Der Grundsatz des freien Dienstleistungsverkehrs und die Richtlinie über grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung stehen einer nationalen Regelung entgegen, die bei fehlender Vorabgenehmigung die Erstattung der Kosten eines dringenden Eingriffs ausschließt, dem sich ein in einem Mitgliedstaat wohnhafter Versicherter in einem anderen Mitgliedstaat unterzogen hat.
Eine solche Beschränkung des Grundsatzes des freien Dienstleistungsverkehrs ist unverhältnismäßig und verstößt gegen die Richtlinie.
Im Jahr 1987 erlitt WO, ein ungarischer Staatsangehöriger, eine Netzhautablösung im linken Auge und verlor die Sehkraft auf diesem Auge. Im Jahr 2015 wurde am rechten Auge von WO ein Glaukom diagnostiziert. Seine Behandlung in verschiedenen ungarischen Gesundheitseinrichtungen blieb ohne Wirkung; sein Gesichtsfeld verringerte sich immer mehr, und der Augeninnendruck nahm stetig zu.
Am 29. September 2016 kontaktierte WO einen in Recklinghausen (Deutschland) praktizierenden Arzt und erhielt bei ihm einen Untersuchungstermin für den 17. Oktober 2016. Der Arzt wies ihn darauf hin, dass er seinen Aufenthalt bis zum 18. Oktober 2016 verlängern müsse, da an diesem Tag gegebenenfalls ein augenärztlicher Eingriff erfolgen werde.
In der Zwischenzeit wurde bei einer ärztlichen Untersuchung in Ungarn bei WO ein Augeninnendruck festgestellt, der deutlich über dem als normal geltenden Wert lag. Die am 17. Oktober 2016 in Deutschland vorgenommene Untersuchung veranlasste den dortigen Arzt zu der Entscheidung, dass der augenärztliche Eingriff dringend vorzunehmen sei, um die Sehkraft von WO zu erhalten. Dieser wurde am 18. Oktober 2016 erfolgreich operiert.
Der Antrag auf Erstattung der mit der Gesundheitsversorgung in Deutschland verbundenen Kosten wurde von den ungarischen Behörden mit der Begründung abgelehnt, dass es sich bei dieser Versorgung um eine geplante Behandlung handele, für die WO keine Vorabgenehmigung erhalten habe, wie sie von den Unionsverordnungen zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit1 vorgeschrieben werde.
Das Szombathelyi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Szombathelyi, Ungarn), bei dem eine Klage gegen die Entscheidung anhängig ist, die mit der genannten Gesundheitsversorgung verbundenen Kosten nicht zu erstatten, fragt den Gerichtshof, ob die Verordnungen zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, die Richtlinie über grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung2 oder der Grundsatz des freien Dienstleistungsverkehrs einer mitgliedstaatlichen Regelung entgegenstehen, die dahin ausgelegt wird, dass sie die Übernahme der Kosten einer ohne Vorabgenehmigung in einem anderen Mitgliedstaat erbrachten Gesundheitsversorgung in allen Fällen ausschließt, ohne dabei den Gesundheitszustand des Patienten und die Dringlichkeit der fraglichen Gesundheitsversorgung zu berücksichtigen.
Mit seinem am 23. September 2020 verkündeten Urteil stellt der Gerichtshof als Erstes im Wege der Auslegung der Verordnungen zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit fest, dass eine Gesundheitsversorgung, die der Versicherte allein nach seinem eigenen Willen in einem anderen Mitgliedstaat als dem seines Wohnsitzes in Anspruch genommen hat, eine geplante Behandlung im Sinne der Verordnungen darstellt, deren Kostenübernahme davon abhängig ist, dass der zuständige Träger des Wohnmitgliedstaats eine Vorabgenehmigung erteilt hat.
In diesem Zusammenhang erinnert der Gerichtshof an seine Rechtsprechung3, wonach selbst dann, wenn vor Beginn der in einem anderen Mitgliedstaat erbrachten Behandlung keine ordnungsgemäß erteilte Vorabgenehmigung vorlag, der Versicherte die Erstattung der mit dieser Behandlung verbundenen Kosten unmittelbar vom zuständigen Träger erlangen kann, und zwar in Höhe dessen, was dieser Träger normalerweise übernommen hätte, wenn der Versicherte über eine solche Genehmigung verfügt hätte. Diese Möglichkeit besteht insbesondere, wenn der Versicherte wegen seines Gesundheitszustands oder der Dringlichkeit, sich dieser Behandlung zu unterziehen, außerstande war, eine solche Genehmigung zu beantragen bzw. die Entscheidung des zuständigen Trägers über seinen Genehmigungsantrag abzuwarten (im Folgenden: besondere Umstände).
