Kindergeld: Differenzkindergeld für ein Kind in Ausbildung und Rehabilitation in Polen

Finanzgericht Köln, 12 K 1212/11

Datum:
28.08.2013
Gericht:
Finanzgericht Köln
Spruchkörper:
12. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
12 K 1212/11
Nachinstanz:
Bundesfinanzhof, V R 40/13
Tenor:

Unter Aufhebung des Bescheids vom 29. September 2009 in Gestalt des Änderungsbescheids vom 23. Februar 2011 und der Einspruchsentscheidung vom 18. März 2011 wird die Beklagte verpflichtet, gegenüber dem Kläger für das Kind A für den Zeitraum Mai 2010 bis einschließlich März 2011 Kindergeld nach Maßgabe der Entscheidungsgründe unter Anrechnung der polnischen Familienleistungen festzusetzen.

Die weitergehende Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens tragen der Kläger zu 5 v.H.

und die Beklagte zu 95 v.H..

Die Revision wird zugelassen.

Der Streitwert wird auf 1.910,00 € festgesetzt.

Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs des Klägers abwenden, soweit nicht der Kläger zuvor Sicherheit in derselben Höhe leistet.

1Tatbestand

2Strittig ist das Kindergeld für den im November 2004 geborenen Sohn A. Streitzeitraum sind die Monate ab Mai 2010 bis zum Erlass der Einspruchsentscheidung im März 2011.

3Der Kläger ist deutscher Staatsangehöriger. Er hat seinen Wohnsitz im Inland und ist hier als Architekt freiberuflich tätig.

4Neben zwei Kindern aus einer geschiedenen Ehe, die bei der Kindesmutter in Deutschland wohnen, hat der Kläger den Sohn A aus einer unehelichen Beziehung. Der im November 2004 geborene Sohn lebt bei der Kindesmutter (Frau B) in Polen (C).

5Im Rahmen eines gerichtlichen Vergleichs vor dem polnischen Amtsgericht D hatte der Kläger sich am 20. Dezember 2007 verpflichtet, ab Januar 2008 Kindesunterhalt in Höhe von 750,00 Zloty (PLN) zu zahlen (Bl. 91-93 FG-Akte). Dieser Betrag war geringer als die gesetzliche Unterhaltspflicht. Der Kläger kam seiner Verpflichtung ab Februar 2009 nur teilweise und ab Februar 2010 gar nicht mehr nach. Ende Mai 2010 bestand ein Rückstand in Höhe von 6.600 PLN (= 1.615,35 €, Bl. 94 FG-Akte). Ab Januar 2011 reduzierte sich die Unterhaltsverpflichtung auf 500 PLN monatlich (Bl. 100 FG-Akte).

6Ausweislich eines Beschlusses des Regionalzentrums für Sozialpolitik (ROPS II 223/2011) vom 15. Februar 2011 war die Kindesmutter seit dem 1. Mai 2010 aufgrund eines Werkvertrages angestellt. Im Zeitraum ab 1. September 2010 bis 13. September 2010 war sie arbeitslos ohne Arbeitslosenberechtigung. Ab dem 14. September 2010 bis 31. Mai 2012 wurde ihr Pflegegeld (Swiadczenia pielegnacyjnego) zuerkannt, weil das Kind behindert und pflegebedürftig ist (Bl. 145-148 FG-Akte).

