BFH, Beschluss vom 26.03.2025 – I R 6/22
Der Bundesfinanzhof (BFH) hat dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) mehrere Fragen zur Auslegung der Mutter-Tochter-Richtlinie (Richtlinie 90/435/EWG) vorgelegt. Im Kern geht es um die Frage, ob eine inländische Muttergesellschaft im früheren Körperschaftsteuer-Anrechnungsverfahren einen Anspruch auf Steueranrechnungsvortrag haben kann, wenn Dividenden aus EU-Tochtergesellschaften in Verlustjahren bezogen wurden.
1. Hintergrund des Verfahrens
- Streitjahre: 1993 bis 1996
- Situation: Eine deutsche Muttergesellschaft erzielte Verluste, erhielt aber Ausschüttungen einer in einem anderen EU-Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesellschaft.
- Problem: Die auf die Dividenden im Ausland gezahlte Körperschaftsteuer wurde in Deutschland nicht angerechnet, weil die Muttergesellschaft im Jahr des Dividendenbezugs keine steuerpflichtigen Gewinne hatte. Eine spätere Anrechnung, wenn wieder Gewinne erzielt wurden, sah das nationale Recht nicht vor.
- Besondere Konstellation: Teilweise flossen die Dividenden zunächst an eine 100%-Tochter der Muttergesellschaft, die ebenfalls Verluste machte, und wurden erst nach einer Verschmelzung auf die Muttergesellschaft übertragen.
2. Vorlagefragen des BFH an den EuGH
Der BFH möchte geklärt wissen:
- Vereinbarkeit mit EU-Recht
→ Verstößt die deutsche Regelung gegen Art. 4 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich der Mutter-Tochter-Richtlinie, wenn Ausschüttungen in Verlustjahren den Verlustvortrag kürzen, die auf die Dividenden gezahlten Steuern aber nicht angerechnet werden können? - Direktanspruch auf Anrechnungsvortrag
→ Falls ja: Entsteht bei unvollständiger Umsetzung der Richtlinie ein unmittelbarer Anspruch auf einen Steueranrechnungsvortrag? - Niederlassungsfreiheit
→ Falls die Richtlinie keinen Anspruch begründet: Kann sich ein solcher Anspruch aus Art. 49 AEUV (Niederlassungsfreiheit) ergeben? - Indirekte Dividenden
→ Gilt die gleiche Beurteilung auch für Dividenden, die zunächst von einer 100%-Tochter bezogen wurden, bevor diese auf die Muttergesellschaft verschmolzen wurde?
3. Bedeutung für die Praxis
- Zeitlicher Bezug: Das Verfahren betrifft das frühere Körperschaftsteuer-Anrechnungsverfahren, ist also für heutige Steuerjahre nicht mehr direkt anwendbar – kann aber für Altfälle und anhängige Verfahren relevant sein.
- Grundsatzwirkung: Das EuGH-Urteil könnte klären, ob nationale Regelungen, die eine zeitlich begrenzte Anrechnungsmöglichkeit vorsehen, gegen EU-Recht oder Grundfreiheiten verstoßen.
- Verlustvorträge: Besonders wichtig für Fälle, in denen Ausschüttungen in Verlustjahren den Verlustvortrag mindern, ohne dass eine Steueranrechnung möglich ist.
💡 Praxis-Hinweis:
Unternehmen mit offenen Altfällen aus dem früheren Körperschaftsteuer-Anrechnungsverfahren sollten prüfen, ob die EuGH-Entscheidung zu einem nachträglichen Steueranrechnungsvortrag führen könnte. Das betrifft insbesondere Konstellationen mit grenzüberschreitenden Beteiligungen und Verlustjahren.
📌 Quelle: Bundesfinanzhof – I R 6/22