Anordnung der endgültigen Aussetzung der Zwangsvollstreckung nach § 114 FGO bei bewusster Nichtbeachtung der Vollstreckungssperre des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG durch die Verwaltung

§ 251 Abs. 2 Satz 1 AO i. V. m. § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG verleiht dem Antragsteller nach § 114 FGO für den Fall einen Anordnungsanspruch, dass die Antragsgegnerin einen Verwaltungsakt vollstreckt, der auf einer vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärten Rechtsnorm beruht. Da nach § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG die Vollstreckung des Verwaltungsaktes dauerhaft gesperrt ist, kann das Gericht in diesen Fällen ausnahmsweise die Vollstreckung endgültig und nicht nur einstweilen bis zur Entscheidung in der Hauptsache aussetzen.

Der Antragsteller begehrte mit seinem Antrag die Einstellung der Zwangsvollstreckung aus einem Kindergeldrückforderungsbescheid der Antragsgegnerin. Mit Beschluss vom 28. Juni 2022 hatte das BVerfG die Vorschrift des § 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. b EStG a. F. mit Art. 3 Abs. 1 GG für unvereinbar und nichtig erklärt (BVerfG, Beschluss vom 28. Juni 2022, 2 BvL 9/14). Das Gericht wies die Beteiligten auf den Beschluss des BVerfG hin und erklärte, dass nach § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG dies zur Folge habe, dass die Vollstreckung aus dem Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid dauerhaft unzulässig sei. Die Antragsgegnerin teilte daraufhin mit, dass im Nachgang zum Verfahren des BVerfG noch keine „interne Weisung“ ergangen sei, wie in Fällen wie dem Vorliegenden zu verfahren sei, sodass die Vollstreckung unverändert fortgesetzt werde. Hieran vermöge auch der Hinweis des Berichterstatters auf § 31 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG und das aus Art. 20 Abs. 3 GG folgende Gesetzmäßigkeitsprinzip nichts zu ändern. Ergänzend trug sie sodann vor, dass der Vollstreckungsauftrag zurückgenommen worden sei und zudem bis zur Entscheidung des Gerichts über den vorliegenden Antrag auf weitere Beitreibungsmaßnahmen verzichtet werde. Auf erneuten Hinweis des Gerichts, dass nach § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG die Vollstreckung aus dem Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid endgültig und dauerhaft unzulässig sei, teilte die Antragsgegnerin mit, dass vor dem Hintergrund der aktuellen Weisungslage lediglich eine einjährige Mahnsperre sowie eine Rücknahme der getroffenen Zwangsvollstreckungsmaßnahmen bis zur Entscheidung zugesichert werden könne.

Das Gericht sah den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gem. § 114 FGO als zulässig und begründet an.

Der Antrag sei zulässig, da der Antragsteller insbesondere über das notwendige Rechtsschutzbedürfnis verfüge. Die Antragsgegnerin habe trotz ausdrücklicher Hinweise des Gerichts zum Ausdruck gebracht, die Vollstreckbarkeit der streitgegenständlichen Forderung zukünftig nicht von der zu Gesetzeskraft erwachsenen Entscheidung des BVerfG (§ 31 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG) abhängig machen zu wollen, sondern allein von der internen Weisungslage. Die Weigerung, eine zukünftige Vollstreckung endgültig auszuschließen, bzw. die Bereitschaft, die bereits getroffenen Vollstreckungsmaßnahmen rückgängig zu machen und – befristet auf ein Jahr – temporär auf weitere Vollstreckungshandlungen zu verzichten, stelle eine grobe und bewusste Hinwegsetzung der Antragsgegnerin über die von Art. 20 Abs. 3 GG angeordnete Bindung der vollziehenden Gewalt an Recht und Gesetz dar und gebiete zwingend die Annahme eines Rechtschutzbedürfnisses. Anderenfalls wäre der Bürger im Falle der Hinwegsetzung der Verwaltung über die gesetzlichen Verpflichtungen rechtschutzlos gestellt.

Der notwendige Anordnungsanspruch des Antragstellers folge aus § 251 Abs. 2 Satz 1 AO i. V. m. § 79 Abs. 2 BVerfGG. Dabei sei für die Annahme der Vollstreckungssperre des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG unerheblich, dass der Beschluss des BVerfG zum Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung durch den Senat noch nicht im Bundesgesetzblatt veröffentlicht worden sei, denn die Veröffentlichung der gesetzesgleichen Entscheidungen des BVerfG diene der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit, wirke aber nicht konstitutiv. Die Gesetzeskraft trete vielmehr schon kraft Gesetzes gemäß § 31 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG ein.

Die Vollstreckung sei auch durch den Senat endgültig und nicht etwa nur einstweilen bis zur Entscheidung über den Erlassantrag in der Hauptsache auszusetzen und stelle keine unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache darf.

Der notwendige Anordnungsgrund sei schließlich auch gegeben. Die Antragsgegnerin habe sich bewusst über die Vollstreckungssperre des § 251 Abs. 2 Satz 1 AO i. V. m. § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG hinweggesetzt. Dabei habe sie zum Ausdruck gebracht, die interne Weisungslage über die im Range eines Gesetzes stehende Entscheidung des BVerfG zu stellen und damit entgegen Art. 20 Abs. 3 GG ihr Verhalten von der Gesetzeslage entkoppelt. Es sei daher zu befürchten, dass ohne die gerichtliche Anordnung auch zukünftig aus dem Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vollstreckt werden solle. Ein solches grob rechtswidriges Verhalten müsse der Antragsteller nicht hinnehmen.

Quelle: FG Hamburg, Mitteilung vom 04.01.2023 zum Beschluss 1 V 117/22 vom 30.08.2022 (rkr)