Finanzgericht Köln, 13 K 2376/19
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
1
Tatbestand
2Die Beteiligten streiten über die Frage, ob die gegen die Klägerin gerichteten formal bestandskräftigen und unter Schätzung der Besteuerungsgrundlagen ergangenen Bescheide zur Umsatzsteuer und zur gesonderten Feststellung von Besteuerungsgrundlagen für das Kalenderjahr 2016 der Änderung der Steuerfestsetzungen nach Maßgabe nachgereichter Steuererklärungen bzw. dem Erlass erstmaliger wirksamer Steuerfestsetzungen entgegenstehen. Die Klägerin vertritt die Auffassung, dies sei wegen der Nichtigkeit der Schätzungsbescheide nicht der Fall.
3Die Klägerin betreibt seit dem Jahr 2014 eine Praxis als I im Geschäftsbereich des Beklagten. Sie wohnt im Bezirk des Finanzamtes C, durch das sie – mit ihrem Ehemann – auch zur Einkommensteuer veranlagt wird.
4Ihre Erklärungen für die Jahre 2014 und 2015 und der Fragebogen zur steuerlichen Erfassung wurden jeweils wesentlich verspätet abgegeben. In dem im Oktober 2017 vorgelegten Fragebogen zur steuerlichen Erfassung schätzte die Klägerin die voraussichtlichen Einkünfte aus selbstständiger Arbeit für das Jahr der Betriebseröffnung (2014) mit 3.000 € und für das Folgejahr mit 8.000 €. Demgegenüber weisen die Gewinnermittlungen nach § 4 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes – EStG – für die Jahre 2014 und 2015 steuerliche Gewinne von 11.674,49 € (2014) und von 17.928,55 € (2015) aus.
5Die Feststellungserklärung für das Jahr 2014 wurde nach Schätzung der Besteuerungsgrundlagen eingereicht und führte zu einer antragsgemäßen Feststellung. Für das Jahr 2015 erließ der Beklagte im Januar 2018 ebenfalls unter Schätzung der Besteuerungsgrundlagen einen Feststellungsbescheid, in dem die Einkünfte aus selbständiger Arbeit mit 18.000 € geschätzt wurden. Die Erklärung für das Jahr 2015 ging erst im März 2018 beim Beklagten ein und führte dann zur erklärungsgemäßen Veranlagung.
6Ebenfalls im Januar 2018 wurden die Besteuerungsgrundlagen zur Umsatzsteuer 2015 geschätzt. Dabei ging der Beklagte von Lieferungen und sonstigen Leistungen zu 19 % Umsatzsteuer i.H.v. 30.000 € aus. Vorsteuerbeträge wurden mit 2.000 € geschätzt. Dies führte zur Festsetzung der Umsatzsteuer mit 3.700 €. Aus der ebenfalls im März 2018 eingereichten Umsatzsteuererklärung ergab sich eine festzusetzende Umsatzsteuer von 4.027,92 €. Zugrunde lagen zwar nur steuerfreie Umsätze i.H.v. 4.067 € und steuerpflichtige Umsätze von 21.378 €, aber gegenläufig auch lediglich Vorsteuern i.H.v. 33,90 €. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Feststellungs- und Steuerbescheide, Steuererklärungen und Gewinnermittlungen der Jahre 2014 und 2015 verwiesen.
7Wegen Nichtabgabe der Feststellungs- und der Umsatzsteuererklärung für das Streitjahr 2016 erließ der Beklagte unter dem 30. April 2018 unter Schätzung der Besteuerungsgrundlagen einen Feststellungsbescheid, mit dem Einkünfte aus selbständiger Arbeit i.H.v. 25.000 € festgestellt wurden, und einen Umsatzsteuerbescheid, der auf der Basis geschätzter steuerpflichtiger (30.000 €) und steuerfreier (5.000 €) Umsätze zur Festsetzung von 5.700 € Umsatzsteuer führte. Beide Bescheide ergingen ohne Vorbehalt der Nachprüfung im Sinne des § 164 Abs. 1 der Abgabenordnung – AO – und waren an die Prozessbevollmächtigte als Empfangsbevollmächtigte der Klägerin gerichtet. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Bescheide Bezug genommen.
8Am 30. Juli 2018 übermittelte die Prozessbevollmächtigte sowohl die Feststellungs- als auch die Umsatzsteuererklärung 2016 für die Klägerin an den Beklagten. Die Einkünfte der Klägerin wurden in Übereinstimmung mit der Gewinnermittlung mit 12.849,78 €, die steuerpflichtigen Umsätze mit 13.723 € und die steuerfreien Umsätze mit 9.653 € bei Vorsteuern von 49,98 € deklariert.
9Ebenfalls am 30. Juli 2018 beantragte die Prozessbevollmächtigte im Namen der Klägerin und unter Bezugnahme auf die übermittelten Steuererklärungen die um 3.454,50 € höher festgesetzte Umsatzsteuer ohne Sicherheitsleistung zu stunden und auf die Stundungszinsen zu verzichten. Außerdem beantragte sie den Erlass des mit der Umsatzsteuer festgesetzten Verspätungszuschlages von 110 €.
10Der Beklagte legte die vorgelegten Steuererklärungen als Antrag auf Änderung der Schätzungsbescheide aus. Diesen Antrag lehnte er im Hinblick auf die zwischenzeitlich eingetretene Bestandskraft der Bescheide mit Verfügung vom 1. August 2018 ab. Die Ablehnung war mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen.
11Mit Verfügung vom 3. August 2018 lehnte er auch die Anträge auf Stundung der Umsatzsteuer und Erlass des Verspätungszuschlages ab. Wegen der Einzelheiten wird auf die entsprechenden Verfügungen Bezug genommen.
12Gegen die Ablehnung der Änderungen legte die durch die Prozessbevollmächtigte vertretene Klägerin fristgerecht Einspruch ein. Außerdem stellte sie weitergehende Billigkeitsanträge.
13Zur Begründung ihres Einspruchs trug sie vor, die beiden unter Schätzung der Besteuerungsgrundlagen ergangenen Bescheide seien nichtig, da sie an einem besonders schwerwiegenden Fehler litten und dies bei verständiger Würdigung offenkundig sei.
14Der Beklagte habe bewusst und willkürlich zu ihrem Nachteil geschätzt und nicht – wie bei der Veranlagung für das Vorjahr 2015 – von der Möglichkeit einer Festsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung Gebrauch gemacht.
15Nach den einschlägigen Verwaltungsvorschriften, insbesondere Tz. 4 des Anwendungserlasses zur Abgabenordnung – AEAO –, habe die Finanzverwaltung ihr Ermessen dahingehend gebunden, dass bei Schätzung der Besteuerungsgrundlagen wegen Nichtabgabe der Steuererklärung die Steuer regelmäßig unter Nachprüfungsvorbehalt festzusetzen sei, wenn der Fall für eine eventuelle spätere Überprüfung offengehalten werden solle. Der Beklagte hätte daher bei weisungsgemäßer Ermessensausübung die Umsatzsteuerfestsetzung unter den Vorbehalt der Nachprüfung stellen müssen, da sie stets – wenn auch verspätet – ihre Steuererklärungen eingereicht habe.
16Der Beklagte habe für die gleichheitswidrige Abweichung von den Verwaltungsanweisungen keine triftigen Gründe vorgetragen. Außerdem weiche die durchgeführte Schätzung trotz vorhandener Möglichkeiten, den Sachverhalt aufzuklären, krass von den tatsächlichen Gegebenheiten ab. Es sei auch nicht ersichtlich, dass und gegebenenfalls welche Schätzungserwägungen angestellt worden seien. Somit sei von einer Strafschätzung auszugehen. Dies führe zur Nichtigkeit.
