Voraussetzungen, Wirksamkeit und Anfechtbarkeit einer tatsächlichen Verständigung über Besteuerungsgrundlagen

Voraussetzungen, Wirksamkeit und Anfechtbarkeit einer tatsächlichen Verständigung über Besteuerungsgrundlagen

1. Das pauschale Vorbringen des Steuerpflichtigen, unter dem Druck eines anhängigen Steuerstrafverfahrens mit der Finanzbehörde eine tatsächliche Verständigung abgeschlossen zu haben, ist für die Wirksamkeit der Verständigung unbeachtlich.

2. Die Anfechtungsvorschriften der §§ 119, 123 BGB sind auf tatsächliche Verständigungen im Steuerverfahren grundsätzlich anwendbar.

Niedersächsisches Finanzgericht 15. Senat, Urteil vom 20.11.2012, 15 K 268/10

§ 162 AO, § 104 BGB, § 105 Abs 2 BGB, § 119 Abs 1 BGB, § 123 Abs 1 BGB, § 142 Abs 1 BGB, § 96 Abs 1 FGO

Tatbestand

 

1
Die Beteiligten streiten im Wesentlichen darüber, ob der Beklagte (das Finanzamt – FA -) auf der Grundlage einer tatsächlichen Verständigung für die Jahre 2002 bis 2004 (Streitjahre) geänderte Bescheide erteilen durfte.

2
Die Klägerin war in den Streitjahren verheiratet und wird für diese Jahre mit ihrem damaligen Ehemann (im Folgenden: M) zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Die Klägerin ist von Beruf Ärztin und betreibt seit dem Jahre 1998 eine Praxis für Allgemeinmedizin. Hieraus bezog sie auch in den Streitjahren Einkünfte aus selbständiger Arbeit. Die Klägerin und M hatten vereinbart, dass sich M um die geschäftlichen und steuerlichen Angelegenheiten der Praxis kümmere.

3
Durch den Bescheid für 2002 über Einkommensteuer wich das FA von den Angaben in der Einkommensteuererklärung ab. Im Erläuterungsteil führte das FA hierzu an, einen Teil der geltend gemachten Betriebsausgaben überhaupt nicht oder als Sonderausgaben berücksichtigt zu haben. Da die Klägerin und M für die Jahre 2003 und 2004 keine Einkommensteuererklärung abgegeben hatten, legte das FA der Steuerfestsetzung für diese Streitjahre im Schätzungswege ermittelte Besteuerungsgrundlagen zugrunde. Dabei ging das FA davon aus, dass die Klägerin Einkünfte aus selbständiger Arbeit in gleicher Höhe wie im Jahre 2002 erzielt hatte. Die Bescheide für die drei Streitjahre standen unter dem Vorbehalt der Nachprüfung.

4
Das FA führte bei der Klägerin in den Jahren 2006 und 2008 mit Unterbrechungen eine steuerliche Außenprüfung durch. Aufgrund der Prüfungsanordnung erstreckte sich der Prüfungszeitraum zunächst nur auf die Streitjahre. Im Laufe der Prüfung wurde der Zeitraum auf die Jahre 1998 bis 2001 sowie 2005 bis 2006 erweitert.

5
Zu Beginn der Außenprüfung übergab M dem Prüfer für die Streitjahre insgesamt drei Ringordner mit Belegen über Einnahmen und Ausgaben. Er teilte dem Prüfer mit, dass keine Gewinnermittlungen vorgenommen worden seien und demnach auch nicht vorgelegt werden könnten. Kontoauszüge seien nicht vorhanden, sie müssten erst über die Bank besorgt werden. Kassenaufzeichnungen seien nicht geführt worden. Lediglich für die Jahre 2001 und 2002 hatte M handschriftliche Aufzeichnungen zur Vorbereitung der Gewinnermittlung angefertigt. Etliche an die Klägerin gerichtete Briefe von geschäftlicher oder steuerlicher Relevanz hatte M weder selbst bearbeitet noch der Klägerin vorgelegt. So hatte M im Mai 2006 auf den Namen der Klägerin ohne deren Wissen bei der Deutsche Post AG ein Postfach angelegt.