Im Hinblick darauf obliegt es dem zuständigen Träger – unter der Kontrolle der nationalen Gerichte –, zum einen zu prüfen, ob der von ihm zu untersuchende Fall besondere Umstände aufweist, und zum anderen, ob die Kriterien für eine Kostenübernahme durch den zuständigen Träger gemäß Art. 20 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung Nr. 883/20044 im Übrigen erfüllt sind.
Im vorliegenden Fall weist der Gerichtshof hinsichtlich der erstgenannten Voraussetzung (Eintritt besonderer Umstände) darauf hin, dass die am 15. Oktober 2016 in Ungarn erfolgte Untersuchung, deren Ergebnis die Dringlichkeit des augenärztlichen Eingriffs bestätigte, dem sich WO dann tatsächlich am 18. Oktober 2016 in Deutschland unterzog, ein Indiz dafür darstellen kann, dass WO die Entscheidung des zuständigen Trägers über einen Genehmigungsantrag nicht hätte abwarten können. Allerdings ist es Sache des ungarischen Gerichts, unter Berücksichtigung aller Umstände des Ausgangsrechtsstreits zu prüfen, ob die beiden oben genannten Voraussetzungen erfüllt sind.
Für den Fall, dass das ungarische Gericht zu dem Ergebnis gelangen sollte, dass WO für die Kosten der Behandlung in Deutschland keinen Erstattungsanspruch auf der Grundlage der Verordnungen zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit hat, prüft der Gerichtshof als Zweites, ob der Grundsatz des freien Dienstleistungsverkehrs und die Richtlinie über grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung5, mit der dieser Grundsatz konkretisiert wird, einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren entgegenstehen, die bei fehlender Vorabgenehmigung die Kostenerstattung für die Gesundheitsversorgung des Versicherten in einem anderen Mitgliedstaat in allen Fällen ausschließt, selbst wenn die echte Gefahr besteht, dass sich der Gesundheitszustand des Versicherten irreversibel verschlechtert.
Insoweit stellt der Gerichtshof fest, dass ein Vorabgenehmigungssystem, wie es durch die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung geschaffen wurde, eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs darstellt.
Soweit die ungarische Regierung argumentiert, dass eine solche Beschränkung durch das Ziel gerechtfertigt sei, eine optimale Planung und Verwaltung der Gesundheitsversorgung zu ermöglichen und die mit dieser Versorgung zusammenhängenden Kosten zu begrenzen, weist der Gerichtshof darauf hin, dass ein solches Bedürfnis nur für Krankenhausbehandlungen oder aufwändige Behandlungen außerhalb von Krankenhäusern geltend gemacht werden kann, nicht aber für ärztliche Beratungen. Das ungarische Gericht wird daher zu prüfen haben, ob der fragliche augenärztliche Eingriff unter eine dieser beiden Behandlungskategorien fällt.
Für den Fall, dass das ungarische Gericht zu der Auffassung gelangen sollte, dass es sich bei dem fraglichen augenärztlichen Eingriff um eine Krankenhausbehandlung oder eine aufwändige Behandlung außerhalb eines Krankenhauses handelt, stellt der Gerichtshof fest, dass eine nationale Regelung, die bei fehlender Vorabgenehmigung – selbst wenn die Voraussetzungen für eine Kostenübernahme im Übrigen erfüllt wären – auch unter den oben genannten besonderen Umständen ausschließt, dass der zuständige Träger die Kosten einer solchen Behandlung erstattet, eine unverhältnismäßige Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs bewirkt und gegen die Richtlinie über grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung verstößt.
Fußnoten
1 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1) und Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung Nr. 883/2004 (ABl. 2009, L 284, S. 1).
2 Richtlinie 2011/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2011 über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung (ABl. 2011, L 88, S. 45).
3 Urteil des Gerichtshofs vom 5. Oktober 2010, Elchinov (C-173/09).
4 In Art. 20 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung Nr. 883/2004 heißt es: „Die Genehmigung wird erteilt, wenn die betreffende Behandlung Teil der Leistungen ist, die nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats der betreffenden Person vorgesehen sind, und ihr diese Behandlung nicht innerhalb eines in Anbetracht ihres derzeitigen Gesundheitszustands und des voraussichtlichen Verlaufs ihrer Krankheit medizinisch vertretbaren Zeitraums gewährt werden kann.“
5 Die von einem Versicherten aus einem Mitgliedstaat hiernach beanspruchbare Erstattung der Kosten der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung ist auf den Betrag der Kosten begrenzt, die dieser Mitgliedstaat übernommen hätte, wenn die betreffende Gesundheitsdienstleistung in seinem Hoheitsgebiet erbracht worden wäre, wobei die Erstattung die Höhe der tatsächlich durch die Gesundheitsversorgung entstandenen Kosten nicht überschreiten darf.
Quelle: EuGH, Pressemitteilung vom 23.09.2020 zum Urteil C-777/18 vom 23.09.2020