7Gemäß Bescheinigung des Stadtzentrums für Sozialhilfe der Stadt C vom 12. Dezember 2012 (Bl. 143, 144 FG-Akte) erhielt die Kindesmutter im Zeitraum von Mai 2010 bis Ende März 2011 folgende Leistungen:

8

  • 9Kindergeld (Familienbeihilfe; zasilku rodzinnego) in Höhe von insgesamt 455 PLN,
  • 10einen Zuschlag (dodatku) zum Kindergeld auf Grund von Ausbildung und Rehabilitation des behinderten Kindes in Höhe von insgesamt 400 PLN,
  • 11Pflegegeld (Pflegebeihilfe; zasilku pielegnacyjnego) in Höhe von insgesamt 1.836,00 PLN,
  • 12Pflegegeld (Pflegeleistung, Entgeltersatzleistung; swiadczenie pielegnacyjne) in Höhe von insgesamt 3.414,70 PLN,
  • 13Zahlungen aus einem „Alimentationsfonds“ in Höhe von insgesamt 5.500 PLN

14Ausweislich des erwähnten Beschlusses des Regionalzentrums für Sozialpolitik (ROPS) vom 15. Februar 2011 (Bl. 145-148 FG-Akte) gehören Pflegebeihilfe und Pflegeleistung zu den Familienleistungen im Sinne der Art. 1 und 4 der VO (EG) Nr. 1408/71; ferner ist man dort der Ansicht, dass Polen vorrangig für die Auszahlung der Familienbeihilfen zuständig ist, weil das Kind dort wohnt.

15Der Kläger erhielt für den Sohn in Deutschland bis einschließlich April 2010 sog. Differenzkindergeld in Höhe des Unterschiedsbetrages zwischen dem deutschen Kindergeld und dem an die Kindesmutter gezahlten niedrigeren polnischen Kindergeldes (Bescheide vom 8. Juli 2005 und vom 29. September 2010, Bl. 155 KG-Akte).

16Für den Zeitraum ab Mai 2010 hat die Beklagte (vormals Familienkasse E) mit Bescheid vom 29. September 2010 bzw. Änderungsbescheid vom 23. Februar 2011 und Einspruchsentscheidung vom 18. März 2011 die Festsetzung des Kindergeldes aufgehoben, zuletzt mit der Begründung, es bestehe zwar ein Anspruch auf deutsches Kindergeld, dieser sei jedoch nach § 64 Abs. 2 EStG von der Kindesmutter geltend zu machen, weil das Kind in deren Haushalt untergebracht sei. Die Kindesmutter könne einen Antrag bei der Familienkasse F stellen.

17Die Kindesmutter hat mit Schreiben vom 20. Juli 2009, 19. Februar 2010 und 8. Februar 2011 Antrag auf Abzweigung des Kindergeldes gestellt, weil der Kläger seinen Unterhaltspflichten gegenüber dem Kind nicht nachkomme. Seit Februar 2010 zahle er überhaupt keinen Unterhalt mehr (Bl. 168 KG-Akte). Die Beklagte hat die Kindesmutter über den Ablehnungsbescheid vom 23. Februar 2011 und die Einspruchsentscheidung vom 18. März 2011 informiert (Bl. 174 R KG-Akte). Nach den Angaben der Beklagten ist ein Antrag der Kindesmutter bei der Familienkasse F bislang nicht eingegangen (Bl. 78 FG-Akte).

18Mit seiner gegen die Einspruchsentscheidung vom 18. März 2011 erhobenen Klage trägt der Kläger vor, die Beklagte sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Kindesmutter in Polen erwerbstätig sei; sie müsse sich vielmehr um das kranke Kind kümmern.

19Davon abgesehen sei es zwar zutreffend, dass er seit Februar 2010 seinen Unterhaltspflichten gegenüber dem Kind nicht nachkomme. Hierzu sei er jedoch aufgrund seiner Einkommensverhältnisse nicht in der Lage, insbesondere weil die Beklagte ihm das Kindergeld verweigere.

20Seit Mai 2012 zahle er Unterhalt in Höhe von 500 PLN aus Darlehensmitteln. Er habe sich vor dem polnischen Amtsgericht D am 24. April 2012 darüber hinaus dazu verpflichtet, im Falle des Bezugs von deutschem Kindergeld den gesamten Betrag an die Kindesmutter zu Gunsten des Sohnes weiterzuleiten.