6
Im Januar 2007 leitete das örtlich zuständige Finanzamt für Fahndung und Strafsachen gegen die Klägerin wegen des Verdachts der Hinterziehung von Einkommensteuer 2002 bis 2004 ein steuerstrafrechtliches Ermittlungsverfahren ein. Im Januar 2008 trennten sich die Eheleute. Die Klägerin erteilte am 10. März 2008 dem Steuerberater S eine „Vollmacht eingeschränkt“. In der Vollmachtserteilung heißt es u. a.:

7
„Der Bevollmächtigte ist befugt, für mich/uns verbindliche Erklärungen abzugeben, Rechtsbehelfe und Rechtsmittel einzulegen und zurückzunehmen und rechtsverbindliche Unterschriften zu leisten. … Diese Vollmacht berechtigt auch zur Bestellung von Unterbevollmächtigten und gilt bis auf Widerruf. Sie gilt nicht für das Erhebungsverfahren.“

8
Im Juli 2008 fand im FA eine Besprechung statt, an der neben der Klägerin der Prozessbevollmächtigte und „Herr T vom Steuerbüro S“ teilnahmen. Herr T ist Inhaber einer Unternehmensberatung und Leiter einer Beratungsstelle eines Lohnsteuerhilfevereins. Darüber hinaus ist er als freier Mitarbeiter für die Steuerberaterkanzlei des S tätig. Ausweislich des im März 2009 gefertigten Fahndungsberichts hatte der Prozessbevollmächtigte die strafrechtliche Verteidigung der Klägerin übernommen.

9
Der Betriebsprüfer ermittelte die Betriebseinnahmen für die Jahre 1998 bis 2004 im Schätzungswege, wobei ihm als Schätzungsgrundlage für die Jahre 2002 bis 2004 Kontoauszüge vorlagen. Die ermittelten Werte erhöhte er durch Unsicherheitszuschläge. Denn aus den Bankunterlagen seien zwar auch die Rechnungsnummern ersichtlich, eine nummerische Lückenanalyse habe jedoch dazu geführt, dass für rd. 500 Rechnungsnummern kein Zufluss feststellbar sei. Aufzeichnungen über Bargeldverkehr gebe es nicht.

10
Darüber hinaus ermittelte der Prüfer für die Streitjahre anhand vorgelegter Belege die Betriebsausgaben. Aus den Betriebseinnahmen und Betriebsausgaben errechnete er für die Streitjahre folgende Einkünfte aus selbständiger Arbeit: (…) Für die übrigen Jahre des Prüfungszeitraums brachte der Prüfer jeweils 30 v. H. der ermittelten Betriebseinnahmen als Betriebsausgaben in Abzug.

11
Am 3. Februar 2009 fand eine Besprechung über eine „tatsächliche Verständigung anlässlich einer Außenprüfung“ statt. Ausweislich der hierüber gefertigten Niederschrift nahmen an der Besprechung die Klägerin „vertreten durch Herrn T vom Steuerbüro S“, die Sachgebietsleiterin der veranlagenden Amtsbetriebsprüfungsstelle als Vertreterin des FA sowie der Prüfer teil.

12
Als Anlass für die Verständigung wird angegeben, die Klägerin habe bisher zu niedrige Schätzungen über die Höhe ihres Gewinns durch das FA hingenommen und keine Gewinnermittlungen erstellt. Die Schwierigkeiten in der Sachverhaltsermittlung lägen darin, aufgrund der fehlenden Gewinnermittlungen und Belegführung nachträglich die tatsächlichen Betriebseinnahmen und Betriebsausgaben in vollständiger Höhe festzustellen.

13
Unter „2. Tatsächliche Verständigung“ heißt es:

14
„Hiermit wird zum Zweck der Verfahrensbeschleunigung und zur Herstellung des Rechtsfriedens einvernehmlich die folgende, für alle Beteiligten rechtlich bindende, tatsächliche Verständigung über den der Besteuerung zugrunde zu legenden Sachverhalt getroffen:

15
In den Veranlagungszeiträumen 1998 bis 2007 ist von folgenden Gewinnen auszugehen: (…)“

16
Die Niederschrift wurde von der Klägerin, Herrn T mit dem Zusatz „i. A.“, der Sachgebietsleiterin und dem Prüfer unterzeichnet.

17
Die Berechnung der Gewinne, die Gegenstand der Verständigung sind, wird im Prüfungsbericht näher erläutert. Die Niederschrift über die Verständigung fügte der Prüfer dem Bericht als Anlage 1 bei.

18
Das FA erteilte unter Hinweis auf § 164 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO) für die Jahre 2000 bis 2006 geänderte Einkommensteuerbescheide; für das Jahr 2007 wurde erstmalig ein Einkommensteuerbescheid erteilt. Den Bescheiden legte das FA die in der Niederschrift genannten Gewinne als Einkünfte aus selbständiger Arbeit zugrunde.

