Tätigkeit eines Anwalts zum Schutz nicht geschäftsfähiger Erwachsener als wirtschaftliche Tätigkeit – Befreiung von Mehrwertsteuer

Die Tätigkeit eines Anwalts zum Schutz nicht geschäftsfähiger Erwachsener stellt grundsätzlich eine wirtschaftliche Tätigkeit dar.

Sie kann von der Mehrwertsteuer befreit sein, wenn die betreffenden Dienstleistungen eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbunden sind und der Anwalt für das Unternehmen, das er zu diesem Zweck betreibt, über eine Anerkennung als Einrichtung mit sozialem Charakter verfügt.

Das luxemburgische Recht schützt nicht geschäftsfähige Erwachsene durch Maßnahmen der Pflegschaft und Betreuung, die es ermöglichen, diese Personen zu beraten, zu überwachen oder außergerichtlich zu vertreten, indem sie Dritten Verwaltungs- und Vertretungsbefugnisse zuweisen. In der Praxis sind die Pfleger, Betreuer, speziellen Vertreter und Ad-hoc-Vertreter in der Regel Familienangehörige, aber auch Anwälte nehmen diese Aufgaben wahr.

EQ, der seit 1994 bei der luxemburgischen Anwaltskammer zugelassen ist, übt seit 2004 eine Tätigkeit als Vertreter im Rahmen von Regelungen zum Schutz nicht geschäftsfähiger Erwachsener aus. Im Jahr 2018 forderte die luxemburgische Steuerverwaltung von ihm die Zahlung der Mehrwertsteuer für die in den Jahren 2014 und 2015 ausgeübte Tätigkeit der Vertretung nicht geschäftsfähiger Erwachsener. EQ ist der Auffassung, dass es sich bei diesen Tätigkeiten nicht um der Mehrwertsteuer unterliegende wirtschaftliche Tätigkeiten handele und dass sie jedenfalls eine soziale Funktion erfüllten und aus diesem Grund gemäß den innerstaatlichen Rechtsvorschriften zur Umsetzung der Mehrwertsteuerrichtlinie1 von der Steuer befreit werden müssten. Die luxemburgische Steuerverwaltung vertritt dagegen die Ansicht, dass es sich bei den Leistungen, die im Rahmen der beruflichen Tätigkeit eines Anwalts bewirkt würden, um eine wirtschaftliche Tätigkeit handele und dass sie nicht von der Mehrwertsteuer befreit werden könnten. EQ erfülle nämlich nicht die Voraussetzung einer Einrichtung mit sozialem Charakter, die er erfüllen müsse, um sich auf die Befreiung berufen zu können.

Das mit diesem Rechtsstreit befasste Tribunal d’arrondissement (Bezirksgericht, Luxemburg) möchte wissen, ob die Tätigkeit des Schutzes nicht geschäftsfähiger Erwachsener von der Mehrwertsteuer befreit werden kann, und fragt den Gerichtshof insbesondere, ob die betreffenden Tätigkeiten unter den Begriff der wirtschaftlichen Tätigkeit im Sinne der Mehrwertsteuerrichtlinie fallen, ob sie als „eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistungen“ von der Mehrwertsteuer befreit sind und ob der Anwalt, der sie ausübt, als „von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtung mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtung“ angesehen werden kann.

In seinem Urteil vom 15.04.2021 entscheidet der Gerichtshof, dass Dienstleistungen, die zugunsten nicht geschäftsfähiger Erwachsener erbracht werden und deren Schutz bei zivilrechtlichen Handlungen dienen, eine wirtschaftliche Tätigkeit darstellen. Nach dem Unionsrecht unterliegen der Mehrwertsteuer nur Tätigkeiten mit wirtschaftlichem Charakter, insbesondere Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt erbringt. Auch wenn es Aufgabe des vorlegenden Gerichts ist, zu prüfen, ob die zugunsten nicht geschäftsfähiger Erwachsener bewirkten Dienstleistungen gegen Entgelt erbracht wurden, nennt der Gerichtshof die Auslegungsgesichtspunkte, die die Feststellung eines unmittelbaren Zusammenhangs zwischen diesen Leistungen und den Beträgen, die EQ im Rahmen seiner Verwaltungsmandate erhalten hat, erlauben, selbst wenn die Gegenleistung für diese Dienstleistungen nicht unmittelbar vom Empfänger, sondern von einem Dritten erbracht wurde oder die Vergütung für die Dienstleistungen auf der Grundlage einer an die finanziellen Verhältnisse der nicht geschäftsfähigen Person anknüpfenden Prüfung festgelegt oder als Pauschale entrichtet wurde. Zur wirtschaftlichen Natur der Leistungen stellt der Gerichtshof fest, dass EQ aus den bewirkten Leistungen Einnahmen erzielt, die nachhaltigen Charakter haben, und die Höhe der Einnahmen, die er aus seiner Tätigkeit erzielt hat, gemessen an seinen Betriebskosten nicht unzureichend ist.

Anschließend befasst sich der Gerichtshof mit den Anwendungsvoraussetzungen einer Steuerbefreiung und hält fest, dass Dienstleistungen, die zugunsten nicht geschäftsfähiger Erwachsener bewirkt werden und zu deren Schutz bei zivilrechtlichen Handlungen dienen, unter den Begriff „eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistungen“ im Sinne der Mehrwertsteuerrichtlinie fallen. Nicht unter die Befreiungen fallen dagegen allgemeinere Tätigkeiten des Beistands oder der Beratung rechtlicher, finanzieller oder anderer Art, wie etwa solche, die mit den speziellen Kenntnissen eines Anwalts, eines Finanzberaters oder eines Immobilienmaklers verbunden sind, selbst wenn sie von einem Dienstleistungserbringer im Kontext des Beistands, den er einer nicht geschäftsfähigen Person leistet, erbracht werden. Außerdem präzisiert der Gerichtshof, dass es Aufgabe jedes Mitgliedstaats ist, die Vorschriften in Bezug auf die Anerkennung des sozialen Charakters von Einrichtungen, die keine Einrichtungen des öffentlichen Rechts sind, zu erlassen. Hierzu stellt er fest, dass der Begriff „als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen“ grundsätzlich weit genug ist, um auch natürliche Personen zu umfassen, die im Rahmen ihres Unternehmens eine Gewinnerzielungsabsicht verfolgen. Hier wurden die betreffenden Dienstleistungen von einem bei der Anwaltskammer zugelassenen Anwalt erbracht. Auch wenn sich die Berufsgruppe der Anwälte als solche nicht durch einen sozialen Charakter kennzeichnet, ist nicht ausgeschlossen, dass ein Anwalt, der eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistungen erbringt, ein dauerhaftes soziales Engagement leistet. Ein solches Engagement hat EQ möglicherweise in den Jahren 2014 und 2015 geleistet. Dies hat das vorlegende Gericht unter Beachtung des Ermessenspielraums, über den der betreffende Mitgliedstaat in dieser Hinsicht verfügt, zu prüfen.

Fußnote

1 Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1).

Quelle: EuGH, Pressemitteilung vom 15.04.2021 zum Urteil C-846/19 vom 15.04.2021