Anwendung der unionsrechtlichen Fiktion des inländischen Wohnsitzes auch bei gemeinsamem Haushalt der kindergeldberechtigten Elternteile im EU-Ausland

Mit Urteil vom 30. September 2020 (Az. 4 K 77/19) hat der 4. Senat des Schleswig-Holsteinischen Finanzgerichts entschieden, dass die kindergeldrechtliche Wohnsitzfiktion aus Art. 67 Satz 1 VO Nr. 883/2004 i. V. m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 VO Nr. 987/2009 auch in den Fällen Anwendung findet, in denen beide Elternteile ihren gemeinsamen Wohnsitz im EU-Ausland haben.

Die Klägerin zog im August 2015 mit ihrem Ehemann und den drei gemeinsamen Kindern nach Brüssel. Die Kinder lebten dort im Streitzeitraum im gemeinsamen Haushalt ihrer Eltern. Die bis zum Umzug im Inland bewohnte Eigentumswohnung wurde nach dem Umzug befristet vermietet. Der Ehemann der Klägerin wurde von seinem im Inland ansässigen Arbeitgeber zunächst vom 1. August 2015 bis zum 31. Juli 2017 in dessen Büro nach Brüssel entsandt. Anlässlich der Verlängerung der Entsendung wurde eine Ausnahmevereinbarung gemäß Art. 16 Abs. 1 VO Nr. 883/2004 abgeschlossen, nach der für den Ehemann der Klägerin für den Zeitraum vom 1. August 2017 bis zum 31. Juli 2019 weiterhin die deutschen Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit galten.

Auf den Kindergeldantrag der Klägerin vom 31. August 2012, in dem der Ehemann der Klägerin sich mit der Zahlung des Kindergeldes an die Klägerin einverstanden erklärte, zahlte die Familienkasse das Kindergeld für die drei Kinder an die Klägerin. Nachdem die Familienkasse im September 2017 Kenntnis vom Umzug der Klägerin nach Belgien erhalten hatte, hob sie die Festsetzung des Kindergeldes gegenüber der Klägerin ab September 2015 auf. Der Bescheid wurde von der Familienkasse öffentlich zugestellt. Nachdem die Klägerin ihre Anschrift in Brüssel mitgeteilt hatte, übersandte ihr die Familienkasse im April 2019 den Bescheid. Im Text des Schreibens wies die Familienkasse darauf hin, dass das Original des Bescheids übersandt werde. Dem Schreiben war der als „Entwurf“ gekennzeichnete Bescheid beigefügt, an dessen Ende sich ein Verfügungsteil befand. Der Einspruch der Klägerin vom 2. Mai 2019 blieb erfolglos.

Der 4. Senat gab der Klage statt. Der Einspruch war nicht verfristet, da der Aufhebungsbescheid der Klägerin erst mit der Übersendung im April 2019 wirksam bekannt gegeben worden war. Die öffentliche Bekanntgabe des Bescheids war unwirksam, da die Familienkasse nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft hatte, um den Bescheid der Klägerin in anderer Weise zu übermitteln. Denn die Familienkasse hatte die öffentliche Bekanntgabe allein auf der Grundlage der Abfrage zu den Stammdaten der Klägerin vorgenommen, ohne zuvor einen Bekanntgabeversuch oder eine schriftliche Anfrage nach der Adresse in Belgien unter der Anschrift der Klägerin zu unternehmen, die in der Ergebnisliste als letzte Adresse vor dem Umzug nach Belgien aufgeführt war. Die Unwirksamkeit der öffentlichen Bekanntgabe wurde durch die Übersendung des Bescheids an die Klägerin geheilt.

Die Klägerin war nach Auffassung des 4. Senats im Streitfall aufgrund der Berechtigtenbestimmung im Kindergeldantrag vom 31. August 2012 vorrangig kindergeldberechtigt.

Die Gewährung des Kindergeldes richtete sich aufgrund der für den Ehemann abgeschlossenen Ausnahmevereinbarung gemäß Art. 16 i. V. m. Art 12 VO Nr. 883/2204 nach deutschen Rechtsvorschriften. Der für die Kindergeldgewährung nach § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG erforderliche inländische Wohnsitz der Klägerin ergab sich aus der Wohnsitzfiktion nach Art. 67 Satz 1 VO Nr. 883/2004 i. V. m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 VO Nr. 987/2009, die bewirkt, dass die Wohnsituation auf Grundlage der im Streitzeitraum im EU-Ausland gegebenen Verhältnisse ins Inland übertragen wird. Die Fiktionswirkung galt für sämtliche Familienangehörige, also neben dem Ehemann der Klägerin, dessen Kindergeldanspruch zur Anwendung der deutschen Rechtsvorschriften führte, auch für die Klägerin und die gemeinsamen Kinder. Bei der Anwendung der deutschen Rechtsvorschriften auf den Kindergeldanspruch führt die Wohnsitzfiktion dazu, dass nicht nur für den Ehemann der Klägerin, sondern auch für die Klägerin und die gemeinsamen Kinder ein inländischer Wohnsitz fingiert wird, sodass für den streitigen Zeitraum das Wohnsitzmerkmal des § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG auch im Hinblick auf die Klägerin erfüllt war. Das Finanzgericht trat damit der Auffassung der Familienkasse entgegen, dass die Wohnsitzfiktion keine Anwendung finde, wenn – wie im Streitfall – kein Elternteil einen tatsächlichen Wohnsitz im Inland hat.

Der (steuerrechtliche) Kindergeldanspruch der vorrangig kindergeldberechtigten Klägerin wurde schließlich nicht dadurch ausgeschlossen, dass der Ehemann der Klägerin die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 BKGG für die Gewährung eines sozialrechtlichen Kindergeldanspruchs erfüllte. Auch wenn die Klägerin und ihr Ehemann im Streitzeitraum nicht gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG der unbeschränkten Steuerpflicht unterlagen, erfüllten beide aufgrund der Wohnsitzfiktion das Wohnsitzerfordernis des § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG, sodass ihnen ein steuerrechtlicher Kindergeldanspruch für die gemeinsamen Kinder zustand, für den die Klägerin vorrangig kindergeldberechtigt war. Für die Gewährung eines sozialrechtlichen Kindergeldanspruchs nach dem BKGG blieb damit im Streitfall kein Raum.

Gegen das Urteil hat der 4. Senat die Revision zugelassen. Das Revisionsverfahren ist beim BFH unter dem Aktenzeichen III R 58/20 anhängig.

Quelle: FG Schleswig-Holstein, Mitteilung vom 30.06.2021 zum Urteil 4 K 77/19 vom 30.09.2020 (nrkr – BFH-Az.: III R 58/20)