21Der Kläger beantragt,

22den Bescheid vom 29. September 2010 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 23. Februar 2011 und der Einspruchsentscheidung vom 18. März 2011 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihm Kindergeld in Höhe von 184 € monatlich abzüglich des von der Kindesmutter in Polen erhaltenen Kindergeldes in Höhe von 455 PLN, umgerechnet in Euro nach dem zum 18. März 2011 gel-tenden Wechselkurs, zu bewilligen,

23hilfsweise die Revision zuzulassen.

24Die Beklagte beantragt,

25die Klage abzuweisen,

26hilfsweise die Revision zuzulassen,

27hilfsweise polnische Familienleistungen in Höhe von 855 PLN, umgerechnet in Euro nach dem zum 18. März 2011 geltenden Wechselkurs, anzurechnen.

28Wegen weiterer Einzelheiten wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung am 28. August 2013 Bezug genommen.

29Entscheidungsgründe

30Die Klage ist überwiegend begründet.

31Die Beklagte hat zu Unrecht dem Kläger gegenüber ab Mai 2010 die Festsetzung von Differenzkindergeld abgelehnt. Über die Frage, ob der Kläger die Auszahlung des Kindergeldes an sich selbst verlangen kann, oder ob das Differenzkindergeld im Wege der Abzweigung nach § 74 Abs. 1 EStG an die Kindesmutter auszuzahlen ist, muss in einem gesonderten Verfahren entschieden werden. Denn diese Frage ist Teil des Erhebungsverfahrens, während es im vorliegenden Verfahren um die Rechtmäßigkeit der Festsetzung des Kindergeldes geht.

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  • 331 Die Familienkasse G der Bundesagentur für Arbeit ist aufgrund eines Organisationsaktes (Beschluss des Vorstands der Bundesagentur für Arbeit Nr. 21/2013 vom 18. April 2013 gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 des Finanzverwaltungsgesetzes, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Ausgabe Mai 2013, S. 6 ff, Nr. 2.2 der Anlage 2) im Wege des gesetzlichen Parteiwechsels in die Beteiligtenstellung der Agentur für Arbeit E (Familienkasse E) eingetreten (siehe dazu Beschluss des Bundesfinanzhofs –BFH- vom 3. März 2011 V B 17/10, BFH/NV 2011, 1105).

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  • 352 Der Kläger ist nach deutschem Recht Kindergeldberechtigter, weil er seinen Wohnsitz im Inland hat und demgemäß unbeschränkt einkommensteuerpflichtig ist (§ 62 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 1 Abs. 1 EStG).

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  • 373 Der Kläger hat Anspruch auf deutsches Kindergeld für seinen leiblichen Sohn A, weil dieser noch minderjährig ist und in Polen als einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft seinen Wohnsitz hat (§ 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Sätze 2 und 3 i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 3 EStG).

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  • 394 Der Kindergeldanspruch des Klägers wird weder durch Gemeinschaftsrecht noch durch nationale Vorschriften ausgeschlossen. Die polnischen Familienleistungen sind in europarechtskonformer Anwendung des § 65 Abs. 1 EStG lediglich auf das deutsche Kindergeld anzurechnen.

40a)      Der Kläger ist in Deutschland als Architekt berufstätig und fällt hinsichtlich seines Kindergeldanspruchs ab Mai 2010 unter den persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich der VO (EG) Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit vom 29. April 2004 sowie die hierzu ergangene Durchführungsverordnung VO (EG) 987/2009 vom 16. September 2009 (Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 Buchst. j VO (EG) Nr. 883/2004). Aufgrund seiner Beschäftigung in Deutschland ist für den Kläger nach Art. 11 Abs. 1, Abs. 3 Buchst. a VO (EG) Nr. 883/2004 ausschließlich deutsches Recht anzuwenden.

41b)      Hieran ändert der Bezug von polnischen Familienleistungen durch die Kindesmutter nichts.