17Entgegen der Handhabung des Beklagten müsse es das Ziel der Schätzung sein, die Besteuerungsgrundlagen annähernd zutreffend zu ermitteln. Die Schätzung dürfe nicht dazu verwendet werden, Verstöße gegen die Steuererklärungspflicht zu sanktionieren. Der Beklagte habe aber im Streitfall den von ihr nachträglich erklärten Umsatz im Umsatzsteuer-Schätzungsbescheid um mehr als 50 % erhöht, ohne dass sich dafür aus den Steuerakten auch nur ansatzweise Anhaltspunkte ergeben hätten. Selbst der steuerpflichtige Vorjahresumsatz sei um knapp 30 % erhöht worden. Auch die Einkünfte wichen um mehr als 50 % von den zutreffenden Werten ab.
18Die Verspätung bei der Abgabe der Steuererklärungen beruhe auf der stetigen Überforderung als zunächst alleinerziehende Mutter dreier Kinder und seit ihrer Eheschließung im Jahr 2017 mit fünf Kindern in einer Patchworkfamilie. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Schriftsatz vom 15.08.2018 verwiesen.
19Der Beklagte lehnte die Feststellung der Nichtigkeit ab. Er verwies darauf, dass Schätzungsergebnisse in Anbetracht der fehlenden Kenntnis von den tatsächlichen Verhältnissen regelmäßig von diesen abwichen. Die Voraussetzungen für die Nichtigkeit einer Schätzung lägen im Streitfall nicht vor. Die geschätzten Besteuerungsgrundlagen hätten im Bereich des Möglichen gelegen. Die Steuerlast sei letztendlich gezahlt worden. Selbst wenn Mängel bei der Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen vorgelegen hätten und das Ermessen hinsichtlich der Frage der Setzung des Vorbehaltes der Nachprüfung fehlerhaft ausgeübt worden sein sollte, wären die Bescheide lediglich fehlerhaft, aber nicht nichtig.
20Im Verlauf des weiteren Einspruchs- und Erlassverfahrens beantragte die Klägerin unter Bezugnahme auf diverse Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union – EuGH – Einsicht in die Verwaltungsakten.
21Weitere Ausführungen betreffen die Frage, ob die nationalen Verfahrensvorschriften unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH, insbesondere der Entscheidung Zabrus Siret SRL (Urteil vom 26. April 2018 C-81/17, HFR 2018, 508) im Umsatzsteuerrecht noch angewendet werden dürfen. Nach Überzeugung der Klägerin ist insbesondere § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO im Hinblick auf die höheren Anforderungen als bei einer Änderung zum Nachteil des Steuerpflichtigen nicht mehr anwendbar. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Schriftsatz vom 22. Oktober 2018 Bezug genommen.
22Der Beklagte trat der angenommenen Nichtigkeit mit Schriftsatz vom 8. Februar 2019 weiterhin entgegen. Er verwies auf die ständige Rechtsprechung des BFH, wonach selbst grobe Schätzungsfehler keine gravierenden Nichtigkeitsgründe darstellten. Überhöhte Schätzungen könnten allenfalls dann zur Nichtigkeit führen, wenn sie bewusst völlig überzogen zum Nachteil des Steuerpflichtigen vorgenommen würden. Eine derartige Situation sei im Streitfall nicht gegeben. Als Grundlage der Schätzungen hätten nur die Veranlagungen für die beiden Vorjahre herangezogen werden können, da die Klägerin nicht zur Abgabe von Umsatzsteuervoranmeldungen verpflichtet gewesen sei.
23Im einzigen vollständigen Bezugsjahr, dem Jahr 2015, seien steuerpflichtige Umsätze von 21.378 € und steuerfreie Umsätze von 4.067 € erzielt worden. Die im Schätzungsbescheid berücksichtigten Umsätze von 30.000 € (steuerpflichtig) und 5.000 € (steuerfrei) stellten daher keine grobe und offenkundige Fehlschätzung dar. Auch die Schätzung des Gewinns mit 25.000 € sei in Anbetracht des Vorjahresergebnisses von 17.928,55 € und den nach der Unternehmensgründung im Jahr 2014 anzunehmenden Umsatz- und Gewinnsteigerungen von einer überhöhten Strafschätzung weit entfernt.
24Auch die Tatsache, dass die Bescheide ohne Vorbehalt der Nachprüfung ergangen seien, könne nicht zu deren Nichtigkeit führen. Anderes ergebe sich auch nicht aus der angeführten Rechtsprechung des EuGH.
25Soweit die Klägerin weiterhin Akteneinsicht begehre, wurde sie gebeten, die zuständige Sachbearbeiterin der Rechtsbehelfsstelle des Beklagten zwecks weiterer Absprachen zu kontaktieren.
26Abschließend trug die Klägerin vor, aus der Anmerkung bei der Umsatzsteuerschätzung für das Streitjahr „2015 Schätzung zu niedrig“ ergebe sich, dass die vorgenommene Schätzung der Besteuerungsgrundlagen zur Umsatzsteuer 2016 eine Strafschätzung und ein Druckmittel zur Abgabe der Erklärung darstelle. Auch sei die Schätzung der Besteuerungsgrundlagen für 2016 ohne Schätzung von Vorsteuern erfolgt.
27Der Beklagte traue einer alleinerziehenden Mutter von drei Kindern eine übermäßige Arbeitsaktivität in einem tendenziell ertragsschwachen Beruf zu. Im Übrigen kündigte die Klägerin an, im Klageverfahren zu beweisen, dass der Beklagte eine Strafschätzung vorgenommen und die Rechtsprechung des EuGH zur diskriminierungsfreien Anwendung von Korrekturvorschriften missachtet habe.
28Der Beklagte wies die Einsprüche mit verbundener Einspruchsentscheidung vom 30. August 2019 als unbegründet zurück. Unter Bezugnahme auf die bereits im vorangegangenen Schriftverkehr dargestellten zahlenmäßigen Verhältnisse zwischen den Veranlagungen 2015 und 2016 vertrat er die Auffassung, es liege kein besonders schwerer Fehler, der bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig gewesen sei, vor. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Einspruchsentscheidung Bezug genommen, die auch den neuen steuerlichen Vertretern der Klägerin zur Kenntnis gegeben wurde.
29Dagegen wendet sich die Klägerin mit fristgerecht erhobener Klage. Mit ihr verfolgt sie weiterhin das Ziel erklärungsgemäßer Festsetzungen.
30Die Klägerin hält die Schätzungen des Beklagten unter Hinweis auf die Anmerkungen bei der Umsatzsteuer 2016 weiterhin für sogenannte Strafschätzungen. Es liege ein zur Nichtigkeit führender Fall einer subjektiven Willkürmaßnahme vor. Dabei sei auch zu beachten, dass keine Vorsteuer geschätzt worden sei. Beim Vergleich der geschätzten Besteuerungsgrundlagen mit den richtigen Besteuerungsgrundlagen ergäben sich erhebliche Abweichungen. Damit widerspreche die Schätzung den aus der Aktenlage erkennbaren Fakten.
31Zudem seien auch die Grundsätze der Neutralität der Mehrwertsteuer, der Effektivität und der Verhältnismäßigkeit der Mehrwertsteuersystemrichtlinie – MwStSystRL – ignoriert worden. Insoweit beruft sich die Klägerin auf die unmittelbare Anwendbarkeit der Vorschriften über den Vorsteuerabzug und die Möglichkeiten des Nachweises von Vorsteuern ohne Rechnungen. Wegen der weiteren Einzelheiten, die weitgehend dem außergerichtlichen Vorbringen entsprechen, wird auf die Klageschrift verwiesen.