19
Zur Begründung des hiergegen eingelegten Einspruchs machte die Klägerin im Wesentlichen geltend:

20
Die Klägerin habe im Beisein ihres Steuerberaters und auf dessen Rat hin unter Tränen lediglich „das letzte Blatt des … Außenprüfungsberichtes“ unterschrieben. Sie sei zu dieser Zeit „psychisch und physisch am Ende“ gewesen. In diesem Zusammenhang legte die Klägerin eine von einem Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie ausgestellte Bescheinigung vor, nach der sie infolge einer familiären Krise unter einer schweren Depression mit verminderter Belastungsfähigkeit litt. Dies habe „insbesondere zum Zeitpunkt ihrer Unterschrift … eine Einschränkung ihrer Einsichts- und Entscheidungsfähigkeit zur Folge“ gehabt. Den Fahndungsprüfern legte die Klägerin eine Bescheinigung desselben Arztes vor, wonach sie „aufgrund einer behandlungsbedürftigen Depression … nicht verhandlungsfähig und nicht vernehmungsfähig“ gewesen sei. M habe in erheblichem Umfang Postsendungen und Unterlagen unterschlagen, auch habe er die Haustürklingel manipuliert, so dass es dem Brief- oder Paketzusteller nicht möglich gewesen sei, ihr Postsendungen auszuhändigen. Sie habe M bei der Staatsanwaltschaft wegen mehrerer Delikte angezeigt, u. a. wegen versuchten Totschlags, wegen Unterschlagung, Betruges und Urkundenfälschung.

21
Nunmehr habe die Klägerin an verschiedenen Stellen im Haus weitere Unterlagen gefunden, aus denen sich niedrigere Betriebseinnahmen und höhere Betriebsausgaben ergäben, als der tatsächlichen Verständigung zugrunde lägen. Sie habe alle verfügbaren, gefundenen Belege ihrem „Steuerberater, Herrn T, … übergeben.“ Vor allem würden durch die tatsächliche Verständigung die angefallenen Aufwendungen für Praxismiete, Telefon, Heizung und Personal nicht vollständig berücksichtigt.

22
Sie halte die tatsächliche Verständigung für unwirksam. Die rechtlichen Konsequenzen seien ihr bei der Unterzeichnung nicht klar gewesen, insbesondere habe Herr T sie hierüber nicht aufgeklärt. Als Ausländerin kenne sie sich im deutschen Steuerrecht nicht aus. Vorsorglich fechte sie die Verständigung nach §§ 119 ff. des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) an. Zum einen sei sie über die Tragweite der Verständigung im Irrtum gewesen (§ 119 Abs. 1 BGB), zum anderen habe Herr T sie durch unzureichende Bearbeitung der eingereichten Belege arglistig getäuscht (§ 123 BGB).

23
Das gegen die Klägerin geführte Ermittlungsverfahren wurde nach § 170 Abs. 2 der Strafprozessordnung (StPO) eingestellt.

24
Das FA wies das FA die Einsprüche als unbegründet zurück. Die Klägerin und das FA seien an die getroffene tatsächliche Verständigung gebunden. Die Verständigung sei wirksam. Die im Einspruchsverfahren geltend gemachten Betriebsausgaben würden entweder bereits durch die tatsächliche Verständigung berücksichtigt oder aber nicht nachgewiesen; in diesem Fall sei eine Anerkennung abzulehnen.

25
Die Klägerin hat am 15. Juli 2010 Klage erhoben. Nachdem sie die Klage wegen Einkommensteuer 2000, 2001, 2005 bis 2007 zurückgenommen hat, ist das Verfahren insoweit mit Beschluss vom 17. Juli 2012 abgetrennt und unter dem Geschäftszeichen 15 K 179/12 nach § 72 Abs. 2 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) eingestellt worden. Die Klage betrifft daher nur noch die Jahre 2002 bis 2004.

26
Das FA hat nach Klageerhebung für das Jahr 2002 unter Hinweis auf § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO einen geänderten Einkommensteuerbescheid erteilt, dem ermäßigte Einkünfte der Klägerin aus selbständiger Arbeit zugrunde liegen. Dieser geänderte Bescheid ist nach § 68 Satz 1 FGO Gegenstand des Klageverfahrens geworden. Die Änderung beruht darauf, dass der Prüfer für das Jahr 2002 Betriebseinnahmen aus Akkupunkturbehandlungen doppelt erfasst hatte.