42aa)  Im Fall des Zusammentreffens von Ansprüchen auf Familienleistungen aus mehreren Staaten der Europäischen Union sind die Prioritätsregeln des Art. 68 VO (EG) Nr. 883/2004 anzuwenden.

43Art. 68 Abs. 1 Buchstabe a der VO (EG) Nr. 883/2004 regelt die Reihenfolge, wenn Leistungen aus mehreren Mitgliedstaaten aus unterschiedlichen Gründen zu gewähren sind. Vorrangig zuständig ist dann der Beschäftigungsstaat.

44Sind die Familienleistungen von mehreren Mitgliedstaaten aus denselben Gründen zu gewähren, richtet sich die Rangfolge gemäß Art. 68 Abs. 1 Buchstabe b der VO (EG) Nr. 883/2004 nach folgenden subsidiären Kriterien:

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  • 46Wird der Anspruch des Anspruchstellers (hier des Klägers) durch eine Erwerbstätigkeit ausgelöst, und wird eine Erwerbstätigkeit (auch) im Wohnland der Kinder ausgeübt (etwa von der Kindesmutter), hat das Wohnland der Kinder Vorrang, subsidiär ggf. die nach den verschiedenen Rechtsvorschriften zu gewährende höchste Leistung
  • 47Wird der Anspruch des Anspruchstellers (hier des Klägers) alleine durch den Wohnsitz ausgelöst, hat Vorrang ebenfalls das Wohnland der Kinder.

48Art. 68 Abs. 2 bestimmt ergänzend, dass Ansprüche auf Familienleistungen nach dem Recht des nicht vorrangig zuständigen Staates „ausgesetzt“ werden bis zur Höhe der nach den Rechtsvorschriften des zuständigen (vorrangigen) Staates vorgesehenen Leistungen. Erforderlichenfalls hat der nicht zuständige Staat einen Unterschiedsbetrag zu gewähren, wenn seine Leistungen höher sind als die des vorrangigen Staates. Ein derartiger Unterschiedsbetrag muss allerdings nicht gewährt werden, wenn die Kinder in einem anderen Mitgliedstaat wohnen und der Leistungsanspruch im nachrangig zuständigen Staat ausschließlich durch den Wohnort des Anspruchstellers ausgelöst wird.

49bb) Im Streitfall wird der Kindergeldanspruch des Klägers in Deutschland nicht (alleine) durch den Wohnsitz des Klägers im Inland ausgelöst, sondern (auch) durch dessen Erwerbstätigkeit im Inland nach Art. 11 Abs. 3 Buchstabe a der VO (EG) Nr. 883/2004. Ob ein Leistungsanspruch ausschließlich durch den Wohnort ausgelöst wird, bestimmt sich nach den Vorschriften der VO (EG) Nr. 883/2004 und nicht nach den nationalen Regelungen der §§ 62 ff EStG. Entscheidend ist, aufgrund welchen Tatbestands die berechtigte Person den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaates nach den Artikeln 11-16 der VO (EG) Nr. 883/2004 unterstellt ist. Anderenfalls wäre es den Mitgliedstaaten durch Ausgestaltung ihrer Anspruchsvoraussetzungen in ihren nationalen Rechtsvorschriften freigestellt zu bestimmen, an welcher Stelle in der europarechtlichen Rangfolge sie leistungsverpflichtet sein wollen. Insoweit schließt sich der Senat der herrschenden Rechtsprechung der Finanzgerichte an (FG München, Urteile vom 27. Oktober 2011 5553/11, EFG 2012,252 und vom 27. Oktober 2011 5K 2614/10, EFG 2012,249; FG Münster, Urteil vom 9. Mai 2012 10 K 4079/10 KG, EFG 2012,1680; FG Düsseldorf, Urteil vom 13. März 2013 15 K 29 L/11 KG, Juris; FG Köln, Urteile vom 30. Januar 2013 15 K 3230/11, EFG 2013,795 und vom 23. April 2013 1 K 3128/10, juris).

