Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in seinem Urteil C-623/22 vom 29. Juli 2024 die Gültigkeit verschiedener Bestimmungen der Unionsrichtlinie zur Bekämpfung aggressiver Steuerplanung bestätigt. Diese Richtlinie verpflichtet Intermediäre und, falls keine Intermediäre vorhanden sind, die Steuerpflichtigen selbst, potenziell aggressive grenzüberschreitende Steuergestaltungen den zuständigen Steuerbehörden zu melden. Im Folgenden werden die wesentlichen Punkte des Urteils und die Auswirkungen auf die Praxis zusammengefasst.
Hintergrund
Meldepflicht
Die Unionsrichtlinie 2011/16/EU, geändert durch die Richtlinie (EU) 2018/822, sieht vor, dass Intermediäre (z.B. Steuerberater, Anwälte) und in deren Abwesenheit die Steuerpflichtigen verpflichtet sind, potenziell aggressive grenzüberschreitende Steuergestaltungen den Steuerbehörden zu melden. Diese Maßnahme zielt darauf ab, Steuervermeidung und -hinterziehung zu bekämpfen.
Anfechtung durch Belgische Verbände
Im Jahr 2020 riefen belgische Vereinigungen von Steueranwälten und Steuerberatern sowie Rechtsanwaltskammern den belgischen Verfassungsgerichtshof an. Sie argumentierten, dass das belgische Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie gegen die Charta der Grundrechte der Europäischen Union und allgemeine Grundsätze des Unionsrechts verstoße.
Entscheidung des EuGH
Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung
Der EuGH stellte fest, dass die Meldepflicht nicht gegen die Grundsätze der Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung verstößt, selbst wenn sie nicht auf den Bereich der Gesellschaftssteuer beschränkt ist. Dies entspricht den Artikeln 20 und 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.
Rechtssicherheit und Gesetzmäßigkeit
Der Gerichtshof beurteilte, dass der Grad der Bestimmtheit und Klarheit der Terminologie in den Richtlinienbestimmungen ausreicht, um den Grundsätzen der Rechtssicherheit und der Gesetzmäßigkeit in Strafsachen zu genügen. Der Eingriff in das Privatleben von Intermediären und Steuerpflichtigen wird als hinreichend genau bestimmt angesehen.
Verschwiegenheitspflicht der Rechtsanwälte
In einem früheren Urteil vom 8. Dezember 2022 (Orde van Vlaamse Balies u. a.) entschied der EuGH, dass die Verpflichtung eines Rechtsanwalts, andere an der steuerlichen Gestaltung beteiligte Intermediäre über deren Meldepflichten zu informieren, das Berufsgeheimnis verletzt. Der heutige Urteilsspruch präzisiert, dass diese Entscheidung ausschließlich für Rechtsanwälte gilt und nicht für andere zur Vertretung vor Gericht ermächtigte Berufsangehörige. Die besondere Stellung des Rechtsanwalts innerhalb der Gerichtsorganisation und seine grundlegende Aufgabe, die in allen Mitgliedstaaten anerkannt wird, rechtfertigen diesen speziellen Schutz.
Verhältnismäßigkeit und Recht auf Achtung des Privatlebens
Der EuGH stellte fest, dass die Meldepflicht der Intermediäre, die nicht wegen der Verschwiegenheitspflicht befreit sind, sowie die subsidiäre Meldepflicht der Steuerpflichtigen einen verhältnismäßigen und gerechtfertigten Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens darstellen.
Fazit
Das Urteil des EuGH bestätigt die Gültigkeit der Unionsrichtlinie zur Meldepflicht potenziell aggressiver Steuergestaltungen und betont die Wichtigkeit dieser Maßnahme im Kampf gegen Steuervermeidung und -hinterziehung. Die spezifischen Regelungen zur Verschwiegenheitspflicht von Rechtsanwälten wurden präzisiert, wobei der besondere Schutz des Berufsgeheimnisses anerkannt wird. Für andere Berufsgruppen gelten die allgemeinen Meldepflichten weiterhin in vollem Umfang. Dieses Urteil stärkt die Bemühungen zur Schaffung eines transparenteren und gerechteren Steuersystems innerhalb der Europäischen Union.
Quelle: Europäischer Gerichtshof