32Im Weiteren hat die Klägerin ausführlich unter Bezugnahme auf die herrschende Meinung zur Anwendung der Schätzungsregelung in § 162 AO zu den Kriterien einer sachgerechten Schätzung vorgetragen. Ihres Erachtens weichen die hier streitbefangenen Schätzungen krass von den tatsächlichen Gegebenheiten ab und müssten als willkürliche Hoheitsakte im Sinne einer nichtigen Steuerfestsetzung angesehen werden. So sei aus den Steuerakten nicht erkennbar, welche konkreten Schätzungserwägungen der Beklagte angestellt habe. Insbesondere der Vermerk „ 2015 Schätzung zu niedrig“ zeige auf, dass bewusst zu ihrem Nachteil geschätzt worden sei. Hinzu komme das Unterlassen des Vorbehalts der Nachprüfung. Es sei zwar nicht völlig abwegig anzunehmen, dass die Einkünfte 2016 höher gewesen seien als die der Vorjahre. Die vorgenommenen Schätzungen sanktionierten jedoch die Verletzung der Steuererklärungspflichten und seien damit eindeutig Strafschätzungen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Schriftsatz vom 14. Februar 2020 verwiesen.
33Mit Schriftsatz vom 11. Mai 2020, der allen Richtern im Rahmen der Beratung vorgelegen hat, hat die Prozessbevollmächtigte nochmals die Abläufe im Zusammenhang mit der Versäumung der Einspruchseinlegung dargestellt (Blatt 76/77d. A.). Wegen der Einzelheiten wird auf den Schriftsatz Bezug genommen.
34Letztlich tritt die Klägerin dem Argument des Beklagten entgegen, die Schätzung könne auf den Erfassungsbogen anlässlich der Betriebseröffnung gestützt werden. Als nicht beratene Steuerpflichtige habe sie ihre Möglichkeiten zu positiv eingeschätzt (Blatt 88/89 d. A.)
35Die Klägerin beantragt sinngemäß,
36den Beklagten zu verpflichten, unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 30. August 2019 die Bescheide über Umsatzsteuer 2016 und Feststellung von Besteuerungsgrundlagen aus selbstständiger Arbeit 2016 vom 30. April 2018 nach Maßgabe der vorgelegten Steuererklärungen zu ändern.
37Der Beklagte beantragt,
38die Klage abzuweisen.
39Er tritt der Klage entgegen. Zur Begründung verweist er zunächst auf die Einspruchsentscheidung. Wie bereits im außergerichtlichen Verfahren ausgeführt, seien die beiden Bescheide mangels Anfechtung innerhalb der Einspruchsfrist bestandskräftig geworden. Gründe, von einer Nichtigkeit der Bescheide auszugehen, bestünden entgegen der Auffassung der Klägerin nicht.
40Er, der Beklagte, habe die Schätzung anhand der Vorjahre und dem Fragebogen zur steuerlichen Erfassung durchgeführt. Insoweit verweist er auf die im außergerichtlichen Verfahren bereits dargestellten Zahlenrelationen.
41Auch die unterlassene Schätzung von Vorsteuern stelle in Anbetracht der im Vorjahr geltend gemachten Vorsteuern von 33,90 € keinen gravierenden Fehler dar.
42Soweit die Klägerin auf ihre persönlichen Verhältnisse verweise, seien diese dem Beklagten unbekannt. Er sei lediglich für die Einkünftefeststellung zuständig. Die für die Einkommensteuer relevanten Daten seien nur dem Wohnsitzfinanzamt C bekannt.
43Letztlich verweist der Beklagte darauf, dass die Bescheide der Prozessbevollmächtigten der Klägerin als Empfangsbevollmächtigter zugegangen seien. Diese habe die Möglichkeit, fristgerecht Einspruch einzulegen, versäumt. Es werde der Anschein erweckt, dass trotz der versäumten rechtzeitigen Einlegung des Einspruchs nun über den Antrag auf Feststellung der Nichtigkeit, eine Änderung der Bescheide erreicht werden solle. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Klageerwiderung vom 11. November 2019 Bezug genommen.
44Mit Schreiben vom 7. Mai und 17. Juni 2020 haben die Beteiligten auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
45Entscheidungsgründe
46Die Klage ist unbegründet. Die Entscheidung des Beklagten, eine Änderung der unter Schätzung der Besteuerungsgrundlagen ergangenen Bescheide bzw. eine erstmalige (wirksame) Veranlagung wegen Nichtigkeit dieser Bescheide abzulehnen, ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§§ 100 Abs. 1 Satz 1, 101 der Finanzgerichtsordnung – FGO –).
47Der Beklagte hat zunächst die im Juli 2018 vorgelegten Steuererklärungen zu Recht als Anträge auf erklärungsgemäße Veranlagung bzw. als Anträge auf Änderung der bereits im April 2018 versandten Bescheide und nicht als Einsprüche gegen diese Bescheide ausgelegt.
48Die mit einfachem Brief versandten Bescheide galten nach § 122 Abs. 2 AO als am 3. Mai 2018 bekannt gegeben. Die Einspruchsfrist war somit am 4. Juni 2018, einem Montag, abgelaufen. Im Hinblick auf die Ende Juli 2018 seit ca. acht Wochen abgelaufene Rechtsbehelfsfrist wäre eine Auslegung als Einspruch auch unter dem Gesichtspunkt der rechtsschutzwahrenden Auslegung von Rechtshandlungen nicht sinnvoll gewesen. Dagegen sprachen zudem die gleichzeitigen Anträge auf Stundung von Umsatzsteuer und des Erlasses des Verspätungszuschlages.
49Anhaltspunkte für eine Auslegung der Steuererklärungen als fristungebundene Einsprüche gegen nichtige Verwaltungsakte bestanden zu diesem Zeitpunkt nicht. Zwar können nichtige Verwaltungsakte nach wohl herrschender Meinung (vgl. dazu BFH-Urteil vom 17. Juli 1986 V R 96/85, BStBl II 1986, 834; Ratschow in Klein, AO, 15. Aufl., 2020, § 125 Rdnr. 23; Siegers in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 355 AO Rdnr. 18; Rozek in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 125 AO Rdnr. 107, jeweils m.w.N.) auch nach Ablauf der Rechtsbehelfsfrist wegen des von ihnen ausgehenden Rechtsscheins mit dem Einspruch angefochten werden. Bei Eingang der Steuererklärungen bestand aber insbesondere im Hinblick auf die gleichzeitigen förmlichen Anträge auf Stundung und Erlass kein Anhaltspunkt für eine derartige Auslegung der Erklärungen. Anträge auf Aussetzung der Vollziehung der Schätzungsbescheide wurden nicht gestellt.
50Folgerichtig ist die gegen die Ablehnungsentscheidung des Beklagten in Gestalt der Einspruchsentscheidung gerichtete Klage in Übereinstimmung mit der Behandlung im außergerichtlichen Verfahren als Antrag auf Verpflichtung des Beklagten zur erklärungsgemäßen Veranlagung zur Umsatzsteuer und zur gesonderten Feststellung 2016 auszulegen.
51Die dahingehend ausgelegte Klage hat aber weder als Antrag auf erstmalige Veranlagung nach zwar formal bestandskräftigen, aber nichtigen Ausgangsbescheiden (I.) noch als Antrag auf Änderung nach den §§ 164, 165 172 ff. AO (II.) Erfolg. Beides hat der Beklagte wegen der entgegenstehenden bestandskräftigen Bescheide zu Recht abgelehnt.
