Sturz aus dem Stand – Kein Anspruch auf Leistungen aus gesetzlicher Unfallversicherung

Der Kläger hat keinen Arbeitsunfall erlitten, als er auf dem Weg zur Arbeit an einer S-Bahn Haltestelle auf dem Bahnsteig auf den Zug wartete, plötzlich aus dem Stand umkippte, auf den Betonboden stürzte und sich dabei ein Schädel-Hirn-Trauma zuzog (Gerichtsbescheid vom 4. Januar 2021, S 1 U 953/20, rechtskräftig).

Mit Bescheid vom 12.08.2019 lehnte die Beklagte die Anerkennung des Ereignisses vom 12.06.2019 als Arbeitsunfall ab und verneinte einen Anspruch auf Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung. Zur Begründung führte sie aus, der vom Kläger selbst angegebene Sturz aus dem Stand erfülle nicht die Voraussetzungen eines Versicherungsfalls in der gesetzlichen Unfallversicherung. Es fehle ein von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis, das den Sturz verursacht habe. Selbst wenn ein Unfallereignis stattgefunden habe, müsse dieses auch rechtlich wesentlich für den festgestellten Gesundheitsschaden sein, um als Versicherungsfall anerkannt werden zu können. Das alleinige Aufschlagen auf dem Boden oder an einem Gegenstand bedinge nach geltender Rechtsprechung für sich kein versichertes Unfallereignis im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung.

Dagegen ließ der Kläger durch seine Bevollmächtigten Widerspruch einlegen, weil ein Unfallereignis vorliege. Dabei stelle das Aufschlagen auf dem Boden eine von außen auf den Körper einwirkende, zeitlich begrenzte Kraft dar. Durch das Aufschlagen auf den Boden wirke ein Teil der Außenwelt auf den Körper ein, was den Voraussetzungen in der gesetzlichen Unfallversicherung entspreche. Dazu werde auf Urteile des Hessischen LSG vom 20.07.2015 (L 9 U 5/15) und des LSG Baden-Württemberg vom 09.06.2011 (L 10 U 1533/10) verwiesen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 27.02.2020 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Zur Begründung führte sie insbesondere aus, im Unfallzeitpunkt habe der Kläger sich zwar auf dem Weg zu einer versicherten Tätigkeit befunden und dem Grunde nach unter dem Schutz der gesetzlichen Wegeunfallversicherung gestanden. Es sei hier jedoch unklar, ob er „infolge“ der hier grundsätzlich versicherten Tätigkeit, nämlich dem Zurücklegen des Weges zur versicherten Tätigkeit, verunfallt sei. Insbesondere lasse sich nicht aufklären, ob der Kläger aufgrund einer mit dem Weg verbundenen Verkehrsgefahr an der S Bahn-Haltestelle gestürzt sei. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) liege ein Wegeunfall nur dann vor, wenn sich in dem Unfallereignis eine Gefahr verwirklicht habe, vor der die gesetzliche Wegeunfallversicherung schützen soll. Das Zurücklegen des Weges von und zu der versicherten Tätigkeit stehe unter dem Schutz der Wegeunfallversicherung, wenn die verwirklichte Gefahr gerade aus der Teilnahme am öffentlichen Verkehr als Fahrer oder Fußgänger, also aus eigenem oder fremdem Verkehrsverhalten oder äußeren Einflüssen durch die Beschaffenheit des jeweiligen Verkehrsraums, hervorgegangen sei. Insofern werde das Risiko, beim Gehen durch Stolpern oder Ausrutschen oder durch den Anstoß anderer Personen zu stürzen, auch erkennbar von dem Schutzzweck der Wegeunfallversicherung umfasst (BSG Urteil vom 17.12.2015, B 2 U 8/14 R). Nach den eigenen Angaben des Klägers könne er sich aber nicht mehr erinnern, ob er aufgrund einer verwirklichten Verkehrsgefahr oder aus einem anderen Grund am Bahnhof Zuffenhausen gestürzt sei. Der konkrete Unfallhergang habe nicht aufgeklärt werden können. Auch die Befragung von Zeugen oder die Beiziehung polizeilicher Unterlagen habe keine Erkenntnisse erbracht. Damit sei insgesamt offen, ob sich zum Unfallzeitpunkt tatsächlich eine Gefahr verwirklicht habe, vor der die gesetzliche Wegeunfallversicherung schützen solle. Diese Beweislosigkeit habe nach den Regeln der objektiven Beweislast der Versicherte zu tragen.