27
Die Klägerin hält die tatsächliche Verständigung für unwirksam, weil diese zu offensichtlich unzutreffenden Ergebnissen führe und mit einem Strafverfahren verknüpft gewesen sei. Ausgehend von dem für das Jahr 2001 geschätzten Gewinn in Höhe von … DM seien die für die Streitjahre angenommenen Gewinnsteigerungen nicht nachvollziehbar. Die Gewinnermittlungen des Prüfers seien nicht plausibel. Es sei zu befürchten, dass einzelne Betriebseinnahmen doppelt erfasst worden seien. Außerdem seien die Betriebsausgaben in Höhe von nur 30 v. H. der Betriebseinnahmen zu niedrig angesetzt worden.

28
Im Übrigen sei die tatsächliche Verständigung unter dem Druck eines anhängigen Steuerstrafverfahrens zustande gekommen. Vor Abschluss der Verständigung hätte das Ermittlungsverfahren abgeschlossen werden müssen.

29
Das FA sei daher gezwungen, die Besteuerungsgrundlagen (neu) zu ermitteln. Für die Jahre 2003 und 2004 hat die Klägerin nach wie vor keine Einkommensteuererklärung abgegeben.

30
Das FA ist der Auffassung, die vom Prüfer im Schätzungswege ermittelten Besteuerungsgrundlagen seien nicht zu beanstanden. Die gegen die Wirksamkeit der tatsächlichen Verständigung erhobenen Einwände teilt das FA nicht.

31
Auf ein Auskunftsersuchen des Berichterstatters nach § 79 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 FGO hat der Steuerberater S mitgeteilt, Herr T habe als mit dem Fall vertrauter zuständiger freier Mitarbeiter der Steuerberaterkanzlei nach vorheriger Abstimmung im Auftrag von Steuerberater S an der Schlussbesprechung teilgenommen. Zu diesem Zweck habe er Herrn T mündlich Untervollmacht erteilt. Mangels hinreichender Unterlagen zur Ermittlung der korrekten Besteuerungsgrundlagen sei eine tatsächliche Verständigung mit dem FA getroffen worden. Eine hiermit übereinstimmende Auskunft hat Herr T dem Berichterstatter auf fernmündliche Anfrage erteilt.

32
Der Berichterstatter hat dem Prozessbevollmächtigten mitgeteilt, aufgrund der eingeholten Einkünfte davon auszugehen, dass die Klägerin (auch) bei der Schlussbesprechung – bei der die tatsächliche Verständigung getroffen worden sei – wirksam von Herrn Steuerberater S, dieser untervertreten durch Herrn T, vertreten worden sei. Dem Prozessbevollmächtigten ist Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden. Für den Fall, dass die Klägerin nicht von einer wirksamen Vertretung ausgehe, ist dem Prozessbevollmächtigten aufgegeben worden, diese Ansicht substantiiert zu begründen und hierfür ggf. Beweis anzutreten. Der Prozessbevollmächtigte hat hierzu nicht Stellung genommen.

Entscheidungsgründe

 

33
Die Klage ist unbegründet.

34
Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in deren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO). Das FA durfte aufgrund der getroffenen tatsächlichen Verständigung über die von der Klägerin in den Streitjahren erzielten Einkünfte aus selbständiger Arbeit entsprechend geänderte Einkommensteuerbescheide erteilen. Die Verständigung ist wirksam, und auch die Klägerin ist hieran nach den Grundsätzen von Treu und Glauben gebunden.

35
1. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) folgt aus dem Grundsatz von Treu und Glauben, dass sich die Beteiligten an einer zulässigen und wirksamen tatsächlichen Verständigung festhalten lassen müssen (BFH-Urteile vom 6. Februar 1991 I R 13/86, BFHE 164, 168, BStBl II 1991, 673, unter II. 2. d; vom 12. August 1999 XI R 27/98, BFH/NV 2000, 537, unter II. 3., und vom 7. Juli 2004 X R 24/03, BFHE 206, 292, BStBl II 2004, 975). Die Bindungswirkung einer derartigen Vereinbarung setzt voraus, dass sie sich auf Sachverhaltsfragen – nicht aber auf Rechtsfragen – bezieht, der Sachverhalt die Vergangenheit betrifft, die Sachverhaltsermittlung erschwert ist, auf Seiten der Finanzbehörde ein für die Entscheidung über die Steuerfestsetzung zuständiger Amtsträger beteiligt ist und die tatsächliche Verständigung nicht zu einem offensichtlich unzutreffenden Ergebnis führt (BFH-Urteile vom 11. Dezember 1984 VIII R 131/76, BFHE 142, 549, BStBl II 1985, 354, unter 3. c, d; in BFHE 164, 168, BStBl II 1991, 673, unter II. 2. c; vom 31. Juli 1996 XI R 78/95, BFHE 181, 103, BStBl II 1996, 625, unter II. 2. a, und in BFHE 206, 292, BStBl II 2004, 975).