52I. Ein erfolgreicher Antrag auf erstmalige Veranlagung setzte voraus, dass den formal bestandskräftigen Schätzungsbescheiden keine Sperrwirkung zukäme, von ihnen also infolge von Nichtigkeit keine Rechtswirkungen ausgingen. Davon kann im Streitfall nicht ausgegangen werden. Die unter Schätzung der Besteuerungsgrundlagen ergangenen Bescheide vom 30. April 2018 sind vielmehr wirksam.
53Grundsätzlich wird ein Verwaltungsakt gegenüber demjenigen, für den er bestimmt ist, in dem Zeitpunkt wirksam, in dem er ihm bekannt gegeben wird. Dabei kann – wie im Streitfall – nach § 122 Abs. 1 Satz 3 AO der Verwaltungsakt auch gegenüber einem Bevollmächtigten bekannt gegeben werden. Insoweit besteht hier kein Streit.
54Grundsätzlich bleibt ein Verwaltungsakt wirksam, solange und soweit er nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist (§ 124 Abs. 2 AO). Demgegenüber ist ein nichtiger Verwaltungsakt im Sinne des § 125 AO nach § 124 Abs. 3 AO unwirksam.
55Nach § 125 Abs. 1 AO ist ein Verwaltungsakt nichtig, soweit er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig ist.
56Auch bei Steuerverwaltungsakten, die auf geschätzten Besteuerungsgrundlagen beruhen, ist das Vorliegen eines besonders schweren Fehlers und dessen Offenkundigkeit aus der Perspektive eines unvoreingenommenen, verständigen Durchschnittsbetrachters Voraussetzung der Nichtigkeit (vgl. dazu Rozek a.a.O. § 125 AO Rdnr. 71; Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 125 AO Rdnr. 6; BFH-Urteil vom 23. August 2000 X R 27/98, BStBl II 2001, 662). Dabei ist zu beachten, dass Schätzungsbescheide nicht auf den tatsächlich verwirklichten Sachverhalten beruhen. Dass die im Schätzungsbescheid festgesetzte Steuerschuld daher die tatsächliche Steuerschuld überschreiten kann, ist einem Schätzungsbescheid immanent (vgl. Frotscher in Schwarz/Pahlke, AO, § 125 Rdnr. 2h m.w.N.).
57Ein zur Nichtigkeit führender besonders schwerer Fehler kann bei fehlerhaften Schätzungen anzunehmen sein, wenn sich die Finanzbehörde nicht entsprechend ihrem gesetzlichen Auftrag an den wahrscheinlichen Besteuerungsgrundlagen orientiert, sondern bewusst aus sachfremden Erwägungen zum Nachteil des Steuerpflichtigen geschätzt hat (vgl. jeweils m.w.N. bei Rozek a.a.O. § 125 AO Rdnr. 48; Ratschow a.a.O. § 125 Rdnr. 13; Seer a.a.O. § 125 AO Rdnr. 14; ; Frotscher a.a.O. § 125 Rdnr. 2h; BFH-Beschluss vom 12. Dezember 2013 X B 205/12, BFH/NV 2014, 490, jeweils m.w.N.). Willkürlich und damit nichtig ist ein Schätzungsbescheid zudem, wenn das Schätzungsergebnis trotz der vorhandenen Möglichkeiten, den Sachverhalt aufzuklären, krass von den tatsächlichen Gegebenheiten abweicht und in keiner Weise erkennbar ist, dass überhaupt und ggf. welche Schätzungserwägungen angestellt wurden, wenn somit ein „objektiv willkürlicher Hoheitsakt“ vorliegt (vgl. BFH-Beschluss vom 20. Oktober 2005 IV B 65/04, BFH/NV 2006, 240 m.w.N.).
58Demgegenüber liegt eine rechtmäßige Steuerfestsetzung auf der Basis geschätzter Besteuerungsgrundlagen vor, wenn die Finanzbehörde sich bei einem Steuerpflichtigen, der seiner Erklärungspflicht nicht genügt, an der oberen Grenze des Schätzungsrahmens orientiert, weil der Steuerpflichtige möglicherweise Einkünfte verheimlichen will (vgl. BFH-Urteil vom 20. Dezember 2000 I R 50/00, BStBl II 2001, 381; BFH-Beschluss vom 6. August 2018 X B 22/18, BFH/NV 2018, 1237 m.w.N.).
59In der vom BFH angenommenen dreigestuften Abfolge (vgl. dazu BFH, BFH/NV 2018, 1237 Rdnr. 17; BFH-Urteil vom 15. Juli 2014 X R 42/12, BFH/NV 2015, 145) ist demnach eine Schätzung, die sich am oberen Rand des vom Einzelfall abhängigen Schätzungsrahmens orientiert, grundsätzlich rechtmäßig (erste Stufe).
60Verlässt eine überzogene Schätzung diesen Rahmen nach oben oder unten (zweite Stufe), hat dies im Allgemeinen nur die Rechtswidrigkeit der Schätzung, nicht aber bereits deren Nichtigkeit zur Folge. Nichtigkeit ist selbst bei groben Schätzungsfehlern, die auf einer Verkennung der tatsächlichen Gegebenheiten oder der wirtschaftlichen Zusammenhänge beruhen, regelmäßig nicht anzunehmen (vgl. BFH, BStBl II 2001, 381; BFH, BFH/NV 2006, 240; BFH, BFH/NV 2018, 1237; Rüsken in Klein, AO, § 162 Rdnr. 63; Rozek a.a.O. § 125 AO Rdnr. 47; Ratschow a.a.O. § 125 Rdnr. 13; jeweils m.w.N.).
61Erst wenn die insoweit fehlerhafte Schätzung darauf beruht, dass sich die Finanzbehörde entgegen dem Regelungsauftrag in § 162 Abs. 1 AO nicht an den wahrscheinlichen Besteuerungsgrundlagen orientiert, sondern bewusst zum Nachteil des Steuerpflichtigen geschätzt hat, kann – unter den oben bereits dargestellten Voraussetzungen – ein zur Nichtigkeit führender besonders schwerer Fehler im Sinne des § 125 Abs. 1 AO vorliegen (dritte Stufe; vgl. dazu BFH in BFH/NV 2018, 1237 Rdnr. 17 m.w.N.).
62Danach liegen im Streitfall keine überzeugenden Anhaltspunkte für eine Nichtigkeit der beiden streitbefangenen Bescheide vor.
63An der dem Grunde nach gegebenen Schätzungsbefugnis hinsichtlich der maßgeblichen Besteuerungsgrundlagen für die Einkünftefeststellung und die Umsatzsteuer der Steuerschuldnerin gemäß § 162 AO besteht nach den übereinstimmenden Darstellungen beider Verfahrensbeteiligter zum Erklärungsverhalten kein Zweifel. Die Klägerin hatte im April 2018 die Steuererklärungen für das Jahr 2016, die bei Vertretung durch eine Steuerberaterin bis zum 31. Dezember 2017 abzugeben waren, noch nicht abgegeben. Die Erklärungen für das Vorjahr 2015 waren erst im März 2018 abgegeben worden. Auch für das Jahr 2014 waren die Erklärungen erst nach Schätzung der Besteuerungsgrundlagen eingereicht worden. Es liegt ein Fall notorischer Verstöße gegen die Deklarationspflichten vor.
641. Im Ergebnis hat die Klägerin nichts Durchgreifendes vorgetragen, was auf eine Nichtigkeit der Bescheide im Sinne des § 125 Abs. 1 AO wegen krasser inhaltlicher Fehler schließen ließe.
65Dies gilt zunächst für die speziell hinsichtlich der Umsatzsteuer erhobenen Einwendungen der Klägerin.
