BFH, Urteil vom 29.04.2025 – VI R 2/23
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Fristversäumnis – Anforderungen an die Sorgfaltspflicht beim E-Mail-Versand eines Einspruchs
Leitsatz
Wird ein Einspruch per E-Mail eingelegt, so ist das Unterlassen der Anforderung einer Empfangs- oder Lesebestätigung ohne Einfluss auf das Verschulden der Fristversäumnis im Rahmen eines Wiedereinsetzungsantrags.
Hintergrund
Die Einlegung von Rechtsbehelfen per E-Mail gehört mittlerweile zum steuerlichen Alltag. Dennoch bestehen immer wieder Unsicherheiten darüber, welche Sorgfaltspflichten ein Steuerpflichtiger oder sein Vertreter bei der elektronischen Übermittlung eines Einspruchs erfüllen muss, um die Einspruchsfrist nach § 355 AO zu wahren.
Im vorliegenden Fall hatte der Steuerpflichtige seinen Einspruch fristgerecht per E-Mail an das Finanzamt übermittelt. Diese E-Mail war im Postausgang dokumentiert, jedoch beim Finanzamt nicht auffindbar. Der Steuerpflichtige beantragte daraufhin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 110 AO) und trug vor, er habe alles Zumutbare getan, um die fristgerechte Übermittlung sicherzustellen.
Das Finanzamt lehnte den Antrag mit der Begründung ab, der Einspruchsführer habe keine Lesebestätigung angefordert und damit seine Sorgfaltspflicht verletzt.
Die Entscheidung des BFH
Der Bundesfinanzhof stellte klar, dass das Unterlassen der Anforderung einer Empfangs- oder Lesebestätigung bei einer E-Mail-Übermittlung kein schuldhaftes Verhalten darstellt.
BFH-Leitsatz:
Wird ein Einspruch per E-Mail eingelegt, so ist das Unterlassen der Anforderung einer Empfangs- oder Lesebestätigung ohne Einfluss auf das Verschulden der Fristversäumnis im Rahmen eines Wiedereinsetzungsantrags.
(BFH, Urteil vom 29.04.2025 – VI R 2/23, LEXinform 0954638)
Der BFH betont, dass der Absender grundsätzlich darauf vertrauen darf, dass eine ordnungsgemäß abgesendete E-Mail den Empfänger erreicht, sofern keine Hinweise auf Übermittlungsprobleme vorliegen.
Eine zusätzliche Kontrolle durch Anforderung einer Empfangsbestätigung oder Lesebestätigung ist nicht erforderlich, um die Sorgfaltspflichten zu erfüllen.
Begründung des Gerichts
Der BFH führt aus:
- Eine E-Mail gilt als versendet, wenn sie den Herrschaftsbereich des Absenders verlassen hat.
- Der Absender darf grundsätzlich darauf vertrauen, dass der elektronische Kommunikationsweg – wie andere Übermittlungsformen (Post, Fax) – ordnungsgemäß funktioniert, solange keine gegenteiligen Anhaltspunkte bestehen.
- Eine Pflicht zur Einholung einer Empfangs- oder Lesebestätigung würde die Anforderungen an den E-Mail-Verkehr übermäßig verschärfen und wäre mit dem Grundsatz der Effektivität des Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) nicht vereinbar.
Damit grenzt sich der BFH klar von überzogenen Anforderungen an die elektronische Kommunikation ab.
Praktische Bedeutung
Das Urteil schafft Rechtssicherheit für Steuerpflichtige und Berater, die Einsprüche oder andere fristgebundene Schriftsätze elektronisch übermitteln.
Wesentliche Konsequenzen:
- Die Anforderung einer Lesebestätigung ist nicht erforderlich.
- Eine Wiedereinsetzung bleibt möglich, wenn der Absender nachweisen kann, dass die E-Mail rechtzeitig abgesendet wurde (z. B. Versandprotokoll, Screenshot, Ausgangsordner).
- Es gilt derselbe Maßstab wie bei Briefpost oder Fax: Der Absender muss eine ordnungsgemäße Absendung, nicht aber den tatsächlichen Empfang beweisen.
Praxishinweis
- Nachweis sichern:
Bewahren Sie Sendeprotokolle oder Versandnachweise sorgfältig auf, um im Zweifelsfall belegen zu können, dass die E-Mail fristgerecht abgesendet wurde. - Automatische Eingangsbestätigungen nutzen:
Zwar nicht rechtlich erforderlich, aber in der Praxis sinnvoll – viele Finanzämter senden automatische Eingangsbestätigungen. Diese können im Streitfall hilfreich sein. - Alternative Übermittlungswege:
Für besonders fristkritische Vorgänge empfiehlt sich zusätzlich die Nutzung des ELSTER-Portals oder die qualifizierte elektronische Signatur (qeS), um Zustellungszweifel zu vermeiden.
Fazit
Mit dem Urteil VI R 2/23 stellt der BFH klar: Die Einlegung eines Einspruchs per E-Mail bleibt ein rechtssicherer Übermittlungsweg, sofern die E-Mail ordnungsgemäß versandt wurde. Eine Lesebestätigung ist nicht erforderlich und ihr Fehlen begründet kein Verschulden bei Fristversäumnis.
Damit stärkt der BFH den digitalen Rechtsverkehr zwischen Bürgern, Steuerberatern und Finanzverwaltung – und setzt ein deutliches Signal für mehr Praxistauglichkeit im Steuerverfahrensrecht.
Quelle: Bundesfinanzhof, Urteil vom 29.04.2025 – VI R 2/23