50(1)   In den Zeiträumen, in denen die Mutter des Kindes in Polen erwerbstätig war (1. Mai 2010 bis 31. August 2010) ist Polen der vorrangig zuständige Staat nach Art. 68 Abs. 1 Buchstabe b lit. I der VO (EG) Nr. 883/2004, weil im Wohnland des Kindes eine Erwerbstätigkeit ausgeübt wurde. Jedoch besteht im Inland ein Anspruch auf Differenzkindergeld nach Art. 68 Abs. 2 VO (EG) Nr. 883/2004. Das deutsche Kindergeld wird lediglich in Höhe der vorrangig zu gewährenden polnischen Familienleistungen ausgesetzt, jedoch nicht vollständig ausgeschlossen. Soweit das nachrangige deutsche Kindergeld das vorrangige polnische Kindergeld übersteigt, ist die Differenz nach Art. 68 Abs. 2 S. 2, 2. Halbsatz VO (EG) Nr. 883/2004 zu gewähren.

51(2)   In den Zeiträumen, in den die Mutter des Kindes in Polen nicht erwerbstätig war (ab 1. September 2010) ist Deutschland der vorrangig zuständige Staat nach Art. 68 Abs. 1 Buchstabe a der VO (EG) Nr. 883/2004.

52cc)   Der Bezug von polnischen Familienleistungen führt nicht zum Ausschluss des Kindergeldanspruchs des Klägers nach § 65 Abs. 1 Nr. 2 EStG. Zwar sind die polnischen Familienleistungen mit dem deutschen Kindergeld in diesem Sinne zum Teil „vergleichbar“. Doch stehen nach der Rechtsprechung des EuGH dem nationalen Ausschlusstatbestand des § 65 Abs. 1 Nr. 2 EStG die Grundfreiheiten der Arbeitnehmerfreizügigkeit nach den Art. 45, 48 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) entgegen, soweit der nationale Kindergeldanspruch vollständig ausgeschlossen und kein Differenzkindergeld gewährt wird (Urteil des Europäischen Gerichtshofs –EuGH- vom 12. Juni 2012 C-611/10, C 612/10, Hudzinski und Wawrzyniak, Abl. EU 2012 Nr. C 227, 4, zur Verordnung EWG Nr. 1408/71 des Rates vom 14.06.1971 sowie Urteil des Bundesfinanzhofs –BFH– vom 16. Mai 2013 III R 8/11, juris.bundesfinanzhof.de).

53In europarechtskonformer Auslegung führt § 65 Abs. 1 EStG mithin nur zur Anrechnung der polnischen Familienleistungen auf das deutsche Kindergeld, nicht aber zum vollständigen Ausschluss desselben.

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  • 555 Entgegen der Auffassung der Beklagten ist der inländische Kindergeldanspruch des Klägers auch nicht nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG i. V. m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO (EG) Nr. 987/2009 ausgeschlossen. Denn mangels inländischer Anspruchsberechtigung der Kindesmutter fehlt es bereits am Vorliegen mehrerer Anspruchsberechtigter im Sinne des § 64 EStG.

56a)      Nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG erhält bei mehreren Berechtigten derjenige das Kindergeld, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat. Zwar trifft es zu, dass der Sohn des Klägers nicht in seinem Haushalt, sondern im Haushalt der Kindesmutter in Polen lebt. § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG setzt allerdings voraus, dass auch die Mutter einen inländischen Kindergeldanspruch nach § 62 ff. EStG hat. Dies ist hier nicht der Fall. Weder hat die Mutter im Inland ihren Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt (§ 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG), noch liegen die Voraussetzungen einer inländischen unbeschränkten Einkommensteuerpflicht nach § 1 Abs. 2 bzw. Abs. 3 EStG vor (§ 62 Abs. 2 Nr. 2 EStG). Die Kindesmutter hat auch keinen Anspruch nach § 1 BKGG. Dies würde voraussetzen, dass sie im Inland versicherungspflichtig beschäftigt oder als Entwicklungshelfer, Auslandsbeamter oder bei einer Nato-Einrichtung tätig ist, was ersichtlich nicht der Fall ist.