36
Diese Voraussetzungen sind im Streitfall gegeben, und die von der Klägerin gegen die Wirksamkeit der Verständigung vorgebrachten Einwände greifen nicht Platz.

37
a) Die am 3. Februar 2009 zwischen der Klägerin und dem FA getroffene tatsächliche Verständigung betrifft allein die Höhe der von der Klägerin in den Streitjahren erzielten Einkünfte aus selbständiger Arbeit. Hierbei handelt es sich um Besteuerungsgrundlagen und damit um Sachverhaltsfragen. Es geht in der Verständigung dagegen nicht um die Klärung von Rechtsfragen, wie es etwa der Fall wäre bei Klärung der Frage, ob bestimmte Aufwendungen als Betriebsausgaben oder Sonderausgaben zu berücksichtigen wären.

38
Dadurch, dass die vereinbarten Gewinne abgeschlossene Veranlagungszeiträume betreffen, liegt der durch die Verständigung geklärte Sachverhalt in der Vergangenheit.

39
Dem Prüfer war die Sachverhaltsermittlung, nämlich die Ermittlung der tatsächlichen Gewinne der Klägerin deshalb erschwert, weil die Klägerin und M ihren steuerlichen Mitwirkungspflichten nicht nachgekommen waren. Für die Jahre 2003 und 2004 haben sie bis heute weder eine Einkommensteuererklärung noch ordnungsgemäße Einnahmen-Überschuss-Rechnungen beim FA abgegeben. Darüber hinaus konnten sie die Betriebseinnahmen der Klägerin ebenso wenig vollständig darlegen wie die Betriebsausgaben. Die Klägerin selbst räumt im Einspruchsverfahren ein, etliche Belege über Betriebsausgaben erst nach der Trennung und nach dem Auszug von M aus dem ehemaligen Familienheim gefunden zu haben. Das bedeutet, dass während des sich auf mehr als zwei Jahre erstreckenden Betriebsprüfungsverfahrens bei weitem nicht alle erforderlichen Unterlagen vorgelegt werden konnten und der Prüfer dadurch bei der Überprüfung bzw. Ermittlung der zutreffenden Besteuerungsgrundlagen erheblich behindert worden ist.

40
b) Die Klägerin und das FA sind bei Abschluss der Verständigung wirksam vertreten worden, so dass sich beide Beteiligte den Inhalt von Ziffer 2. der Niederschrift zurechnen lassen müssen. Hierin haben beide Beteiligte ausdrücklich erklärt, dass sie die Verständigung für sich als bindend ansehen.

41
Entgegen der von ihr im außergerichtlichen Vorverfahren geltend gemachten Ansicht war die Klägerin am 3. Februar 2009 in der Schlussbesprechung und bei Abschluss der tatsächlichen Verständigung wirksam durch Herrn T als Unterbevollmächtigten vertreten (§ 80 AO); die Vollmachtserteilung war nicht widerrufen worden. Die von Herrn T abgegebene und im Auftrag des Hauptbevollmächtigten unterzeichnete Erklärung wirkt für und gegen die Klägerin. Es kommt dabei nicht darauf an, ob der Haupt- oder Unterbevollmächtigte den Inhalt und die Folgen der Verständigung mit der Klägerin erörtert oder ob die Klägerin dem Abschluss der Verständigung gegenüber dem Bevollmächtigten ausdrücklich zugestimmt hat (vgl. BFH-Urteil in BFHE 164, 168, BStBl II 1991, 673, unter II. 3. a).