66Der Schluss, aus der Anmerkung in der Umsatzsteuerakte „2014-2015 bereits geschätzt, 2015 Schätzung zu niedrig“, könne geschlossen werden, dass sachwidrige Überlegungen Ausgangspunkt der Schätzung gewesen seien, wird von den Tatsachen nicht getragen.
67Der Beklagte hatte die Umsatzsteuer für 2015 mit 3.700 € festgesetzt. Das Ergebnis der nachgereichten Deklaration waren 4.027,92 €. Darauf bezieht sich offensichtlich die Aussage des Beklagten. Sie ist zwar, da sie sich verkürzt auf die Steuerfestsetzung und nicht auf die Schätzung der Besteuerungsgrundlagen bezieht, insofern „falsch“, als es richtigerweise hätte heißen müssen: Vorsteuer zu hoch geschätzt, daher Umsatzsteuer zu niedrig. Im Ergebnis kann jedoch aus der Aussage nicht auf eine sachwidrige Einstellung geschlossen werden.
68Auch der Einwand, die Schätzung der Besteuerungsgrundlagen bei der Umsatzsteuer ohne Schätzung von Vorsteuern führe zur Nichtigkeit, da die unterlassene Schätzung von Vorsteuern einen bewusst zum Nachteil der Klägerin vorgenommenen Schätzungsfehler indiziere, verfängt nicht.
69Zunächst ist zu beachten, dass von der Klägerin im Vorjahr 2015 lediglich Vorsteuern in Höhe von ca. 34 € deklariert worden sind. Das Unterlassen einer Vorsteuerschätzung wirkte sich daher aus Sicht des Beklagten voraussichtlich nur in diesem Bagatellbereich aus.
70Unabhängig davon ist es streitig, ob Vorsteuern, für die das Umsatzsteuerrecht (vgl. § 15 Abs. 1 des Umsatzsteuergesetzes – UStG –) die Existenz ordnungsgemäßer Rechnungen mit offenem Vorsteuerausweis zur Voraussetzung macht, überhaupt geschätzt werden dürfen oder ob § 15 UStG die Anwendung des § 162 AO insoweit ausschließt (vgl. dazu Rüsken a.a.O. § 162 Rdnr. 17a; Seer a.a.O. § 162 AO Rdnr. 27 m.w.N.; Oellerich in Gosch, AO/FGO, § 162 AO Rdnr. 131).
71Bei dieser Ausgangslage sieht der Senat weder hinsichtlich der betroffenen Beträge noch in der Unterlassung einer Vorsteuerschätzung – unter Berücksichtigung der einschlägigen Kommentierung zur Frage der Zulässigkeit einer derartigen Schätzung – Anhaltspunkte für eine Strafschätzung.
72Auch die generell zur Höhe der Schätzungen unter Berücksichtigung der Bedingungen des Streitfalls erhobenen Einwendungen sind nicht geeignet, eine Nichtigkeit der beiden Schätzungsbescheide zu begründen.
73Dem Einwand, eine alleinerziehende Mutter mit drei Kindern könne derartige Umsätze nicht erzielen und dies hätte der Beklagte erkennen müssen, ist entgegenzuhalten, dass der Beklagte nur für das Feststellungsverfahren und die Umsatzsteuer zuständig ist. Die persönlichen Umstände der Klägerin sind erst im Rahmen des Rechtsbehelfsverfahrens vorgetragen worden. Es liegt im Wesen der isolierten Zuständigkeit für Umsatzsteuer und Gewinnfeststellung, dass dem nur nach den §§ 18, 21 AO zuständigen Finanzamt die persönlichen Verhältnisse der Steuerpflichtigen regelmäßig unbekannt sind und auch im Zusammenhang mit Schätzungsveranlagungen nicht aufgeklärt werden müssen. Unabhängig davon hätten die geschätzten Umsätze auch im Rahmen einer Teilzeittätigkeit erzielt werden können. Insoweit wird auf die nachfolgenden Ausführungen zum erforderlichen Arbeitseinsatz verwiesen.
74Wenn man das Verhalten der Klägerin sowie die Entwicklung in ihrem Unternehmen betrachtet, ergibt sich auch aus der Höhe der Gewinn- und Umsatzschätzung kein Anhaltspunkt für bewusste grobe Schätzungsfehler.
75Auf das Jahr der Gründung (2014) mit 21.865 € Betriebseinnahmen als Kleinunternehmerin folgte das Jahr 2015 mit Brutto-Betriebseinnahmen von 29.507 €. Die steuerlichen Gewinne stiegen von ca. 11.700 € (2014) auf ca. 17.900 € (2015). Der Gewinn ist vom Jahr der Eröffnung zum zweiten Jahr um ca. 50 % gesteigert worden. Eine entsprechende, allerdings etwas geringere Steigerung hat der Beklagte auch für das Streitjahr 2016 angenommen. Dies ist aus Sicht des Senats unter Berücksichtigung der gleichzeitig angenommenen Umsatzerhöhung stimmig.
76Dabei ist zu beachten, dass die Klägerin (erst) im Oktober 2017 den Fragebogen zur steuerlichen Erfassung eingereicht hatte und dabei ihre (voraussichtlichen) Einkünfte in den Jahren 2014 mit 3.000 € (2014) und 8.000 € (2015) und die Umsätze mit voraussichtlich 20.000 € (2014) und 25.000 € (2015) angegeben hatte.
77Die Klägerin gab also im Oktober 2017 und damit über zwei Jahre nach Ablauf des Veranlagungszeitraums 2014 ihre „voraussichtlichen“ Einkünfte für dieses Jahr mit 3.000 € an, obwohl sie tatsächlich 11.700 € erzielt hatte. Für das Jahr 2015, für die die Besteuerungsgrundlagen im Jahr 2017 ebenfalls längst feststanden, „prognostizierte“ die Klägerin im Oktober 2017 einen Gewinn von 8.000 €, obwohl ein mehr als doppelt so hoher Gewinn erzielt worden war.
78Im Zeitpunkt des Erlasses der Schätzungsbescheide im April 2018 lag es daher aus Sicht des Beklagten nahe, davon auszugehen, dass die Klägerin ihre im Streitjahr erzielten Umsätze und Gewinne nicht aufdecken wollte.
79Bei dieser Ausgangslage war eine Schätzung der Betriebseinnahmen an der oberen Grenze der von ihm erwarteten Umsätze – erneut wie bereits für das Jahr 2015 – mit 30.000 € steuerpflichtigen und erstmalig, nach für das Vorjahr deklarierten ca. 4.000 €, mit 5.000 € steuerfreien Leistungen, im Ergebnis also mit Brutto-Betriebseinnahmen von 40.700 € keinesfalls außerhalb möglicher und erwartbarer Steigerungen nach Etablierung einer Praxis als I. Selbst die Klägerin hat zugestanden, dass die Annahme höherer Umsätze als im Vorjahr, nicht generell von der Hand zu weisen sei.
80Auch das Verhältnis der steuerpflichtigen zu den steuerfreien Umsätzen lässt keine unsachliche Einstellung erkennen. Es entspricht vielmehr ungefähr dem Verhältnis, wie es sich aus den Deklarationen der Klägerin selbst ergibt.
81Zudem liegt die Schätzung der Betriebseinnahmen des Streitjahrs auf der Basis der für jeden Monat anzusetzenden Einnahmen durchaus im Bereich des Erwartbaren, ist also sachgerecht. Wenn man davon ausgeht, dass die Betriebseinnahmen – unter Berücksichtigung des Umsatzausfalls Selbstständiger bei Urlaub – in elf Monaten erzielt werden mussten, hat der Beklagte monatliche Bruttoeinnahmen von 3.700 € (x 11 Monate) geschätzt. Ausgehend von der Gebührenordnung für I erscheint der Ansatz eines Umsatzes von 40 € bis 45 € pro Stunde realistisch.
