Abgabenordnung: Rechtzeitiger Einspruch trotz unzuständigem Finanzamt

Der 3. Senat hat mit Urteil vom 4. Mai 2017 (Az. 3 K 3046/14) entschieden, dass die Einspruchsfrist nach der „Unschädlichkeitsklausel“ des § 357 Abs. 2 Satz 4 der Abgabenordnung (AO) gewahrt wird, wenn das unzuständige Finanzamt den Einspruch innerhalb der Einspruchsfrist an das zuständige Finanzamt absendet. „Übermittelt“ im Sinne der Vorschrift werde ein Einspruch bereits im Zeitpunkt der Vornahme der Übermittlungshandlung (Absenden durch das unzuständige Finanzamt an das zuständige Finanzamt) und nicht erst im Zeitpunkt des Übermittlungserfolgs (Eingang beim zuständigen Finanzamt). Die Revision gegen das Urteil ist beim Bundesfinanzhof unter dem Aktenzeichen VI R 41/17 anhängig.

Die Klägerin ist eine Aktiengesellschaft schweizerischen Rechts, die in Deutschland beschränkt steuerpflichtig ist. Sie behält für ihre im Inland beschäftigten Arbeitnehmer Lohnsteuer ein und führt diese an das Finanzamt ab. Aufgrund einer Lohnsteuer-Außenprüfung kam es zu einem materiell rechtswidrigen Lohnsteuer-Nachforderungsbescheid. Gegen den Nachforderungsbescheid legte die Klägerin ohne Einschaltung eines Rechts- oder Steuerberaters versehentlich beim unzuständigen Finanzamt Y wenige Tage vor Ablauf der Einspruchsfrist Einspruch ein. Das unzuständige Finanzamt Y bemerkte den Fehler und leitete den Original-Einspruch am 4. Dezember 2013, dem letzten Tag der Einspruchsfrist, per Kurier zuständigkeitshalber an das beklagte Finanzamt weiter, wo er zwei Tage nach Fristablauf ankam. Das beklagte Finanzamt verwarf den Einspruch als unzulässig, weil er verfristet erhoben worden sei und die Klägerin keinen Anspruch auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand habe.

Der hiergegen erhobenen Klage gab das Finanzgericht statt. Entgegen der Auffassung des Finanzamts habe die Klägerin die Einspruchsfrist nicht versäumt. Vielmehr sei die Anbringung des Einspruchs bei dem örtlich unzuständigen Finanzamt Y nach § 357 Abs. 2 Satz 4 AO verfahrensrechtlich unschädlich, weil er dem beklagten Finanzamt als der zuständigen Behörde noch vor Ablauf der Einspruchsfrist im Sinne der Vorschrift übermittelt worden sei. Auf die Frage der Wiedereinsetzung komme es nicht mehr an. Nach § 357 Abs. 2 Satz 1 AO ist der Einspruch im Normalfall bei der Behörde anzubringen, deren Verwaltungsakt angefochten wird oder bei der ein Antrag auf Erlass eines Verwaltungsakts gestellt worden ist. Sonderfälle werden in § 357 Abs. 2 Sätze 2 und 3 AO geregelt. Die schriftliche oder elektronische Anbringung bei einer anderen Behörde ist gemäß § 357 Abs. 2 Satz 4 AO unschädlich, wenn der Einspruch vor Ablauf der Einspruchsfrist einer der Behörden übermittelt wird, bei der er nach den Sätzen 1 bis 3 angebracht werden kann.

Das unzuständige Finanzamt Y habe den Einspruch im Streitfall im Sinne des Gesetzes bereits am 4. Dezember 2013 an das zuständige beklagte Finanzamt „übermittelt“. Übermittelt werde ein Einspruch nämlich nicht erst bei Eintritt des Übermittlungserfolgs (Eingang bei der zuständigen Behörde), sondern nach Wortlaut, Historie, Systematik und Zweck der Vorschrift sowie jedenfalls bei verfassungskonformer Auslegung bereits bei Vornahme der Übermittlungshandlung (Absendung durch die unzuständige Behörde). Aufgrund der am letzten Tag der Einspruchsfrist vorgenommenen Übermittlung des Einspruchsschreibens an das zuständige beklagte Finanzamt sei die Einspruchsfrist daher gemäß der „Unschädlichkeitsklausel“ des § 357 Abs. 2 Satz 4 AO gewahrt worden. Ansonsten würde in Fällen wie dem vorliegenden nur ein „glücklicher“ Steuerpflichtiger von der Unschädlichkeit gemäß § 357 Abs. 2 Satz 4 AO profitieren können, bei dem die unzuständige Finanzbehörde bewirkt, dass der fehlerhaft angebrachte Einspruch beschleunigt und bei Bedarf sogar taggleich in den Machtbereich der zuständigen Behörde gelangt. Sinnvollerweise sollte es auf derartiges im Leben eher zufällig verteiltes Glück oder Pech eines Steuerpflichtigen im Interesse der Gleichmäßigkeit der Besteuerung nicht ankommen.

Quelle: FG Baden-Württemberg, Mitteilung vom 06.10.2017 zum Urteil 3 K 3046/14 vom 04.05.2017 (nrkr -BFH-Az.: VI R 41/17)