57b)      Auch die Regelung des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO (EG) Nr. 987/2009 führt nicht dazu, dass die in Polen lebende Kindesmutter zur Anspruchsberechtigten i.S. von § 64 Abs. 2 EStG würde. Zwar ist nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 VO (EG) Nr. 987/2009 bei der Anwendung der Art. 67 und 68 der VO (EG) Nr. 883/2004 die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats – hier Deutschland – fallen und dort wohnen (sog. Familienbetrachtung). Diese Vorschrift trägt dem Gedanken Rechnung, dass Familienleistungen wie Elterngeld, Erziehungsgeld oder Unterhaltsvorschüsse nicht dadurch ausgeschlossen sein sollen, dass die hierfür erforderlichen Voraussetzungen nur von dem Ehepartner bzw. Elternteil, der nicht im Beschäftigungsland wohnt, verwirklicht werden (vgl. hierzu im Einzelnen FG Düsseldorf Urteil vom 09.02.2012 16 K 1564/11 Kg, EFG 2012, 1369 mit Verweis auf die zugrunde liegende EuGH-Rechtsprechung). Die Vorschrift bezweckt demgegenüber nicht, einen unstreitig bestehenden (deutschen) Kindergeldanspruch dem Anspruchsinhaber unter Hinweis auf seine Familienangehörigen zu versagen.

58Hierfür besteht auch kein Bedürfnis. Denn für den Fall, dass der Kindergeldbezieher das Kindergeld nicht für den Unterhalt der Kinder verwendet, bietet Art. 68 a VO (EG) Nr. 883/2004 (eingeführt durch Art. 1 Ziff. 18 der VO (EG) Nr. 988/2009 vom 16.09.2009 zur Änderung der VO (EG) Nr. 883/2004) ein geeignetes Korrektiv, indem er dem im Ausland lebenden Familienangehörigen einen Zugriff auf das deutsche Kindergeld ermöglicht. Auch die nationale Vorschrift des § 74 Abs. 1 EStG (Abzweigung) erlaubt die Auszahlung des Kindergeldes an denjenigen, der tatsächlich die Unterhaltslasten für das Kind trägt.

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  • 606 Der Kindergeldanspruch des Klägers ist -wie bereits erwähnt und vom Kläger beantragt- um die in Polen gewährten Familienleistungen zu kürzen. Die Höhe dieser Leistungen ergibt sich aus der Bescheinigung des Stadtzentrums für Sozialhilfe der Stadt C vom 12. Dezember 2012 (Bl. 143 FG-Akte). Dabei sind nach Auffassung des Senats (nur) das dort genannte Kindergeld (Familienbeihilfe; zasilku rodzinnego) und der Zuschlag zum Kindergeld (dodatku) in Höhe von insgesamt 855 PLN auf das (deutsche) Kindergeld anzurechnen, nicht hingegen das Pflegegeld (Pflegebeihilfe; zasilku pielegnacyjnego) in Höhe von insgesamt 1.836,00 PLN, nicht das Pflegegeld (Pflegeleistung, Entgeltersatzleistung; swiadczenie pielegnacyjne) in Höhe von insgesamt 3.414,70 PLN, und ebenfalls nicht die Zahlungen aus einem „Alimentationsfonds“ in Höhe von insgesamt 5.500 PLN. Beim Pflegegeld (Pflegebeihilfe; zasilku pielegnacyjnego) und bei der Pflegeleistung, (Entgeltersatzleistung; swiadczenie pielegnacyjne) handelt es sich nicht um dem (deutschen) Kindergeld vergleichbare Leistungen. Bei den Zahlungen aus dem Alimentationsfonds liegt schon begrifflich keine Familienleistung vor.