82Die Erzielung eines monatlichen Umsatzes von 3.700 € setzte daher zwischen ca. 82 (45 €/Stunde) und ca. 92 abrechenbare Arbeitsstunden (40 €/Stunde) im Monat voraus. Das entspricht 20 bis 22 abrechenbaren Arbeitsstunden pro Woche. Wenn man davon ausgeht, dass bei Heilberufen auch sehr viel höhere Einsatzzeiten als ca. 4 Stunden pro Tag üblich sind (vgl. z.B. das Urteil des Finanzgerichts Hamburg vom 10. September 2013 3 K 80/13, juris mit zehn Arbeitsstunden bei Physiotherapeuten), erweist sich die Schätzung des Beklagten auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Klägerin zuvor als X tätig war, jedenfalls nicht als objektiv fehlerhaft.
83Auch das Verhältnis der Schätzungen bei der Umsatzsteuer und bei der Gewinnfeststellung lässt keine unsachliche Einstellung des Beklagten, die den Rückschluss auf eine subjektive Willkürmaßnahme zuließe, erkennen. Die Bescheide sind stimmig. Insbesondere das Verhältnis von Umsätzen zu Gewinn ist dem des Vorjahres ähnlich. Die Annahme, dass bei höheren Umsätzen von Dienstleistern der Gewinnanteil steigt, ist ebenfalls realistisch. In der Regel geht mit der höheren Wertschöpfung durch die eigene Arbeit keine entsprechende Steigerung der Betriebsausgaben einher.
84Dass tatsächlich Umsatz und Gewinn bei der Klägerin im Streitjahr gesunken waren, konnte der Beklagte – anders als bei Steuerpflichtigen, die Umsatzsteuervoranmeldungen abgeben – nicht erkennen.
85Auch das Verhalten der Prozessbevollmächtigten macht deutlich, dass die Schätzung nicht abseitig war. Bei einer offensichtlich unhaltbaren Schätzung hätte die Bevollmächtigte in Wahrnehmung ihres Amtes – ungeachtet einer eventuell auf § 164 AO gestützten Änderungsbefugnis – Einspruch einlegen und Aussetzung der Vollziehung beantragen müssen. Tatsächlich war die Prozessbevollmächtigte aber im Zeitpunkt des Eingangs des Schätzungsbescheides wahrscheinlich noch nicht im Besitz der erforderlichen Unterlagen für die Erstellung der Jahreserklärungen, ihr dürfte also – wie dem Beklagten – der Umsatz- und Gewinnrückgang noch unbekannt gewesen sein.
86Insbesondere der Bescheid zur Umsatzsteuer führte außerdem zu einer nicht unerheblichen Zahllast. Dass auch die Klägerin nicht innerhalb der Einspruchsfrist, die der Frist für die Fälligkeit entspricht, auf den Bescheid reagiert hat, lässt es zumindest möglich erscheinen, dass auch sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht von einer so erheblichen Abweichung zu den tatsächlichen Besteuerungsgrundlagen ausgegangen ist.
872. Letztlich führt auch die von der Prozessbevollmächtigten zu Recht in das Zentrum der Argumentation gestellte Entscheidung des Beklagten, die unter Schätzung der Besteuerungsgrundlagen ergangenen Bescheide nicht unter den Vorbehalt der Nachprüfung zu stellen, nicht zur Nichtigkeit dieser Bescheide.
88Schätzungen nach § 162 AO können unter dem Vorbehalt der Nachprüfung nach § 164 AO oder unter Vorläufigkeitsvermerk nach § 165 AO ergehen, sie können aber auch endgültig sein (vgl. z.B. Frotscher in Schwarz/Pahlke, AO/FGO, § 162 AO Rdnr. 158 m.w.N.; Trzaskalik in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 162 AO Rdnr. 41; Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 162 Rdnr. 100/101 m.w.N.).
89Keine der angesprochenen Vorschriften enthält Regelungen, die die Setzung eines Vorbehaltsvermerks im Sinne des § 164 AO zwingend vorschrieben. Vielmehr handelt es sich bei § 164 Abs. 1 AO um eine Ermessensvorschrift, wonach Steuern, vorausgesetzt, dass der Fall noch nicht abschließend geprüft worden ist, immer unter Vorbehalt der Nachprüfung festgesetzt werden können, die Steuerpflichtigen aber keinen Anspruch darauf haben (vgl. Seer a.a.O. § 164 AO Rdnr. 17 m.w.N.).
90Nach überwiegender Auffassung in der Literatur gibt es auch keinen in § 164 AO angelegten Grund, in Schätzungsfällen einen Anspruch auf Vorbehaltsfestsetzung zu bejahen, falls der Steuerpflichtige aus vertretbaren Gründen gehindert ist, eine ordnungsgemäße Steuererklärung einzureichen (vgl. Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 164 AO Rdnr. 22 m.w.N.; Rüsken in Klein, AO, § 164 Rdnr. 13a; Cöster in Koenig, AO, 3. Aufl., 2014 § 164 Rdnr. 29 m.w.N.; Frotscher a.a.O. § 164 AO Rdnr. 23).
91In der bisherigen Finanzgerichtsrechtsprechung ist ebenfalls ganz überwiegend – vorbehaltlich einer Selbstbindung der Verwaltung durch Verwaltungsanweisungen – ein Anspruch auf einen Vorbehalt der Nachprüfung bei Schätzungsveranlagungen abgelehnt worden (vgl. die Nachweise bei Seer a.a.O. § 162 AO Rdnr. 101 oder bei Cöster a.a.O. § 164 Rdnr. 29).
92Auch der erkennende Senat sieht keine Rechtsgrundlage für die Annahme, die Steuerpflichtigen hätten entgegen der eindeutigen Regelung in § 164 Abs. 1 AO einen ermessensungebundenen Anspruch auf Schätzungen unter dem Vorbehalt der Nachprüfung. Soweit Seer (in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 162 AO Rdnr. 101) rügt, die Pflicht zur Setzung des Vorbehaltes der Nachprüfung bei Schätzungsveranlagungen werde von der Rechtsprechung ohne tiefere Auseinandersetzung verneint, ist dem entgegenzuhalten, dass weder § 162 AO noch § 164 AO die Notwendigkeit einer tieferen Begründung erkennen lassen, da der endgültige Steuerbescheid – vorbehaltlich besonderer Regelungen wie z.B. in § 164 Abs. 1 Satz 2 AO – der gesetzliche Regelfall ist.
93Ursache einer (Voll-)Schätzung ist regelmäßig, vorbehaltlich einer völlig unverschuldeten Unmöglichkeit der Erklärungsabgabe, ein Verstoß gegen die in den Einzelsteuergesetzen geregelten Erklärungspflichten. Dabei sieht der Gesetzgeber in § 149 AO nunmehr für z.B. durch Steuerberater vertretene Steuerpflichtige eine Frist von 14 Monaten nach Ablauf des Jahres für die Abgabe der Erklärung vor (im Streitjahr noch zwölf Monate). Nur wenn der Steuerpflichtige innerhalb der gesetzlich oder behördlich (vgl. nunmehr § 149 Abs. 4 AO) vorgegebenen Fristen die Steuererklärung nicht abgibt, kann es zu einer (Voll-)Schätzung kommen.
