Abs 2, FGO § 115 Abs 1, FGO § 116 Abs 7 S 1, FGO § 118 Abs 1 S 1, EStG VZ 2010 , EStG VZ 2011 , EStG VZ 2012 , EStG VZ 2013 , EStG VZ 2014

vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht , 10. Juli 2013, Az: 14 K 274/12

Leitsätze

1. NV: Der Revisionszulassungsbeschluss erstreckt sich nur auf die darin genannten Monate, auch wenn im Klageverfahren der Kindergeldanspruch für weitere Monate streitgegenständlich war und diesbezüglich innerhalb der Frist zur Beschwerdebegründung, aber erst nach Ablauf der Frist zur Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde Einwendungen erhoben werden.

2. NV: Im Fall einer Versagungsgegenklage in Kindergeldangelegenheiten geht das finanzgerichtliche Urteil und damit auch die Revisionszulassung durch den Bundesfinanzhof nicht über den Monat hinaus, in dem die Einspruchsentscheidung ergangen ist, es sei denn, dort ist etwas anderes bestimmt.

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Niedersächsischen Finanzgerichts vom 10.07.2013 – 14 K 274/12 wird als unzulässig verworfen, soweit dieses die Festsetzung von Kindergeld für S für die Monate … 2010 bis April 2012 und September 2012 bis Juli 2014 betrifft.

Die Kosten des Revisionsverfahrens hat die Klägerin zu tragen.

Tatbestand

I.