61a)      Nach der Begriffsbestimmung des Art. 1 Buchstabe z der VO (EG)  Nr. 883/2004 sind Familienleistungen alle Sach- und Geldleistungen zum Ausgleich von Familienlasten, mit Ausnahme von Unterhaltsvorschüssen und besonderen Geburts- und Adoptionsbeihilfen. Bei den Zahlungen aus dem Alimentationsfonds handelt es sich um Unterhaltsvorschüsse, die demnach schon definitionsmäßig nicht unter den Begriff der Familienleistungen fallen.

62b)      Im übrigen sind die unter den Begriff der Familienleistungen fallenden Leistungen in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich ausgestaltet.

63Gemäß Art. 9 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 notifizieren die Mitgliedstaaten gegenüber der Kommission schriftlich die Rechtsvorschriften, Systeme und Regelungen, die unter den sachlichen Geltungsbereich der VO im Sinne des Art. 3 VO (EG) Nr. 883/2004 fallen.

64Die Bundesrepublik Deutschland hat hierzu in ihrer Notifikation für die Familienleistungen folgende Rechtsvorschriften angegeben: Das Bundeskindergeldgesetz sowie Abschnitt X (§§ 62-78) des Einkommensteuergesetzes und ferner das Bundeselterngeld- und Erziehungszeitgesetz. Hieraus ist bereits ersichtlich, dass nicht alle Familienleistungen zugleich dem Kindergeld vergleichbar sind.

65Die Republik Polen hat zur Bestimmung der Familienleistungen in ihrer Notifizierung das „Ustawa z dnia 28 listopada 2003 r. o swiadczeniach rodzinnych“ (das Gesetz vom 28. November 2003 über Familienleistungen; Gesetzblatt 2006 Nr. 139, Pos. 992, in seiner geänderten und konsolidierten Fassung) angegeben.

66Nach Art 2 des bezeichneten polnischen Gesetzes über Familienleistungen vom 28. November 2003 gehören zu den Familienleistungen

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  • 68Kindergeld bzw. Familienbeihilfe (zasiłek rodzinny) und Zuschläge zum Kindergeld (dodatki),
  • 69Betreuungsleistungen (swiadczenia opiekuncze): Pflegegeld (Pflegebeihilfe; zasilek pielegnacyjny) und Pflegeleistung (Entgeltersatzleistung; swiadczenie pielegnacyjne),
  • 70Unterstützung, die durch Gemeinden nach Art. 22 a gezahlt wird,
  • 71Einmalige Geburtsbeihilfen.

72aa) Das Kindergeld bzw. die Familienbeihilfe (zasiłek rodzinny) nach Art. 4-7 und die Zuschläge (dodatki) nach Art. 8-15 des polnischen Gesetzes über Familienleistungen sind die Grundfamilienleistungen, welche die Aufwendungen für den Unterhalt des Kindes teilweise decken sollen (Art. 4 Abs. 1 des polnischen Gesetzes).