94Eine Begründung für die Annahme, das Finanzamt dürfe auf diesen Pflichtenverstoß nur dann mit einem endgültigen Steuerbescheid reagieren, wenn es alle Erkenntnismittel, deren Beschaffung und Verwertung ihm zumutbar und möglich sei, auch ausgeschöpft habe, ist für den Senat nicht unmittelbar erkennbar, wenn man nicht die Grenzen der Zumutbarkeit sehr eng ziehen will. Natürlich muss ein Finanzamt z.B. bei der Schätzung der Jahresumsatzsteuer die ihm zugänglichen Umsatzsteuervoranmeldungen oder bei der Einkommensteuer Mitteilungen über Versicherungen, Renten oder Spenden berücksichtigen. Die ihm ebenfalls zugänglichen Informationen aus dem Internet oder anderen allgemein zugänglichen Informationsquellen muss das Finanzamt aber nicht heranziehen. Der Gesetzgeber hat die Aufgabe, diesen Sachverhalt beizubringen, in den Mitwirkungsvorschriften (vgl. §§ 90, 93 AO und hinsichtlich der Vollschätzung insbesondere §§ 149/150 AO i.V.m. den Regelungen in den Einzelsteuergesetzen, hier z.B. § 18 Abs. 3 UStG) vorrangig dem Steuerpflichtigen auferlegt.
95Auch die Aussage, die Schätzung dürfe nicht dazu verwendet werden, die Steuererklärungspflichtverletzung zu sanktionieren und den Kläger zur Abgabe der Erklärungen anzuhalten (vgl. Seer a.a.O. § 162 AO Rdnr. 101 und BFH-Urteil vom 20. Dezember 2000 I R 50/00, BStBl II 2001, 381), vermag den erkennenden Senat nur insoweit zu überzeugen, als auch nach seiner Überzeugung, die Schätzung nicht quasi als verdecktes Zwangsgeld (vgl. §§ 328, 329 AO) eingesetzt werden darf.
96Andere praktisch eintretende Sanktionierungen entsprechen demgegenüber dem gesetzlichen Konzept einer (Voll-)Schätzung wegen Verstoßes gegen die Erklärungspflichten. Sie gehören zu den zwangsläufigen Nebeneffekten einer gleichheits- und zeitgerechten Steuerfestsetzung unter Schätzung der Besteuerungsgrundlagen.
97Hat das Finanzamt die Steuer zu niedrig festgesetzt, ist die Hinterziehung von Veranlagungssteuern durch Unterlassen, soweit die Tat nicht bereits zuvor vollendet war, mit der Bekanntgabe des Schätzungsbescheides vollendet (vgl. z.B. BGH-Beschluss vom 22. August 2012 1 StR 317/12, wistra 2013, 65). Ist die Steuer zu hoch festgesetzt, ergibt sich eine mittelbare Sanktionierung entweder durch die Entstehung von Säumniszuschlägen (§ 240 AO) oder die Notwendigkeit, die entsprechenden Mittel zunächst an die Finanzbehörde abzuführen.
98Grundsätzlich haben Steuerpflichtige daher keinen Anspruch darauf, dass eine Schätzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung durchgeführt wird, damit sie Zeit gewinnen, die Steuererklärungen nach Ablauf der gesetzlichen Erklärungsfrist einzureichen (ebenso z.B. Frotscher a.a.O. § 164 Rdnr. 23; Oellerich a.a.O. § 164 AO Rdnr. 23 und 82; Heuermann a.a.O. § 164 AO Rdnr. 22).
993. Die im Streitfall nach Überzeugung des Senats gegebene Rechtswidrigkeit der streitbefangenen Bescheide wegen fehlerhafter Ermessensausübung des Beklagten führt ebenfalls nicht zur Nichtigkeit der Bescheide.
100Die Klägerin hat zwar zu Recht auf die Regelung in Tz. 4 des AEAO zu § 162 AO hingewiesen, wonach der Beklagte gehalten war, die Schätzungen unter Vorbehalt der Nachprüfung vorzunehmen, weil zu erwarten war, dass die Klägerin nach Erlass des Bescheids die Steuererklärung nachreichen werde.
101Dies gilt ebenso unter Berücksichtigung der Anweisung des Landesfinanzministeriums Nordrhein-Westfalen in der AO-Kartei NW, Karte 801 zu § 162 AO Rdnr. 3.2 a), wo unter Bezugnahme auf den AEAO ausgeführt wird: „Eine Vorbehaltsfestsetzung kommt hiernach stets in Betracht, wenn … zu erwarten ist, dass der Steuerpflichtige nach Erlass des Bescheids die Steuererklärung nachreicht. Diese Voraussetzung ist immer dann als erfüllt anzusehen, wenn … oder der Steuerpflichtige sich in der Vergangenheit zwar ständig hat schätzen lassen, die Steuererklärung aber regelmäßig nach Ergehen des Schätzungsbescheides, ggf. auch erst im Klageverfahren, nachgereicht hat.“
102Wie sich aus den weiteren Ausführungen in der Landesanweisung ergibt, werden Schätzungsbescheide programmgesteuert grundsätzlich unter dem Vorbehalt der Nachprüfung erlassen. Die weitere Darstellung erläutert, wie der Vorbehalt der Nachprüfung unterdrückt werden kann.
103Die insoweit angesprochenen allgemeinen ermessenslenkenden Verwaltungsvorschriften sind nach der vom Senat geteilten Rechtsprechung des BFH (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 26. September 2019 V R 36/17, BFH/NV 2020, 86 m.w.N.) bei der gerichtlichen Prüfung, ob die Finanzverwaltung ihre Ermessensentscheidung fehlerfrei, insbesondere willkürfrei getroffen hat, zu beachten.
104Der Senat lässt offen, ob die einschlägigen Verwaltungsanweisungen überhaupt sachgerecht waren, obwohl sie im Ergebnis zu einer durch die Verwaltung vorgenommenen Aufweichung der gesetzlichen Erklärungsfristen führen und den nach Erlass eines Schätzungsbescheides unter Vorbehalt der Nachprüfung inaktiv bleibenden Steuerpflichtigen sogar gegenüber dem Einspruch einlegenden privilegieren, da letzterer unstreitig mit der Aufhebung des Vorbehaltes im Rahmen der häufig kurzfristig ergehenden Einspruchsentscheidung (vgl. dazu Tz. 5 des AEAO zu § 367 AO) rechnen muss.
105Die allgemeinen Anweisungen erzeugten zumindest – wie auch im Streitfall – eine Erwartungshaltung bei Steuerpflichtigen und Steuerberatern, die in besonderer Weise das Risiko in sich trug, an sich gebotene Rechtsbehelfe zu unterlassen. Die Abweichung von der allgemeinen Anweisung erforderte daher zumindest eine nachvollziehbare Ausübung des Ermessens und eine entsprechende Begründung (vgl. § 121 Abs. 1 AO). Dies fehlt hier unstreitig und führt zur formellen Fehlerhaftigkeit der beiden Schätzungsbescheide.
106Die formelle Fehlerhaftigkeit der endgültigen Einkünfte- bzw. Steuerfestsetzung führt jedoch nicht zur Nichtigkeit der Bescheide. Es handelt sich nicht um einen so schwerwiegenden Mangel, dass die Steuerfestsetzung offensichtlich nicht zu beachten und damit nichtig wäre. Dies ergibt sich bereits daraus, dass Steuerfestsetzungen regelmäßig ohne Vorbehalt der Nachprüfung ergehen, so dass das Fehlen des Nachprüfungsvermerks als im Ermessen der Behörde stehender Ausnahmefall weder einen schwerwiegenden noch einen offensichtlichen Mangel darstellt (ebenso Finanzgericht München, Urteil vom 9. Dezember 2010 14 K 2836/09, AO-StB 2011, 329; Finanzgericht Nürnberg, Urteil vom 29. Juli 2008 2 K 1697/2007, SIS 084016; die dagegen gerichtete Nichtzulassungsbeschwerde wurde als jedenfalls unbegründet vom BFH mit Beschluss vom 31. März 2009 XI B 94/08, BFH/NV 2009, 1134 zurückgewiesen).