42
Im Übrigen hat die Klägerin als Steuerpflichtige ausweislich der Niederschrift selbst an der Schlussbesprechung teilgenommen und der Verständigung über die in den Streitjahren erzielten Gewinne durch ihre Unterschrift zugestimmt. Die von der Klägerin abgegebene Erklärung ist nur dann unwirksam, wenn die Klägerin nach § 104 BGB geschäftsunfähig ist oder sich am 3. Februar 2009 im Zustand der Bewusstlosigkeit oder vorübergehender Störung der Geistestätigkeit befand (§ 105 Abs. 2 BGB). Eine dauernde Geschäftsunfähigkeit (§ 104 Nr. 2 BGB) liegt im Streitfall ebenso offensichtlich nicht vor wie eine Bewusstlosigkeit (§ 105 Abs. 2 Alt. 1 BGB). Allerdings sind auch unter Berücksichtigung der ärztlichen Atteste keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die Klägerin die Unterschrift bei vorübergehender Störung der Geistestätigkeit (§ 105 Abs. 2 Alt. 2 BGB) abgegeben hat. Denn dazu müsste ein Ausschluss der freien Willensbestimmung vorgelegen haben. Dies ist dann der Fall, wenn der Betroffene nicht mehr in der Lage ist, seine Entscheidung von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen. Für einen Ausschluss der freien Willensbestimmung besteht auch dann keine Vermutung, wenn der Betroffene seit längerem an geistigen Störungen leidet. Bloße Willensschwäche oder leichte Beeinflussbarkeit genügen nicht, auch reicht das Unvermögen, die Tragweite der abgegebenen Willenserklärung zu erfassen, nicht aus (vgl. Urteil des Bundesgerichtshofs – BGH – vom 19. Oktober 1960 V ZR 103/59, NJW 1961, 261; Ellenberger in Palandt, BGB, 71. Aufl., § 105 Rz 3, § 104 Rz 4, m. w. N.). Aus dem Vorbringen der Klägerin gehen ebenso wie aus den ärztlichen Bescheinigungen lediglich eine verminderte Belastungsfähigkeit sowie eine Einschränkung der Einsichts- und Entscheidungsfähigkeit hervor, nicht aber ein Ausschluss der freien Willensbestimmung.

43
Eine tatsächliche Verständigung kann nach Treu und Glauben nur dann angenommen werden, wenn das FA durch einen für die Entscheidung zuständigen Amtsträger (Vorsteher oder Sachgebietsleiter) vertreten worden ist (BFH-Beschluss vom 16. Oktober 2006 I B 228/04, juris Rz 9; BFH-Urteil in BFHE 206, 292, BStBl II 2004, 975; Rüsken in Klein, AO, 11. Aufl., § 162 Rz 32). Nach diesen Maßstäben war das FA im Streitfall wirksam durch die Sachgebietsleiterin der veranlagenden Amtsbetriebsprüfungsstelle vertreten. Es ist höchstrichterlich geklärt, dass tatsächliche Verständigungen auch im Rahmen einer Schlussbesprechung nach einer Außenprüfung getroffen werden können (BFH-Urteil in BFHE 164, 168, BStBl II 1991, 673, unter II. 2. b; siehe auch Urteil des Niedersächsischen Finanzgerichts – FG – vom 19. September 2007 12 K 334/05, EFG 2008, 180).

44
c) Die tatsächliche Verständigung führt im Streitfall nicht zu einem offensichtlich unzutreffenden Ergebnis. Dies wäre etwa dann der Fall, wenn die getroffene Verständigung gegen die Regelungen des Grundgesetzes (GG) über die Finanzverfassung oder systemprägende Grundsätze des materiellen Steuerrechts verstieße (BFH-Urteil in BFHE 206, 292, BStBl II 2004, 975, unter II. B. 2.).