73Zu den Zuschlägen gehört u.a. die Ausbildungs- und Rehabilitationsbeihilfe für behinderte Kinder (dodatek z tytułu kształcenia i rehabilitacji dziecka niepełnosprawnego). Nach Art 13 des polnischen Gesetzes über Familienleistungen wird der Zuschlag für Ausbildung und Rehabilitation eines behinderten Kindes gezahlt, um erhöhte Ausgaben im Zusammenhang mit der Rehabilitation oder Bildung des Kindes zu decken, soweit für das Kind ein Individualitätsgutachten vorliegt. Dieser Zuschlag ist nach Auffassung des Senats vergleichbar mit dem TOG 2000 (niederländischer Unterhaltszuschuss nach der „REGELING TEGEMOETKOMING ONDERHOUDSKOSTEN THUISWONENDE GEHANDICAPTE KINDREREN“), für den der BFH im Urteil vom 17. April 2008 III R 36/05, BStBl II 2009, 921, entschieden hat, dass er eine dem Kindergeld vergleichbare Familienleistung darstellt. Der Zuschlag nach polnischem Recht dient ebenso wie der TOG 2000 dazu, den erhöhten Unterhaltsbedarf für behinderte Kinder auszugleichen. Er ist somit ein staatlicher Beitrag zum Familienbudget, der die Kosten für den Unterhalt von behinderten Kindern verringern soll. Durch den Zuschlag wird unmittelbar die Liquidität des Familienbudgets und somit der Lebensstandard der Familie verbessert. Es handelt sich um einen Zuschuss zu den erhöhten Unterhaltskosten der Eltern, so dass ebenso wie für die Grundleistung (Kindergeld bzw. Familienbeihilfe, zasiłek rodzinny) eine Vergleichbarkeit mit dem Kindergeld nach deutschem Recht vorliegt.

74bb) Das zu den Betreuungs- bzw. Pflegeleistungen gehörende Pflegegeld (Entgeltersatzleistung; swiadczenie pielęgnacyjne) wird nach Art. 17 des polnischen Gesetzes über Familienleistungen den Eltern für die notwendige Pflege eines behinderten Kindes gezahlt. Voraussetzung ist, dass die betreffende Person nicht arbeitet oder ihre Stellung oder jede sonstige Erwerbstätigkeit aufgibt, um sich um ein Kind zu kümmern. Diese Leistung ist nach Auffassung des Senats wegen ihrer Entgeltsersatzfunktion mit dem (deutschen) Elterngeld vergleichbar, nicht jedoch mit dem Kindergeld.

75cc)   Hinsichtlich der Pflegebeihilfe (zasiłek pielęgnacyjny) ist nach Art. 16 des polnischen Gesetzes über Familienleistungen anspruchsberechtigt das behinderte Kind unter 16 Jahren sowie Personen über 16 Jahren, die eine amtlich bescheinigte mittlere bis schwere Behinderung haben, die aufgetreten ist, bevor sie 21 Jahre alt waren. Diese Leistung wird außerdem Personen über 75 Jahren gewährt, die kein Pflegegeld zusätzlich zur Alters- oder Invaliditätsrente beanspruchen können. Da diese Leistung also zum einen dem Kind selbst zusteht und zum anderen auch Personen, die keine Kinder sind (über 75 Jahre alt), ist sie nach Auffassung des Senats nicht mit dem (deutschen) Kindergeld vergleichbar.

76

  • 777 Für die Umrechnung der anzurechnenden (polnischen) Familienleistungen in Höhe von insgesamt 855 PLN in Euro haben sich die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung im Wege der tatsächlichen Verständigung dahingehend geeinigt, dass der Wechselkurs zum 18. März 2011 (Tag der Einspruchsentscheidung) zugrunde zu legen ist. Dies hält der Senat für zulässig und gerechtfertigt.

78

  • 798 Ob das (gekürzte) Kindergeld an den Kläger auszuzahlen ist, oder nach § 74 Abs. 1 EStG bzw. Art. 68 a VO (EG) Nr. 883/2004 an die Kindesmutter, muss dahinstehen. Zwar hat die Kindesmutter die Abzweigung des Kindergeldes beantragt, weil der Kläger seinen Unterhaltspflichten nicht nachgekommen ist. Der Kläger hat dies jedenfalls für den streitigen Zeitraum Mai 2010 bis März 2011 nicht abgestritten. Jedoch obliegt die Entscheidung über die Abzweigung zunächst der Beklagten. Das Gericht kann die bislang fehlende Entscheidung im vorliegenden Verfahren nicht erstmals treffen, zumal es sich um eine Ermessensentscheidung der Behörde handelt.

80

  • 819 Die Revision ist wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO).

82

  • 8310 Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO).

84

  • 8511 Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.