107II. Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Änderung der bestandskräftigen Bescheide vom 30. April 2018.
108Eine Änderung nach § 164 Abs. 2 AO scheidet mangels eines wirksamen Vorbehalts der Nachprüfung aus. Einer Änderung nach § 172 Abs. 1 Nr. 2 a AO steht der Ablauf der Monatsfrist entgegen.
109Eine Änderung nach § 173 AO scheidet im Streitfall aus, da die Klägerin ein grobes Verschulden (Vorsatz und/oder grobe Fahrlässigkeit) am verspäteten Bekanntwerden der Tatsachen, die zu einer niedrigeren Steuer führen würden, trifft.
110Die Steuererklärungen für 2016 waren grundsätzlich bei Einschaltung eines Steuerberaters spätestens am 31. Dezember 2017 abzugeben. Anhaltspunkte für weitergehende Fristverlängerungen bestehen hier nicht.
111Die Nichtabgabe von Steuererklärungen bis zum letzten Tag der Abgabefrist stellt nach ganz herrschender Meinung grobes Verschulden dar (vgl. von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 173 AO Rdnr. 280 m.w.N. zur Rechtsprechung des BFH; Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 173 AO Rdnr. 76 m.w.N.). Insbesondere bei Einschaltung eines Steuerberaters können auch vom Steuerpflichtigen zu betreuende Kinder nicht als Entschuldigung dienen. Das gilt auch für Alleinerziehende.
112Offenbleiben kann hier, ob auch die Rechtsprechung des BFH, wonach das Unterlassen eines – hier sachlich und berufsrechtlich (vgl. LG Düsseldorf, Urteil vom 14. April 2016 – 1 O 30/15 –, juris; LG Hamburg, Urteil vom 11. Mai 2005 651 StL 1/05, juris) gebotenen Einspruchs – bei der Frage des groben Verschuldens einzubeziehen ist, ebenfalls zur Feststellung groben Verschuldens führt (in diesem Sinne die ständige Rechtsprechung des BFH: Nachweise bei von Groll a.a.O. § 173 AO Rdnr. 280 a. E.; a. A. die überwiegende Literatur: Nachweise z.B. bei Loose a.a.O. § 173 AO Rdnr. 76b und bei von Groll a.a.O. § 173 AO Rdnr. 291).
113Der Anwendung des § 173 AO steht auch die Rechtsprechung des EuGH zur Frage der Effektivität des Vorsteuerabzugs, die ohnehin nur bei der Umsatzsteuer eine Relevanz im Umfang von 49,98 € entfalten könnte, nicht entgegen.
114Insbesondere die Entscheidung in dem Verfahren Zabrus Siret SRL (Urteil vom 26. April 2018 C-81/17, HFR 2018, 508) zum Anspruch auf Berücksichtigung von Vorsteuern lassen nach Überzeugung des erkennenden Senats keine Rückschlüsse auf die Anwendung des § 173 AO bei der Festsetzung der Umsatzsteuer zu.
115Die Steuerpflichtige in dem Verfahren Zabrus Siret war für zwei Zeiträume im Jahr 2014 von der rumänischen Finanzverwaltung geprüft worden. Dabei waren Vorsteuern aus Rechnungen wegen Mängeln nicht anerkannt worden. Diese Rechnungen waren im Februar und April 2015 in korrigierter Fassung wieder vorgelegt worden. Nach rumänischem Recht konnten Vorsteuern, die Umsätze aus dem geprüften Jahr 2014 betrafen, wegen der abgeschlossenen Prüfung nicht mehr geltend gemacht werden. In diesem Kontext hat der EuGH lediglich entschieden, dass die Ahndung der Nichtbefolgung von Aufzeichnung- und Erklärungspflichten nicht mit der Versagung des Abzugsrechts geahndet werden darf (vgl. Rdnr. 37 der Entscheidung).
116Das hat keine Auswirkungen auf den Streitfall, da hier die Frage der Bestandskraft einer Veranlagung unter Schätzung aller Besteuerungsgrundlagen im Streit steht, nicht die Versagung des Vorsteuerabzugs aus formellen Gründen.
117Es handelt sich daher um eine Frage des nationalen Verfahrensrechtes, für das grundsätzlich keine harmonisierten Unionsregelungen bestehen. Auch soweit dadurch Ansprüche im Zusammenhang mit der harmonisierten Umsatzsteuer betroffen sind, dürfen nach der Rechtsprechung des EuGH (vgl. z.B. Urteil vom 26. Januar 2001 Rs. C-218/10, HFR 2012, 343 m.w.N.) die Mitgliedstaaten daher die Modalitäten der Verfahren regeln, die den Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, wobei diese Modalitäten nicht weniger günstig ausgestaltet sein dürfen als die entsprechenden innerstaatlichen Rechtsbehelfe (Äquivalenzgrundsatz) und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen (Effektivitätsgrundsatz). In dem auf die Entscheidung Zabrus Siret Bezug nehmenden Urteil vom 14. Februar 2019 (Rs. C-562/17, HFR 2019, 338 – Nestrade) hat der EuGH entschieden, dass dem Anspruch auf Geltendmachung von Vorsteuern im dortigen Verfahren ein ablehnender Bescheid, der innerhalb angemessener Fristen angefochten werden konnte (vgl. Rdnr. 43/44 der Entscheidung), aber nicht angefochten worden war, entgegengehalten werden konnte.
118Danach hat der Beklagte zu Recht den Antrag auf Änderung des Umsatzsteuerbescheides auch hinsichtlich der isolierten Besteuerungsgrundlage „Vorsteuer“ abgelehnt.
119Das nationale Verfahrensrecht, hier also § 173 AO, differenziert hinsichtlich der Durchbrechung der Bestandskraft durch Anwendung von Korrekturvorschriften nicht zwischen unionsrechtlich determinierten Ansprüchen bei der Umsatzsteuer oder national geregelten Ansprüchen bei den Ertragsteuern. Daher ist einerseits dem Grundsatz der Äquivalenz Genüge getan. Andererseits ist auch der Effektivitätsgrundsatz hinreichend berücksichtigt, wenn eine angemessene Rechtsbehelfsfrist eingeräumt wird. Dies war im Streitfall mit der Frist von einem Monat gewährleistet.
120Der Beklagte hat der Klägerin somit zu Recht die materielle Bestandskraft des Umsatzsteuerbescheides vom 30. April 2018 entgegengehalten. Die Bestandskraft kann unter den Bedingungen des Streitfalls, also bei Verstreichenlassen einer angemessenen Einspruchsfrist, sowohl nach der Rechtsprechung des EuGH als auch nach der Rechtsprechung des BFH einem ansonsten nach Unionsrecht gegebenem Anspruch auf Berücksichtigung von Vorsteuerbeträgen entgegenstehen (vgl. BFH-Beschluss vom 30. April 2019 V B 43/17, BFH/NV 2019, 847).
121III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
122IV: Die Revision war im Streitfall nicht zuzulassen, da die Entscheidung des Senats zur Nichtigkeit der Schätzungsbescheide ohne Vorbehalt der Nachprüfung in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung anderer Finanzgerichte steht und auch der BFH in dem gegen die Entscheidung des Finanzgerichts Nürnberg gerichteten Rechtsmittelverfahren keine grundsätzliche Bedeutung gesehen hat.