Die dagegen erhobene Klage hat die Kammer als unbegründet abgewiesen und zur Begründung ausgeführt:

Nach § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Zu den versicherten Tätigkeiten gehört gemäß § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII auch das Zurücklegen des mit der nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit. Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (§ 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Ein Arbeitsunfall setzt voraus, dass der Verletzte durch eine Verrichtung vor dem fraglichen Unfallereignis den gesetzlichen Tatbestand einer versicherten Tätigkeit erfüllt hat und deshalb „Versicherter“ ist. Die Verrichtung muss ein zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis sein und dadurch einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten objektiv und rechtlich wesentlich verursacht haben (Unfall-kausalität und haftungsbegründende Kausalität; vgl. dazu BSG Urteil vom 17.12.2015, B 2 U 8/14 R m. w. N., Fundstelle Juris).

Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt. Auch wenn der Kläger einen Unfall im Sinne des § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII erlitten hat, kann ein Arbeitsunfall nicht bejaht werden, denn der Unfall (Sturz auf den Bahnsteigboden) stellt jedenfalls schon deshalb keinen Arbeitsunfall im Sinne des § 8 SGB VII dar, weil das Unfallereignis dem allein hier als versicherte Tätigkeit in Betracht kommenden Zurücklegen des Weges zur Arbeitsstätte rechtlich nicht zugerechnet werden kann. Nach dem von der Beklagten angeführten Urteil des BSG, das einen vergleichbaren Sachverhalt behandelt, muss sich in einem Unfallereignis (hier Sturz und Aufprall auf dem Bahnsteig), um als Arbeitsunfall anerkannt werden zu können, eine Gefahr verwirklicht haben, die in den Schutzbereich der Wegeunfallversicherung fällt. Nach den Feststellungen der Beklagten und den eigenen Angaben des Klägers steht für die Kammer (lediglich) fest, dass sich der Kläger vor dem Sturz auf dem Bahnsteig befand. Weitere Umstände stehen nicht fest und konnten auch nicht festgestellt werden. Das Umfallen des Klägers und der Aufprall auf den Bahnsteig sind danach nicht rechtlich wesentlich durch eine zuvor versicherte Tätigkeit verursacht worden. So konnte nicht festgestellt werden, welche Faktoren im Zeitpunkt des Sturzes und Aufpralls des Klägers mit dem Kopf auf dem Bahnsteig gewirkt haben. Damit fehlt es an der erforderlichen hinreichenden Wahrscheinlichkeit, dass sich durch das Unfallereignis ein Risiko verwirklicht hat, vor dem gerade die Wegeunfallversicherung Schutz gewähren soll. Die Unerweislichkeit dieser Tatsache geht nach den Regeln der objektiven Beweislast zu Lasten des Klägers. Deshalb ist der Nachteil aus einer tatsächlichen Unaufklärbarkeit anspruchsbegründender Tatsachen vom Kläger zu tragen.

Die Kammer sieht nach der Aktenlage und den Stellungnahmen der Beteiligten auch keine Möglichkeit, die Umstände des Sturzes weiter aufzuklären, da Zeugen nicht bekannt sind und auch weitere Unterlagen über das Geschehen nicht vorliegen oder greifbar sind. Auch der Kläger konnte dazu keine weiteren Angaben machen.

Das BSG hat in seinem Urteil vom 17.12.2015 entschieden, dass der Versicherte die Beweislast dafür trägt, dass sich durch das Unfallereignis ein Risiko verwirklicht hat, vor dem gerade die Wegeunfallversicherung Schutz gewähren soll. Auch kann ohne Feststellung der konkreten Kausalkette aus der bloßen Tatsache des „Auf-dem-Wege-Seins“ nicht abgeleitet werden, dass sich auch eine Gefahr realisiert hat, die in den Schutzbereich der Wegeunfallversicherung fällt. Ein solcher „Wegebann“ entspricht nicht dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung, so das BSG. Die erkennende Kammer schließt sich dieser Entscheidung an.

Quelle: SG Stuttgart, Mitteilung vom 25.08.2021 zum Gerichtsbescheid S 1 U 953/20 vom 04.01.2021 (rkr)