45
Nach diesen Maßstäben führen die Gewinne, auf die sich die Beteiligten im Rahmen der Schlussbesprechung am 3. Februar 2009 verständigt haben, nicht zu einem offensichtlich unzutreffenden Ergebnis. Anhaltspunkte für einen Verfassungsverstoß liegen ebenso wenig vor wie eine gravierende Verletzung des materiellen Steuerrechts. Es liegt in der Natur einer tatsächlichen Verständigung, dass Gegenstand nicht bis ins Einzelne als richtig bestätigte Besteuerungsgrundlagen sind. Denn Voraussetzung für eine tatsächliche Verständigung ist gerade, dass eine Ermittlung des genauen Sachverhalts erschwert und damit kaum möglich ist. Damit dient die tatsächliche Verständigung der Behebung eines Beweisnotstandes des Steuerpflichtigen anstelle einer andernfalls nach § 162 Abs. 1 Satz 1 AO regelmäßig gebotenen Schätzung der Besteuerungsgrundlagen (BFH-Urteil vom 1. September 2009 VIII R 78/06, BFH/NV 2010, 593). Im Übrigen begründet auch ein Vergleich zwischen den Gewinnen, die Gegenstand der Verständigung sind, mit den durchschnittlichen Einkünften, die ein freiberuflich tätiger Arzt in den Streitjahren erzielt hat, zulasten der Klägerin kein offensichtlich unzutreffendes Ergebnis. Denn nach dem vom Statistischen Bundesamt herausgegebenen Statistischen Jahrbuch 2011 (Seite 604) betrugen die Einkünfte von freiberuflich tätigen Allgemeinmedizinern, praktischen Ärzten und Fachärzten im Jahre 2004 im Durchschnitt 117.770,00 € und lagen demnach deutlich über den hier in Rede stehenden Gewinnen.

46
Ferner spricht der Umstand, dass auch Herr T als steuerlich ausgebildeter Unterbevollmächtigter an der Schlussbesprechung teilgenommen und die tatsächliche Verständigung unterzeichnet hat, gegen die Vereinbarung offensichtlich unzutreffender Einkünfte (vgl. BFH-Urteil in BFH/NV 2010, 593; FG Münster, Urteil vom 30. Mai 2006 11 K 2674/03 E, EFG 2006, 1306). Es bestehen keine Zweifel daran, dass Herr T mit dem Steuerfall der Klägerin detailliert vertraut war und das Vorgehen bei der Schlussbesprechung mit dem Hauptbevollmächtigten, mit Steuerberater S, abgesprochen hatte. Denn die Klägerin selbst bezeichnete noch im Einspruchsverfahren Herrn T als ihren „Steuerberater“. Dies beruht offensichtlich darauf, dass der Steuerberater S Herrn T mit der Bearbeitung des Steuerfalls der Klägerin beauftragt hatte.

47
d) Schließlich verfangen auch die weiteren von der Klägerin gegen die Wirksamkeit der Verständigung vorgebrachten Argumente nicht.

48
aa) Die Ansicht der Klägerin, sie sei an die Verständigung nicht gebunden, weil diese unter dem Druck eines steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahrens zustande gekommen sei, teilt der erkennende Senat nicht. Da die Klägerin nicht konkret dargelegt, inwiefern das FA oder das Finanzamt für Fahndung und Strafsachen ihre Entschließungsfreiheit rechtswidrig beeinflusst hat, und sie auch nicht nachvollziehbar schildert, inwiefern sie zum Abschluss der tatsächlichen Verständigung gezwungen worden ist, ist das pauschale Vorbringen für die Wirksamkeit der Verständigung unbeachtlich (BFH-Beschluss vom 8. April 2010 V B 20/08, BFH/NV 2010, 1616). Im Übrigen wird das Vorbringen der Klägerin auch nicht durch den Inhalt der beigezogenen Betriebsprüfungs- und Ermittlungsakten gestützt.

49
bb) Die tatsächliche Verständigung ist nicht durch eine wirksame Anfechtung der Klägerin aufgehoben worden (vgl. § 142 Abs. 1 BGB). Der erkennende Senat schließt sich der Rechtsprechung des BFH an, wonach die Anfechtungsvorschriften der §§ 119, 123 BGB auf tatsächliche Verständigungen im Steuerverfahren grundsätzlich anwendbar sind (BFH-Urteil in BFH/NV 2010, 593, m. w. N.). Es ist im Streitfall jedoch kein Anfechtungsgrund gegeben.

50
Zum einen hat Herr T als Bevollmächtigter die tatsächliche Verständigung mit Wirkung für und gegen die Klägerin unterzeichnet und abgeschlossen, und in der Person des Bevollmächtigten liegt kein Anfechtungsgrund (auch kein Irrtum nach § 119 Abs. 1 BGB) vor.

