Mit Beschluss vom 3. Juni 2025 (Az. IX R 39/21) hat der Bundesfinanzhof eine zentrale Frage des internationalen Steuerrechts dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt. Im Fokus steht die sogenannte „Switch-over“-Klausel des § 20 Abs. 2 AStG, die die Freistellungsmethode durch die Anrechnungsmethode ersetzt – selbst wenn ein Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) eigentlich die Freistellung vorsieht.
Der BFH möchte klären lassen, ob diese Regelung gegen die europäische Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) verstößt.
1. Worum geht es bei der Switch-over-Klausel?
Nach § 20 Abs. 2 AStG gilt:
- Einkünfte aus einer ausländischen Betriebsstätte werden
→ nicht freigestellt,
→ sondern lediglich angerechnet, - wenn bestimmte Niedrigsteuer- oder Aktivitätskriterien erfüllt sind.
Damit hebelt das AStG die im DBA vorgesehene Freistellungsmethode einseitig aus. Die Folge kann sein:
➡️ höhere Gesamtsteuerbelastung bei Auslandstätigkeiten
➡️ administrativer Mehraufwand
➡️ potenziell unerwünschte Wettbewerbsnachteile
2. Die Vorlagefrage: Ungleichbehandlung von Betriebsstätten vs. Kapitalgesellschaften
Der BFH sieht einen möglichen Verstoß gegen Art. 49 AEUV, weil:
- ein Steuerpflichtiger mit einer ausländischen Betriebsstätte keine Möglichkeit erhält, nachzuweisen,
dass er im Aufnahmestaat real wirtschaftlich tätig ist. - dagegen hat ein Steuerpflichtiger, der eine ausländische Kapitalgesellschaft gründet,
diese Nachweismöglichkeit sehr wohl.
➜ Die Frage an den EuGH lautet:
Darf ein Mitgliedstaat die Freistellung nach dem DBA verweigern, ohne dem Betriebsstätteninhaber dieselben Nachweismöglichkeiten einzuräumen wie einem Kapitalgesellschaftsinhaber?
3. Warum ist die Frage europarechtlich relevant?
Die zentrale europarechtliche Figur ist die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV):
- Sie schützt Investitionen und dauerhafte wirtschaftliche Tätigkeiten in anderen EU-Staaten.
- Beschränkungen sind nur zulässig, wenn sie
→ verhältnismäßig,
→ nicht diskriminierend,
→ und europarechtskonform ausgestaltet sind.
Der BFH hegt Zweifel, ob die deutsche Switch-over-Regel:
❌ sachgerecht unterscheidet,
❌ verhältnismäßig ist,
❌ und insbesondere nicht zu ungerechtfertigten Binnenmarktbeschränkungen führt.
4. Mögliche Auswirkungen für Steuerpflichtige
Wenn der EuGH die Klausel für unionsrechtswidrig hält:
✔ Steuerpflichtige könnten sich auf das DBA berufen → Freistellung statt Anrechnung
✔ weniger Steuerlast bei ausländischen Betriebsstätten
✔ Mehr Planungssicherheit für grenzüberschreitende Geschäftsmodelle
✔ Mögliche Rückwirkungen auf vergangene Veranlagungen
Wenn der EuGH die Klausel billigt:
❗ Die deutsche Switch-over-Klausel bleibt ein scharfes Anti-Missbrauchsinstrument.
❗ Steuerpflichtige müssen weiterhin mit höheren Steuerlasten rechnen.
❗ Betriebsstättenstrukturen bleiben gegenüber Tochtergesellschaften benachteiligt.
5. Praxisrelevanz für international tätige Unternehmen
Betroffen sind insbesondere:
- mittelständische Unternehmen mit EU-Betriebsstätten,
- Freiberufler mit ausländischen Niederlassungen,
- Konzerne mit breit verzweigten Strukturen,
- Familienunternehmen mit operativer Präsenz im EU-Ausland.
Bis zur Entscheidung des EuGH empfiehlt sich:
✔ Prüfung aktueller Veranlagungen auf offene Fälle
✔ Einspruch mit Verweis auf das EuGH-Verfahren
✔ Steuerplanung bei Auslandstätigkeiten überdenken
✔ eventuelle Strukturalternativen (Betriebsstätte vs. Tochtergesellschaft) abwägen
6. Fazit
Der BFH eröffnet eine zentrale europarechtliche Diskussion:
Darf Deutschland die DBA-Freistellung für Betriebsstätten so stark einschränken, ohne eine Nachweismöglichkeit realer wirtschaftlicher Tätigkeit vorzusehen?
Die Entscheidung des EuGH könnte grundlegende Folgen für Unternehmensstrukturen im EU-Binnenmarkt haben – und möglicherweise die Switch-over-Klausel des AStG in ihrer jetzigen Form kippen.