  1. In der Sache war zunächst streitig, ob die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) einen Kindergeldanspruch gemäß §§ 62 ff. des Einkommensteuergesetzes (EStG) für ihren Sohn S für die Zeit von … 2010 bis Juli 2014 hat. Nach Abtrennung des den Kindergeldanspruch der Klägerin für S für die Monate Mai bis August 2012 betreffenden Verfahrens sind nur noch die Monate … 2010 bis April 2012 und September 2012 bis Juli 2014 streitgegenständlich.
  2. Die Klägerin ist … Staatsangehörige. Mit Bescheid vom … wurde ihr Asylerstantrag abgelehnt und eine Abschiebungsandrohung erteilt. Im April 2012 wurde ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) hinsichtlich … festgestellt und die Abschiebungsandrohung aufgehoben. Seit Mai 2012 war die Klägerin im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG. Ihr war die Beschäftigung im Inland gestattet; sie war jedoch nicht erwerbstätig.
  3. Im Mai 2012 stellte die Klägerin bei der damals zuständigen Familienkasse X einen Antrag auf Kindergeld ab … 2010 für ihren Sohn.
  4. Die Familienkasse X lehnte die Bewilligung von Kindergeld mit Bescheid vom 27.06.2012 ab. Einspruch (Einspruchsentscheidung vom 06.08.2012) und Klage waren erfolglos.
  5. Das Finanzgericht (FG) entschied, bis zur Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG im Mai 2012 ‑‑für die Monate … 2010 bis April 2012‑‑ sei mangels Niederlassungs- oder Aufenthaltserlaubnis schon im Ansatz keine der Voraussetzungen nach § 62 Abs. 2 EStG in der Fassung der Bekanntmachung vom 08.10.2009 (BGBl I 2009, 3366) erfüllt. Die Klage sei jedoch auch für die Zeit ab Mai 2012 unbegründet. Zwar habe die Klägerin ab Mai 2012 über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG verfügt. Jedoch sei die Klägerin im Bundesgebiet nicht berechtigt erwerbstätig gewesen, habe keine laufenden Geldleistungen nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch bezogen oder Elternzeit in Anspruch genommen. Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2014, 1124 veröffentlicht.
  6. Gegen das Urteil legte die Klägerin mit dem Betreff „wegen Kindergeld ab Mai 2012“ mit Schreiben vom … Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision (§ 116 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑) ein und beantragte Prozesskostenhilfe (PKH). In der Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde mit Schreiben vom … führte sie aus, dass sie einen Kindergeldanspruch ab … 2010, jedenfalls aber ab Mai 2012 habe.
  7. Mit Beschluss des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 08.01.2014 – XI S 17/13 (PKH) wurde der Klägerin auf ihren Antrag PKH für ein „Kindergeld ab Mai 2012“ betreffendes Verfahren bewilligt (§ 155 Satz 1 FGO i.V.m. §§ 114 ff. der Zivilprozessordnung).
  8. Mit BFH-Beschluss vom 05.02.2014 – XI B 84/13 wurde die Revision im Beschwerdeverfahren wegen „Kindergeld ab Mai 2012“ zugelassen.
  9. Das Verfahren wurde hierauf als Revisionsverfahren wegen „Kindergeld ab Mai 2012“ fortgesetzt (§ 116 Abs. 7 Satz 1 FGO).
  10. Im Revisionsverfahren beantragte die Klägerin zunächst (sinngemäß, s. Schreiben vom …), das Urteil des Niedersächsischen FG vom 10.07.2013 – 14 K 274/12 aufzuheben und den Bescheid vom 27.06.2012 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 06.08.2012 der Familienkasse X zu Lasten der Beklagten und Revisionsbeklagten (Familienkasse) dahin zu ändern, dass für sie Kindergeld für ihren Sohn S für die Monate … 2010 bis Juli 2014 festgesetzt wird.
  11. Das Verfahren ruhte im Hinblick auf die beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) anhängigen Verfahren 2 BvL 9-14/14. Es ist während der Verfahrensruhe auf den III. Senat übergegangen (Geschäftsverteilungsplan 2023 des BFH, A., Ergänzende Regelungen, IV. Nr. 1 i.V.m. A., III. Senat, Nr. 2 Buchst. d) und wurde von diesem wieder aufgenommen, nachdem das BVerfG mit Beschlüssen vom 28.06.2022 – 2 BvL 9-10/14 und 2 BvL 13-14/14 (BVerfGE 162, 277, BGBl I 2022, 1450 ‑‑Entscheidungsformel‑‑) und vom 15.06.2023 – 2 BvL 11-12/14 (Zeitschrift für das gesamte Familienrecht 2023, 1636 ‑‑redaktioneller Leitsatz‑‑; juris) entschieden hat. Die Beteiligten wurden hierüber im August 2023 informiert und hatten in der Folge Gelegenheit zur Stellungnahme.
  12. Die Familienkasse hat sich mit Schreiben vom 07.05.2024 bereit erklärt, den Kindergeldanspruch der Klägerin für die Monate Mai bis August 2012 noch einmal zu überprüfen. Das diese Monate betreffende Verfahren wurde daraufhin mit Beschluss vom 15.05.2024 vom Streitfall abgetrennt und unter dem Aktenzeichen III R 18/24 erfasst; im dortigen Verfahren hat die Familienkasse mit Bescheid vom 24.05.2024 dem Klagebegehren abgeholfen und zugunsten der Klägerin für die Monate Mai bis August 2012 für das Kind S Kindergeld festgesetzt. Im vorliegenden Verfahren ist nur noch über den die Monate … 2010 bis April 2012 und September 2012 bis Juli 2014 betreffenden Revisionsantrag der Klägerin zu entscheiden.
  13. Die Klägerin beantragt sinngemäß,
    das Urteil des Niedersächsischen FG vom 10.07.2013 – 14 K 274/12 aufzuheben, soweit es den Kindergeldanspruch der Klägerin für S für die Monate … 2010 bis April 2012 und September 2012 bis Juli 2014 betrifft und den Bescheid vom 27.06.2012 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 06.08.2012 der Familienkasse X zu Lasten der Familienkasse dahin zu ändern, dass für diese Monate Kindergeld für ihren Sohn S festgesetzt wird.
  14. Die Familienkasse beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

  1. Der Senat kann ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da er gemäß § 126 Abs. 1 FGO durch Beschluss und nicht durch Urteil entscheidet (§ 90 Abs. 1 Satz 2 FGO); überdies haben sich die Beteiligten mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 90 Abs. 2 FGO).