51
Zum anderen wäre die Klägerin auch dann nicht zur Anfechtung berechtigt, wenn sie bei Abschluss der tatsächlichen Verständigung nicht wirksam vertreten gewesen wäre. Ein Irrtum über die Rechtsfolgen der Erklärung ist unter Berücksichtigung des Vorbringens der Beteiligten und nach Aktenlage nicht feststellbar. Ein solcher Fall des Inhaltsirrtums (§ 119 Abs. 1 1. Fall BGB) ist dann zu bejahen, wenn das Rechtsgeschäft nicht die erstrebten, sondern davon wesentlich verschiedene Rechtsfolgen erzeugt (Ellenberger in Palandt, BGB, 71. Aufl., § 119 Rz 15). Die Formulierung unter Ziffer 2. der auch von der Klägerin unterzeichneten Verständigung kann nur so verstanden werden, dass die Gewinne, die hier genannt werden, „der Besteuerung zugrunde zu“ legen und sowohl für die Klägerin als auch für das FA „rechtlich bindend“ sind. „Bindung“ kann in diesem Zusammenhang nur bedeuten, dass nachträglich die Klägerin keine steuermindernden und das FA keine steuererhöhenden Tatsachen geltend machen darf. Auch daraus, dass die Klägerin nicht vorträgt, welche andere Rechtsfolge sie mit Abschluss der tatsächlichen Verständigung angestrebt hat, ist zu folgern, dass die Klägerin nicht in einem Irrtum über die Rechtsfolgen ihrer Erklärung war.

52
Im Übrigen weist das FA in der Einspruchsentscheidung zutreffend darauf hin, dass eine Anfechtbarkeit wegen arglistiger Täuschung (§ 123 Abs. 1 BGB) durch den steuerlichen Berater allein deshalb nicht gegeben ist, weil die Klägerin die zum Abschluss der tatsächlichen führende Erklärung nicht gegenüber dem Steuerberater S oder Herrn T, sondern gegenüber dem FA abgegeben hat. Anhaltspunkte dafür, dass die Verständigung wegen Täuschung durch einen Dritten anfechtbar ist (§ 123 Abs. 2 BGB), sind nicht gegeben.

53
2. Selbst wenn die tatsächliche Verständigung – entgegen der vom erkennenden Senat vertretenen Auffassung – unwirksam wäre, hätte die Klage in der Sache keinen Erfolg. Denn die Einkünfte der Klägerin aus selbständiger Arbeit, die das FA der Einkommensteuerfestsetzung für die Streitjahre zugrunde gelegt hat, wären auch dann nicht zu beanstanden, wenn sie nicht Gegenstand einer tatsächlichen Verständigung wären.

54
Die Klägerin ist in den Streitjahren ihren steuerlichen Mitwirkungspflichten nicht nachgekommen. Für das Jahr 2002 hat sie jedenfalls die Aufbewahrungs- und Aufzeichnungspflichten nicht erfüllt, für die Jahre 2003 und 2004 haben die damaligen Eheleute bis heute keine Steuererklärungen abgegeben. Ihre persönlichen Mitwirkungspflichten konnte die Klägerin durch die mit M getroffene Absprache, dieser kümmere sich um die geschäftlichen und steuerlichen Angelegenheiten, weder erfüllen noch abwälzen. Da die Mitwirkungspflichten nicht erfüllt worden sind, hätten die Besteuerungsgrundlagen – sofern hierüber keine Verständigung erfolgt wäre – nach § 162 AO im Schätzungswege ermittelt werden müssen. Wäre die Verständigung unwirksam, müsste das FG nach § 96 Abs. 1 FGO eine eigene Schätzung vornehmen (vgl. Rüsken in Klein, AO, 11. Aufl., § 162 Rz 58b, m. w. N.). Diese hätte zu keinen anderen Ergebnissen als den vom Prüfer für die Streitjahre ermittelten Einkünften geführt. Denn die Ermittlungen des Prüfers sind methodisch nicht zu beanstanden, auch hat er mit dem zumutbaren Ermittlungsaufwand versucht, die tatsächlichen Betriebseinnahmen und Betriebsausgaben möglichst vollständig aufzuklären. Soweit die Klägerin nach dem 3. Februar 2009 weitere Betriebsausgaben geltend macht, schließt sich der Senat der Ansicht des FA an, dass die betroffenen Aufwendungen bereits berücksichtigt worden sind oder nicht glaubhaft gemacht werden.

55
3. Nach alledem war die Klage mit der Kostenfolge aus § 136 Abs. 1 Satz 1 FGO als unbegründet abzuweisen. Bei der Kostenentscheidung hat das Gericht berücksichtigt, dass die Klägerin aufgrund des am 16. August 2012 erteilten Bescheides für das Jahr 2002 teilweise obsiegt hat und dass der Streitwert dadurch ermäßigt worden ist.

56
Anlass, die Revision zuzulassen (§ 115 Abs. 2 FGO), bestand nicht.