Die Frage, ob die deutschen Regelungen zur Vollverzinsung mit dem Unionsrecht vereinbar sind, wurde kürzlich durch das Finanzgericht Baden-Württemberg im Urteil 12 K 1476/23 vom 08.02.2024 behandelt. Das Gericht kam zu dem Ergebnis, dass die Vollverzinsungsregeln der §§ 233a und 238 Abs. 1a Abgabenordnung (AO) sowohl in Bezug auf den Beginn des Zinslaufs als auch die Zinshöhe die Lage an den Zinsmärkten weiterhin realitätsgerecht widerspiegeln. Zudem verstoßen diese Regelungen nicht gegen die unionsrechtlichen Grundsätze der Äquivalenz und Effektivität.
Sachverhalt
Die Klägerin reichte ihre Umsatzsteuererklärung für das Jahr 2019 im März 2020 ein. Nachdem das Finanzamt im August 2022 der Erklärung zugestimmt hatte, wurde ein Umsatzsteuer-Erstattungsanspruch von 2.100,13 Euro festgesetzt. Die Zinsfestsetzung erfolgte zunächst mit 0 Euro, wurde jedoch im Dezember 2022 korrigiert, und es wurden Erstattungszinsen in Höhe von 32 Euro für 300 Zinstage nachträglich festgesetzt. Die Klägerin erhob dagegen Klage und argumentierte, dass ihr nach Unionsrecht eine höhere Zinserstattung zustehe. Das Finanzgericht wies die Klage jedoch ab.
Beginn des Zinslaufs und Zinshöhe
Der Zinslauf für den Besteuerungszeitraum 2019 begann nach § 233a Abs. 2 Satz 1 AO am 01.10.2021. Die Verzögerung um sechs Monate ergab sich aus den Auswirkungen der Corona-Pandemie, die eine Verlängerung der Erklärungsfrist notwendig machte. Die Zinshöhe wurde gemäß § 238 Abs. 1a AO ab dem 01.01.2019 mit 0,15 % pro Monat (1,8 % pro Jahr) festgesetzt, was das Finanzamt korrekt umgesetzt hat.
Kein Verstoß gegen Unionsrecht
Die Klägerin argumentierte, dass das Unionsrecht einen höheren Zinssatz und einen früheren Zinslauf erfordere. Das Finanzgericht stellte jedoch klar, dass die von der Klägerin angeführte EU-Richtlinie 2008/9 EG nur für grenzüberschreitende Sachverhalte gilt, bei denen der Steuerpflichtige im EU-Ausland ansässig ist. Da die Klägerin im Mitgliedstaat der Erstattung ansässig ist, fand die Richtlinie keine Anwendung.
Auch die Berufung auf Art. 183 der Mehrwertsteuersystemrichtlinie (MwStSystRL) wurde vom Gericht zurückgewiesen. Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hatte in früheren Urteilen festgestellt, dass diese Bestimmung keine höheren Zinsen oder einen früheren Zinsbeginn verlangt, als in den nationalen Regelungen vorgesehen.
Vollverzinsung mit dem Unionsrecht vereinbar
Das Finanzgericht betonte, dass die Regelungen der §§ 233a und 238 AO den unionsrechtlichen Grundsätzen der Äquivalenz und Effektivität entsprechen. Der einheitliche Zinssatz für Erstattungen und Nachforderungen sei angemessen und nicht ungünstiger als bei ähnlichen Forderungen, die auf innerstaatlichem Recht beruhen. Zudem machten die Regelungen die Ausübung von Rechten, die die Unionsrechtsordnung einräumt, nicht praktisch unmöglich.
Vollverzinsung im Einklang mit dem Grundgesetz
Auch das Bundesverfassungsgericht hatte in einem früheren Beschluss (08.07.2021, 1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/17) das Prinzip der Vollverzinsung als verfassungsgemäß eingestuft, sofern der Zinssatz angepasst wird. Der im Jahr 2019 angewendete Zinssatz von 1,8 % pro Jahr wurde vom Finanzgericht als verfassungsgemäß und unionsrechtskonform beurteilt.
Fazit
Das Urteil des Finanzgerichts Baden-Württemberg bestätigt, dass die deutschen Regelungen zur Vollverzinsung sowohl mit dem Grundgesetz als auch mit dem Unionsrecht vereinbar sind. Steuerpflichtige können sich daher nicht auf das Unionsrecht berufen, um einen höheren Zinssatz oder einen früheren Beginn des Zinslaufs zu erzwingen.
Quelle: Finanzgericht Baden-Württemberg, Newsletter 1/2024