III.

  1. Die den Kindergeldanspruch der Klägerin für S für die Monate … 2010 bis April 2012 und September 2012 bis Juli 2014 betreffende Revision ist gemäß § 115 Abs. 1 und § 118 Abs. 1 Satz 1 FGO sowie § 126 Abs. 1 i.V.m. § 10 Abs. 3 FGO in einer Besetzung von drei Richtern durch Beschluss als unzulässig zu verwerfen, da die Revision hinsichtlich der streitgegenständlichen Monate … 2010 bis April 2012 und September 2012 bis Juli 2014 nicht zugelassen worden ist.
  2. 1. Gemäß § 115 Abs. 1 FGO steht den Beteiligten die Revision nur zu, wenn das FG oder auf Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision der BFH die Revision zugelassen hat.
  3. 2. a) Im Streitfall wurde die Revision für die Monate bis einschließlich April 2012 nicht zugelassen.
  4. Das FG hat die Revision nicht zugelassen. Der BFH hat die Revision mit BFH-Beschluss vom 05.02.2014 – XI B 84/13 nur zugelassen, soweit die Vorentscheidung den Kindergeldanspruch für S für die Monate „ab Mai 2012“ betrifft. Soweit sie den Kindergeldanspruch für die Monate davor betrifft, ist die Revision somit unzulässig.
  5. b) Die Revision ist gemäß § 115 Abs. 1 und § 118 Abs. 1 Satz 1 FGO außerdem unzulässig, soweit der Kindergeldanspruch im finanzgerichtlichen Verfahren von vornherein nicht streitgegenständlich war, also für die Monate ab September 2012. Auch insoweit hat das FG die Revision nicht zugelassen. Auch diese Monate waren vom Zulassungsbeschluss des BFH nicht umfasst.
  6. aa) Gegenstand des Revisionszulassungs- und des Revisionsverfahrens ist das angefochtene Urteil (§ 118 Abs. 1 Satz 1 FGO). Gegenstand des angefochtenen Urteils über einen Ablehnungsbescheid ist nach ständiger Rechtsprechung grundsätzlich, das heißt sofern der Bescheid der Familienkasse keine anderweitige Regelung trifft, der Kindergeldanspruch längstens bis zum Ende des Monats der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung. Denn die Familienkasse trifft im Falle eines zulässigen, (ihrer Auffassung nach) in der Sache aber unbegründeten Einspruchs gegen einen Ablehnungsbescheid keine über den Monat des Ergehens der Einspruchsentscheidung hinausgehende Regelung. Der zeitliche Regelungsumfang wird durch eine Klageerhebung nicht verändert; das gerichtliche Verfahren ist keine Fortsetzung des Verwaltungsverfahrens (vgl. z.B. Senatsurteile vom 22.09.2022 – III R 23/21, BFHE 277, 82, BStBl II 2023, 338, Rz 19, und vom 22.12.2011 – III R 70/09, BFH/NV 2012, 1446, Rz 18, m.w.N.).
  7. bb) Im Streitfall erging die Einspruchsentscheidung mit Bescheid vom 06.08.2012. Der Streitzeitraum des erstinstanzlichen Verfahrens erstreckt sich somit nur auf die Monate bis einschließlich August 2012.
  8. cc) Die Verwerfung der Revision als unzulässig hindert die Familienkasse allerdings nicht, zu prüfen, ob das im Revisionsverfahren ergangene Schreiben vom 18.03.2014 hinsichtlich der Monate September 2012 bis Juli 2014 (auch) als Kindergeldantrag zu behandeln ist, und ‑‑soweit die Voraussetzungen erfüllt sind‑‑ gegebenenfalls Kindergeld für S für die Monate September 2012 bis Juli 2014 zugunsten der Klägerin festzusetzen.
  9. 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.